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von Simone Keller, 26.04.2024

Alles, überall, sofort und auf einmal

Alles, überall, sofort und auf einmal
Probenfoto «ohne x und ohne u» mit Lara Stanić, Andreas Müller-Crepon, Simone Keller |

Mein Leben als Künstler:in (20): In ihrer letzten Kolumne schreibt die Pianistin Simone Keller über das Glück maximaler künstlerische Freiheit und den Fluch der Mehrfachaufgabenperformanz. Klingt kompliziert, beschreibt aber den Alltag vieler Künstler:innen ziemlich genau. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

In den letzten fünf Monaten ist jeden Freitag eine neue Kolumne in der Reihe „Mein Leben als Künstler:in“ erschienen. Ich habe die neuen Beiträge immer sofort mit grösstem Interesse verschlungen und werde wohl Simon Engeli als stummes Heinzelmännchen Nr.14 nicht mehr vergessen oder die Blockflöte spielende Sarah Hugentobler in ihrem wahrscheinlich illegalen Video oder Rahel Buschors starken Text über Hoffnung.

Einmal pro Monat habe ich selbst einen Text dazu beigetragen und jeweils viel zu lange überlegt, worüber ich schreiben könnte und wie ich es formulieren sollte. Auch jetzt, wenn ich meine letzte Kolumne in dieser Reihe verfasse, habe ich einen langen Prozess des Zögerns und Verwerfens hinter mir. Viel zu viele verschiedene Themen sind mir wichtig, beschäftigen und besetzen mich und die Auswahl fällt schwer, da unter verschiedenen Gesichtspunkten ganz unterschiedliche Kriterien relevant sind. 

Die Spitze des Eisberges

Wenn ich 2-3 Mal pro Jahr einen Newsletter versende, beschreibe ich darin meine aktuellen Projekte und füge eine Terminliste mit allen Konzerten, Vorstellungen und Veranstaltungen hinzu, die gerade anstehen. Das sieht dann jeweils relativ linear und geordnet aus, in Wirklichkeit überlagert sich aber alles und die einzelnen Veranstaltungs-Termine sind eher so etwas wie die Spitze des Eisberges: die unterschiedlichen Arbeitsphasen für die verschiedenen Projekte finden parallel statt, ergänzen oder behindern sich, überlagern sich und überfordern mich auch gelegentlich. 

Das Konzipieren und Organisieren muss zwischen Üben und Proben stattfinden, das Fundraising muss gestartet werden, wenn bereits Mietverträge für die Aufführungen unterschrieben werden sollen. Die Premierenfotos sollten eigentlich schon vorliegen, wenn die Dossiers für die Stiftungen verfasst werden, der Programmzettel muss gedruckt werden, wenn das neue Stück noch gar nicht fertig komponiert ist. Ich bin also immer ein Schritt hinterher, egal wie früh ich die Planung für ein Projekt beginne. Oder anders gesagt: ich muss versuchen, auf mehreren Autobahnen gleichzeitig zu fahren und mir eine flexible Struktur suchen, die das konstante Multi-Tasking ermöglicht.

 

Probenfoto Musiktheater «ohne x und ohne u» mit Lara Stanić

Interdisziplinäres Arbeiten

Am stärksten erlebe ich diese «Mehrfachaufgabenperformanz» wie es auf Deutsch heisst in interdisziplinären Projekten, die ich mit meinem Kollektiv ox&öl selber organisiere, in denen Menschen aus verschiedenen künstlerischen Richtungen zusammenarbeiten. Anfang Mai wollen wir ein neues Musiktheaterstück zeigen mit Texten von Adelheid Duvanel und Musik der Komponistin Lara Stanić. Ich werde selber auf der Bühne stehen, bin aber auch für die inhaltliche Konzipierung, Organisation und Finanzierung verantwortlich, Kommunikation, Vermittlung, Werbung, Verträge, Lohnzahlungen, Soziale Vorsorge, Dokumentation, Gastspiele und vieles mehr. 

Sobald ich mich zu sehr um einen Bereich kümmere, vernachlässige ich eines der anderen Aufgabengebiete und habe immer das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Dadurch dass wir in unserem Kollektiv äusserst schlanke Strukturen haben, können wir auch mit kleinem Budget sehr viel umsetzen und haben zudem die ständige Kontrolle, dass das Projekt so verläuft, wie wir es richtig und wichtig finden. Die maximale Arbeitsbelastung bringt also auch eine maximale künstlerische Freiheit mit sich, was für mich persönlich einen ganz hohen Stellenwert hat.

 

Adelheid Duvanel im Café Atlantis in Basel, ca. 1960, Limmat-Verlag

Aus eigenem Antrieb

Als ich vor drei Jahren zum ersten Mal Texten der 1936 in Basel geborenen Autorin Adelheid Duvanel begegnete, war mir sofort klar, dass ich es mit einer aussergewöhnlichen Schriftstellerin zu tun hatte, deren Werk unbedingt eine grössere Verbreitung finden sollte. Ich legte meinem Co-Leiter und Regisseur von ox&öl einige ihrer Kurzgeschichten vor, in denen sie beispielsweise über das «Recht, lebensuntüchtig zu sein» schreibt, über diejenigen, die ausserhalb der Gesellschaft stehen, die Einsamen, Elenden und Verlorenen. 

