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„Mehr Strategie, weniger Beliebigkeit“

„Mehr Strategie, weniger Beliebigkeit“
Was wurde aus den Millionen, die aus dem Lotteriefonds in die Kultur flossen? Dieser Frage geht unsere grosse Datenanalyse nach. Das Foto zeigt Schweizer Banknoten im UV-Licht. | © Canva

Die ig kultur ost wünscht sich neue Ansätze in der Thurgauer Kulturförderung. Was sagt das kantonale Kulturamt dazu? Ein digitaler Dialog. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Eines möchte Mirjam Wanner, engagierte Kulturschaffende im Thurgau und aktives Mitglied der Thurgauer Sektion der ig kultur ost, gleich zu Beginn klarstellen: „Uns geht es nicht darum über die Verteilung der Gelder an die einzelnen Sparten zu sprechen. Wir wollen keine Neid-Debatte, sondern das öffentliche Gespräch über Kultur im Kanton in Gang bringen“, sagt sie an einem eher trüben Mittwoch im April bei einem Zoom-Interview mit thurgaukultur.ch. Anlass für das Gespräch: die Datenanalyse zu den Geldströmen aus dem Lotteriefonds des Kantons Thurgau, die wir von thurgaukultur.ch in den vergangenen Monaten erarbeitet haben.

Welche Schlüsse zieht Wanner aus den vorliegenden Ergebnissen? Sie sagt: „Der Querschnitt der Förderungen zeigt eine gewisse Beliebigkeit, ich erkenne zu wenig strategische Schwerpunktsetzung. Es fehlen mir auch neue und progressive Ansätze in der Kulturförderung. So gibt es zum Beispiel keine Förderprojekte, die sich mit der kulturellen Teilhabe, Nachhaltigkeit oder einem künstlerischen Austausch auch über die Kantonsgrenze hinweg beschäftigen.“  

 

„Der Querschnitt der Förderungen zeigt eine gewisse Beliebigkeit, ich erkenne zu wenig strategische Schwerpunktsetzung. Es fehlen mir auch neue und progressive Ansätze in der Kulturförderung.“

Mirjam Wanner, ig kultur ost (Bild: Jörg Rudolph)

Warum das so ist, das schildert Philipp Kuhn, Leiter des kantonalen Kulturamt, auf Nachfrage von thurgaukultur.ch per E-Mail. Darin schreibt er unter anderem: „Die eingehenden Gesuche werden alle nach den gleichen festgelegten und öffentlich zugänglichen Kriterien behandelt und beurteilt. Es werden keine Prioritäten bei der Vergabe gesetzt. Im Kulturkonzept kann der Kanton jedoch Schwerpunkte festlegen und eigene Projekte/Initiativen mit Lotteriefondsmitteln lancieren.“ 

 

Die Kultur-Förderlandkarte Thurgau Lotteriefonds 2013-2023. Ein Ergebnis unserer Datenrecherche mit Correl Aid.

 

Die Kulturförderlandkarte des Thurgau 

Die von uns im Rahmen der Datenrecherche erstellte Kulturförderlandkarte zeigt, dass die Mittel aus den Projektbeiträgen des Lotteriefonds vergleichsweise gut verteilt werden über den Kanton. Wir haben das Kulturamt Thurgau gefragt: Ist das Zufall oder eine bewusste Entscheidung bei der Beurteilung von Gesuchen?

„Auch diesbezüglich gibt es keine Schwerpunktsetzung bei der Beurteilung der Gesuche. Es ist insofern aber wenig überraschend, da es im Kanton Thurgau nicht solche Stadt-Land-Gräben gibt betreffend Kulturangebot wie in anderen Kantonen und weil im Kanton Thurgau mit dem System der regionalen Kulturpools zusätzlich zum kantonalen Lotteriefonds praktisch der ganze Kanton abgedeckt ist mit einem regionalen Fördernetz“, schreibt Philipp Kuhn, Leiter des kantonalen Kulturamts.

