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von Simone Keller, 01.03.2024

Der lange Weg bis zur Bühne

Der lange Weg bis zur Bühne
Aufnahmen im Stadthaus Winterthur. Fotos: Lothar Opilik | © Lothar Opilik

Mein Leben als Künstler:in (12): Wie ein kleines Unternehmen: Die Pianistin Simone Keller über Kultur als nervenaufreibendes Projektmanagement. (Lesedauer: ca. 11 Minuten)

Diese Kolumnen-Reihe möchte «einen realistischen Einblick in den Alltag von Kulturschaffenden» geben und zeigen, «wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt». Ich stelle deshalb mein aktuelles Buch-/Konzert-/CD-Projekt «Hidden Heartache» vor und den Arbeitsweg dahinter.

Im November 2021 erhielt ich eine kurze E-Mail mit der überraschenden Nachricht, dass ich vom Stiftungsrat der Thurgauer Kulturstiftung nominiert wurde, im Rahmen ihrer Buchreihe «Facetten» die nächste Ausgabe zu gestalten. 

Ich konnte mir zunächst gar nicht vorstellen, in welcher Form ich ein Buch herausgeben könnte, das mehr als einfach eine persönliche Dokumentation meiner Arbeit sein würde und für eine etwas grössere Leserschaft interessant sein könnte. Ich wollte deshalb das sehr grosszügige Angebot dankend ablehnen, aber nahm mir vor, wenigstens ein paar Wochen intensiv darüber nachzudenken.

Die Idee: 100 Minuten Klaviermusik der letzten 100 Jahre

In der Phase des Suchens, Zweifelns und Verwerfens wurde mir klar, dass ich so ein Buch nur zusammenstellen kann, wenn es im Kern um Musik geht, die mir viel bedeutet, Musik, die ich wichtig finde, Musik, die hör- und sichtbar gemacht werden muss, weil es sonst vielleicht niemand tun würde. 

Ich entwarf deshalb zuerst einmal eine Art «Tonspur» mit 100 Minuten Klaviermusik der letzten 100 Jahre, die aus strukturellen Gründen zu wenig Beachtung bekommt und überlegte mir, wie diese Musik mit einem Buch, das viel mehr sein soll als ein kleines CD-Booklet, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. 

„Solistin sein heisst für mich also nicht nur, sich alleine ins Rampenlicht zu stellen und die volle Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern vor allem auch Stellung zu beziehen, sich mit streitbaren Positionen einer Öffentlichkeit auszusetzen, Mut und Haltung zu beweisen.“

Simone Keller, Pianistin

Mein Arbeitstitel war damals noch «Mixed Accents» – benannt nach dem gleichnamigen Stück der amerikanischen Komponistin Ruth Crawford Seeger. Ihre Tochter Peggy Seeger hat über sie gesagt: «She died before she - or anybody - realized how good she was». 

Ähnliches könnte man wahrscheinlich über die Ostschweizer Komponistin Olga Diener sagen, deren Klavierwerke zu ihren Lebzeiten gar niemand gespielt hat und auch bis heute lassen sich die Aufführungen ihrer über 70 Kompositionen an einer Hand abzählen.

Der Anlass: 100. Geburtstag der Komponistin Julia Amanda Perry

Julia Amanda Perry, ca. 1950, anonym

 

Die «Tonspur» mit den 100 Minuten füllte sich in Gedanken rasch und waren wohl eher über 1000 Minuten, die immer noch stellvertretend waren für abertausende ungehörte Minuten Musik. Ich musste eine sehr persönliche Auswahl treffen. 

In einem umständlichen Verfahren musste ich die Erlaubnis der Erben anfragen, die Noten von Olga Diener im Schweizer Literaturarchiv entziffern zu dürfen. Daneben begann ich ein sehr schwieriges Solo-Stück von Julius Eastman zu üben, nahm mit dem jungen Schweizer Komponisten Jessie Cox Kontakt auf und fantasierte mit ihm über ein mögliches neues Stück und dachte mit der Thurgauer Musikerin Cristina Janett darüber nach, inwiefern sich ihre Erfahrungen mit Volksmusik auf mich als klassische Pianistin adaptieren lassen. 

Für den «Hidden Track» (engl. für «versteckter Titel»), ein Stück, das auf einem Tonträger so platziert ist, dass es nicht sofort entdeckt wird, weil es sich ganz am Ende befindet und unerwartet aus der Stille erklingt, wollte ich «Good Morning Heartache» von Irene Higginbotham aufnehmen. 

Und schliesslich kam mir quasi die Kern-Idee: der 100. Geburtstag der Komponistin Julia Amanda Perry, die sich als Schwarze Frau mit einer körperlichen Beeinträchtigung nach mehreren Hirnschlägen in einer «triple marginalized position» befand und deren Werke ich seit langer Zeit bewunderte. Am 25. März 2024 sollte die klassische Musikwelt, die sich so sehr darauf versteht, Jubiläen und Gedenktage zu feiern, dieser aussergewöhnlichen Frau ihre Würdigung erweisen und wenn nicht (was leider zu befürchten ist), sollte mindestens meine CD mit einem überdimensionierten Booklet erscheinen, einem «book instead of a booklet»: das Projekt «Hidden Heartache» ihr zu Ehren.