Adelheid Duvanels Literatur entwickelt auf allerkleinstem Raum eine immense sprachliche Wucht. Die Verkleinerung, das Diminutiv, und der Euphemismus sind die Grundformen ihres Schreibens. Ein ausgegrenztes Mädchen wird «Häslein» genannt, das heimliche Trinken als «Operatiönchen» be­zeichnet. 

In einer Geschichte, in der sich der Vater der neunjährigen Therese erschiesst und ihre Mutter in die Psychiatrie eingeliefert wird, wünscht sich das Mädchen ein «Zwerglein» als Spiel­kameraden und möchte schliesslich selbst so «klein und leicht wie ein Tröpfchen Tinte» werden, als ob sie durch die Selbst-Verkleinerung in die Schrift und in die Literatur hineinschlüpfen möchte. 

Das gesamte literarische Schaffen Duvanels ist dem «Kleinsein» gewidmet und zeigt die gesellschaft­lich Marginalisierten: die Versehrten und Übersehenen, Misshandelten und Verstossenen, die Eigen­brötler und Aussenseiterinnen.

 

Lara Stanić, Andreas Müller-Crepon, Simone Keller

 

Philip Bartels und ich waren uns sofort einig, dass wir unbedingt eine Musiktheaterproduktion mit Duvanels Texten kreieren wollten. Wir wussten zwar noch nicht wo und wie, aber wir konnten uns diese Entscheidungsfreiheit nehmen, um dann mit voller Energie und Enthusiasmus ein Stück zu entwickeln. Wir müssen keine Rücksicht nehmen auf Massentauglichkeit, auf Marktrelevanz oder Modetrends, wir können uns ganz bewusst dem Marginalisierten zuwenden.

Es kommt natürlich auch immer wieder vor, dass eine Idee von aussen an mich herangetragen wird, auf die ich möglicherweise auch gerne einsteige und ebenfalls, einen erfüllenden Arbeitsprozess erleben kann, aber ich würde nie darauf verzichten wollen, mir meine eigenen Projekte vornehmen zu dürfen und aus meinem eigenen Antrieb eine Sache zu verfolgen. 

 

Probenfoto Andreas Müller-Crepon, Lara Stanić, Simone Keller

Neue Welten

Als «Labyrinthe der Ausweglosigkeit» wurden die Geschichten von Adelheid Duvanel in der Literatur­kritik bezeichnet, als «gestochen scharfe Momentaufnahmen fremdartiger Innenwelten» oder als «Lebenssplitter ausgesetzter Existenzen, die sich in ihrer Eigenart unverstanden fühlen und in surreale Fantasiewelten flüchten».  

Ein erfolgloser Dichter fragt in einem Text von Duvanel «ob nicht Worte über der grossen Leere, über dem Abgrund, in den mein Leben gefallen ist, eine neue Welt schaffen können». Diese neuen Welten und das Hinterfragen unserer alltäglichen, ober­flächlichen Wahrnehmung, sind durchaus auch Teil von Duvanels Kosmos, denen ich nachgehen möchte und die mir in einer komplexen Wirklichkeit Hoffnung geben.

Auch wenn mich die verschiedenen Verantwortlichkeiten gelegentlich an meine Grenzen bringen, möchte ich genau so arbeiten, mich mit allem, was mir zur Verfügung steht für eine Sache einsetzen und dabei aber immer die Freiheit spüren, einen selbstbestimmten Weg gehen zu können. Ich möchte nicht den Weg des geringsten Widerstandes wählen, sondern mir meine maximale Freiheit immer wieder aufs Neue erkämpfen.

 

Verena ist vor drei Jahren von den Rädern eines Lieferwagens überrollt worden; sie hatte das Auto gesehen und war trotzdem auf die Straße getreten. Ihre Beine waren zerquetscht. Sie lag lange Zeit im Spital, wurde einige Male operiert, war im Rollstuhl und ging dann an Krücken. Einmal fragte jemand: «Wolltest du deinem Leben ein Ende setzen?» Sie antwortete: «Es war keine Depression, es war eine Euphorie.»

Adelheid Duvanel: aus «Verena» (1991)

 

ox&öl: Regisseur Philip Bartels und Musikerin Simone Keller

 

Weitere Informationen zur Produktion und Vorstellungsdaten: http://www.oxoel.ch/ohneXohneU.pdf 

Das war's! Die zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» endet mit diesem Beitrag!

Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist im Dezember 2023 gestartet. Diese vier Künstler:innen haben in der Serie Geschichten aus ihrem Leben geschrieben:

 

  • Simone Keller, Pianistin
  • Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
  • Rahel Buschor, Tänzerin
  • Sarah Hugentobler, Videokünstlerin

Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.

 

Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

 

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

 

Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier

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