Grundsätzlich habe der Lotteriefonds für die Thurgauer Kultur eine grosse Bedeutung, „da alle Kulturprojekte und Leistungsvereinbarungen mit privaten Kulturinstitutionen mit Mitteln aus dem Lotteriefonds gefördert werden. Der Lotteriefonds sorgt massgeblich dafür, dass im Kanton Thurgau ein solch breites und reichhaltiges Kulturangebot besteht.“ 

 

„Die eingehenden Gesuche werden alle nach den gleichen festgelegten und öffentlich zugänglichen Kriterien behandelt und beurteilt.“

Phillip Kuhn, Leiter Kulturamt Thurgau (Bild: Stefan Kubli)

Aus dem Mailprogramm zurück in den Videocall mit der ig kultur ost. Im Zoom-Fenster neben Mirjam Wanner blickt Julian Fitze in die Kamera. Auch er ist vielfältig im Thurgauer Kulturleben aktiv und auch er engagiert sich für die ig kultur ost. 

Seine ersten Gedanken als er die Analyse des Lotteriefonds gelesen hat, klingen so: „Ich bin zwiegespalten, wenn ich die Analyse lese. Einerseits profitiert die Kulturszene in der aktuellen Haushaltslage des Kantons davon, dass so viel über den Lotteriefonds finanziert wird und jetzt eben nicht einfach so gekürzt werden kann. Andererseits kann das zum Problem werden, wenn die Gelder von der Swisslos mal nicht mehr so sprudeln. Es gibt auch keinen Plan B für diesen Fall. Mit der Finanzierung über Lotteriefonds entledigt sich der Kanton eigentlich einer seiner Aufgaben - die Pflege der Kulturlandschaft.“ 

Und für ihn auch wichtig, hinter dieser Form der Finanzierung liege auch mehr: „Für mich ist es auch eine Frage der Wertschätzung: Diese Nebenbei-Finanzierung über den Lotteriefonds ist in gewisser Weise auch bezeichnend für den derzeitigen Stellenwert von Kultur im Kanton.“ 

 

 

„Für mich ist es auch eine Frage der Wertschätzung: Diese Nebenbei-Finanzierung über den Lotteriefonds ist in gewisser Weise auch bezeichnend für den derzeitigen Stellenwert von Kultur im Kanton.“

Julian Fitze, ig kultur ost (Bild: Beni Blaser)

Ein Ergebnis unserer Datenanalyse war, dass in der Zeit von 2013 bis 2023 die geringsten Fördersummen an die Sparten Tanz, Musiktheater, Literatur und Naturwissenschaft geflossen sind.

Auf die Frage, warum das so ist, verweist Kulturamtsleiter Philipp Kuhn auf die unterschiedlichen Förderaufgaben von Kulturamt und Kulturstiftung: „Das Kulturamt des Kantons Thurgau fördert ja ergänzend zur Kulturstiftung des Kantons Thurgau, die personenbezogene Förderung für professionelle Kulturschaffende betreibt. Beispielsweise im Bereich Literatur vergibt die Kulturstiftung Werkbeiträge, nicht das Kulturamt. Das Kulturamt fördert in dieser Sparte nur Veranstaltende oder vergibt Druckkostenbeiträge. Für einen guten Überblick über die Sparten müsste die Förderung der Kulturstiftung und des Kulturamts berücksichtigt werden.“

Dazu komme, so Kuhn weiter, dass in manchen Sparten mehr Gesuche eingehen als in anderen. Dies könne beispielsweise auch erklären, weshalb vergleichsweise viele Gelder in den Bereich „Theater, Kabarett, Kleinkunst“ gingen. Insgesamt ist der Thurgauer Kulturamtsleiter überzeugt, das niemand im Kanton übersehen werde: „Zusammen mit der Kulturstiftung ist das Förderangebot im Kanton Thurgau sehr breit und benachteiligt keine Sparten.“ 

„Zusammen mit der Kulturstiftung ist das Förderangebot im Kanton Thurgau sehr breit und benachteiligt keine Sparten.“

Philipp Kuhn, Leiter Kulturamt Thurgau

Trotzdem wird längst nicht alles im Lotteriefonds zur Verfügung stehende Geld genutzt, um die Kultur im Thurgau stärker zu fördern. Aktuell liegen beispielsweise 55 Millionen Franken im kantonalen Lotteriefonds bereit. Wie könnte man diese Mittel besser nutzen? Dazu schreibt Philipp Kuhn: „Im Rahmen der Erarbeitung des Kulturkonzepts 2027—2030 wird sich das Kulturamt unter anderem auch mit dieser Frage beschäftigen.“