Ein Grossprojekt mit 11 Komponist:innen und 11 Autor:innen

Ende Februar 2022 erhielt ich schliesslich die definitive Zusage der Kulturstiftung, dass ich das Projekt so planen und durchführen dürfe in Zusammenarbeit mit dem St. Galler Verlag Jungle Books und dem Zürcher CD-Label Intakt Records, mit 11 Autor:innen, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf Ungleichheits- und Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft blicken und mit 11 Komponist:innen und ihren Werken, von denen viele zum ersten Mal aufgenommen oder überhaupt gespielt werden. 

Die Freude über so eine Zusage und dem damit verbundenen Vertrauen währt aber immer nur kurz, da es ja vor allem auch bedeutet, rasch die Ärmel hochzukrempeln und die nächsten Arbeitsschritte anzugehen, die bei so einem vielfältig verzweigten Projekt mit vielen involvierten Menschen und ihren jeweiligen ganz unterschiedlichen Bedürfnissen ziemlich komplex und sehr zeitintensiv sind, natürlich sehr schön, aber auch sehr herausfordernd. 

Am Anfang stehen Konzeptionsgespräche

Ein wichtiger Schritt waren die ersten Konzeptionsgespräche mit dem Buch- und dem CD-Verlag, das Vorstellen des Projektes und der Versuch, alle Beteiligten für die Musik zu begeistern, die man (noch) nicht hören konnte und die Texte, die man (noch) nicht lesen konnte. 

Gleichzeitig war ich auf der Suche nach einem Saal, den ich für die Aufnahmen mieten konnte und fragte die Tonmeisterin Michaela Wiesbeck an, mit der ich bereits zusammengearbeitet hatte und die zwar beim Bayerischen Rundfunk angestellt ist und dort hauptsächlich mit den ganz grossen Orchestern arbeitet, aber genauso offen ist für das Unbekannte und Ungehörte. 

Die Suche nach einem geeigneten Ort: Aufnahmen im altehrwürdigen Saal

Seit vielen Jahren spiele ich regelmässig als Zuzügerin und Solistin mit dem Orchester des Musikkollegiums Winterthur – einer der ältesten Musikinstitutionen Europas, die im ehrwürdigen Saal des Stadthauses in Winterthur konzertiert, das 1865 bis 1869 von Gottfried Semper erbaut wurde. 

Eine Komponistin wie Olga Diener fand zu diesem Saal, der im frühen 20. Jahrhundert durch den Mäzen Werner Reinhart und den Dirigenten Hermann Scherchen zu einem Zentrum des europäischen Musiklebens wurde, keinen Zutritt, obschon sie Werner Reinhart durchaus bekannt war. Die männlichen Kollegen Igor Strawinsky, Richard Strauss oder Anton Webern waren gern gesehene Gäste, während die Namen von Julia Amanda Perry oder Ruth Crawford Seeger auf keinem Programmzettel zu finden waren und dem Publikum nach wie vor nicht in den klassischen Konzerthäusern begegnen. 

Es war daher eine besondere Freude, dass ich diesen geschichtsträchtigen Saal für drei Tage mieten durfte, um in ihm Musik aufzunehmen, die noch nie zuvor an diesem Ort erklungen ist. 

 

Aufnahmen im Stadthaus Winterthur. Bild: Lothar Opilik

 

Tonmeisterin Michaela Wiesbeck bei der Arbeit. Bild: Lothar Opilik

Ein Ziel des Projektes: Die Musikgeschichte neu beleuchten

Die Aufnahme der 100 Minuten Klaviermusik der letzten 100 Jahre war bewusst als Soloklavier-Aufnahme geplant, auch wenn für mich persönlich das solistische Spiel in den vergangenen Jahren immer zweitrangig war, da ich mich jeweils durch den Austausch und die Inspiration des gemeinsamen Musizierens viel lebendiger fühlte. Erst durch die pandemiebedingte Vereinzelung war ich auf mich selbst zurück­geworfen. 

Daraus entstand ein Bewusstsein für die Bedeutung der eigenen Positionierung als Solistin – wobei die Stärkung dieser Rolle wiederum eine neue, differenziertere Gegenüber­stellung in Duos oder grösseren Ensembles ermöglicht. Solistin sein heisst für mich also nicht nur, sich alleine ins Rampenlicht zu stellen und die volle Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern vor allem auch Stellung zu beziehen, sich mit streitbaren Positionen einer Öffentlichkeit auszusetzen, Mut und Haltung zu beweisen.