Mirjam Wanner und Julian Fitze von der ig kultur ost haben schon jetzt ein paar Ideen für Veränderungen: „Ich würde mir wünschen, dass die Kulturszene auch stärker in die Kulturförderprozesse eingebunden wäre. Das könnte die ganzen Abläufe besser machen und Impulse für neue Projekte geben und schlussendlich auch zu einer gezielteren Nutzung der Gelder beitragen. Es ist auch ein Anliegen der igKultur Ost, dass im Thurgau künftig regelmässige Gespräche zwischen Kulturförderinstitutionen und Kulturschaffenden stattfinden“, sagt Mirjam Wanner. Das sieht auch Julian Fitze so: „Ich vermisse in der Kulturförderung, insbesondere dem Lotteriefonds, kreative Ansätze, wie man die vorhandenen Mittel für die und mit der Kulturszene einsetzen könnte.“ 

„Ich würde mir wünschen, dass die Kulturszene auch stärker in die Kulturförderprozesse eingebunden wäre.“

Mirjam Wanner, ig kultur ost

Er wünscht sich zudem mehr Unterstützung für Kulturschaffende bei der Gesuchstellung: „Im Moment ist es so, dass die die wissen, wie man solche Anträge schreibt, profitieren, diejenigen, die darin aber nicht so erfahren sind in der Antragstellung, fallen aus dem Raster. Oder trauen sich erst gar nicht Gesuche zu stellen, weil es zu kompliziert und aufwändig ist.“ 

Dies sei schon jetzt möglich, entgegnet Philipp Kuhn: „Wir fördern professionell und kriterienbasiert. Diese sind für alle Interessierten zugänglich. Darüber hinaus beraten wir auch auf Anfrage. Mein Tipp für alle Kulturschaffenden ist also: Website besuchen, Förderrichtlinien anschauen, bei allfälligen weiteren Fragen anrufen.“ 

 

„Mein Tipp für alle Kulturschaffenden ist also: Website besuchen, Förderrichtlinien anschauen, bei allfälligen weiteren Fragen anrufen.“

Philipp Kuhn, Leiter Kulturamt Thurgau

Ein wichtiges Anliegen habe die Datenanalyse zum Lotteriefonds aber jetzt schon erreicht, findet Mirjam Wanner von der ig kultur ost - man könne nun auf objektiver Zahlenbasis diskutieren. Das sei auf jeden Fall ein Fortschritt. „Über Kulturförderung redet niemand gerne im Thurgau, weil alle Angst haben, dass Gelder wegbrechen, wenn man zu offen darüber spricht. Ich finde, wir müssen raus aus dieser defensiven Haltung und vielmehr selbstbewusst, transparent und offen über die Leistungen von Kultur für die Gesellschaft sprechen. Wir müssen uns nicht verstecken.“

„Ich finde, wir müssen raus aus dieser defensiven Haltung und vielmehr selbstbewusst, transparent und offen über die Leistungen von Kultur für die Gesellschaft sprechen. Wir müssen uns nicht verstecken.“

Mirjam Wanner, ig kultur ost

Der Millionencheck: Unsere aktuelle Serie

1. Der Lotteriefonds im Millionen-Check: Eine Gesamtübersicht und Einführung
.
2. Blick in einzelne Sparten: Was kann man daraus lernen?
3. Wer profitiert von den Leistungsvereinbarungen besonders?

4. Und jetzt? Wir bündeln die Reaktionen auf unsere Datenanalyse

5. Konstruktiver Blick nach vorne: Wie könnte man die Millionen noch besser einsetzen?
 
Alle Beiträge der Serie werden wir in unserem Themendossier zum Lotteriefonds bündeln. Du findest es hier.

Transparenz-Hinweis: Kulturamtsleiter Philipp Kuhn ist qua Amt auch im Verwaltungsrat der Thurgau Kultur AG. Er vertritt dort den Kanton Thurgau, als einen von zwei Aktionär:innen der gemeinnützigen AG. Weitere  Details zur Struktur und Finanzierung von thurgaukultur.ch gibt es hier und hier.

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