Raus aus der eigenen Eindimensionalität

Meine musikalische «Heimat» ist die klassische Klaviermusik, ich bin damit aufgewachsen, habe sie immer als meine Ausdrucksform betrachtet und sie studiert und zu meinem Beruf gemacht. Aber es war für mich auch immer schon wichtig, die klassische Musik in verschiedene Richtungen aufzubrechen und neu zu beleuchten.

In meiner langjährigen Arbeit mit verschiedenen Communitys, in Asylzentren, Gefängnissen oder Schulhäusern wurde ich immer wieder mit ganz unterschiedlicher Musik konfrontiert, mit verschiedensten Stilen, Sparten, Genres und Klängen aus anderen Kulturen. Es lag mir darum am Herzen, dass die Zusammenstellung der musikalischen Werke in «Hidden Heartache» aufgrund meiner Verwurzelung in der klassischen westlichen Musik nicht zu eindimensional wird. Deshalb habe ich den Oud-Spieler und Kom­ponisten Abathar Kmash, mit dem ich in den letzten Jahren oft zusammengearbeitet habe, ange­fragt, zwei Interventionen aufzunehmen. 

Die nächsten Arbeitsschritte waren deshalb, einen Aufnahmeraum zu finden, der für sein Instrument die Oud, die arabische Laute, akustisch geeignet ist. Wir fanden schliesslich durch einen Hinweis der Tonmeisterin eine abgelegene Kirche am Ammersee, die uns klanglich sofort alle begeisterte und wir nach ersten Probeaufnahmen beschlossen, sie für unser Vorhaben zu mieten, auch wenn uns die angrenzende Schützenstube etwas einschüchterte:

 

Tonmeisterin Michaela Wiesbeck mit Abathar Kmash und Simone Keller in der Schützenstube. Bild: Philip Bartels

Ein wiederkehrendes Muster: Frauen im Schatten ihrer weltberühmten Männer

Neben den arabischen Interventionen wollte ich weitere musikalische Wagnisse eingehen und habe die Solo-Fagottistin des Winterthurer Musikkollegiums Valeria Curti gefragt, ob sie bereit wäre, jenseits ihrer klassischen Kompetenzen auch vier Stücke der Jazz-Komponistin Lil Hardin Armstrong (1898–1971) mit mir aufzunehmen. Dies geschah im vollen Bewusstsein, dass unsere Hommage an die grosse Jazz­komponistin, die bis heute im Schatten ihres weltberühmten Mannes steht, weder der histo­rischen Aufführungspraxis entspricht, noch einem zeitgenössischen Verständnis von Jazz­inter­pretation gerecht wird. 

Daneben ist als weiterer Gast der mit allen Jazz-Wassern gewaschene Posaunist Michael Flury zu hören, der aber von mir auf eine Art und Weise begleitet wird, die eher an ein klassisches Gondellied erinnert und so eine ganz eigene stilistische Mischung erzeugt, die über simples «Cross Over» zwischen Klassik und Jazz hinausgehen möchte. 

Hier ein kurzer Hörausschnitt aus einem von über 20 möglichen «Hidden Tracks», die wir in einer langen Nacht aufgenommen haben:

Die grosse Frage: Wessen Stimmen werden gehört?

Parallel zur Auswahl der Musik, der Recherchearbeit in Archiven und vor allem auch dem Üben der teilweise sehr schwierigen Stücke, nahm immer mehr die Arbeit an den Texten für das Buch einen grossen Platz ein. 

Gewisse Autorinnen wie die amerikanische Musikwissenschaftlerin Ellie M. Hisama, die sich als eine der ganz wenigen gleichzeitig mit der Musik von Julia Amanda Perry, Ruth Crawford Seeger und Julius Eastman auseinandergesetzt hatte, standen natürlich ganz oben auf meiner Wunschliste, um sie für «Hidden Heartache» zu gewinnen und dass Jessie Cox, der mir eine längere Komposition für die Aufnahme geschrieben hatte, sich sehr gerne analytisch mit erweiterten Hörerfahrungen beschäftigt und darüber auch in Textform ausführlich schreiben mag, wusste ich bereits. 

Aber mir war es sehr wichtig, nicht zu rasch in meinem Bekanntenkreis die Textaufträge zu vergeben, sondern wirklich gut darüber nachzudenken, an welche Personen ich sozusagen die «Carte Blanche», die mir die Thurgauer Kulturstiftung so grosszügig in die Hand gegeben hatte, weitergeben kann, um meinen eigenen Horizont zu erweitern und aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven auf die Machtverhältnisse unserer Gesellschaft zu blicken. 

Der Beitrag der Musikwissenschaft

Dass eine Komponistin wie Olga Diener in der Musikwelt nicht wahrgenommen wird, hat natürlich auch damit zu tun, dass sie von der Musikwissenschaft nie beachtet wurde. Michelle Ziegler hat für «Hidden Heartache» als erste Musikwissenschaftlerin überhaupt, das Werk von Olga Diener genauer angeschaut und sich mit all ihren biographischen Details vertieft beschäftigt, um nun zum ersten Mal einen Text über diese vergessene Komponistin vorzulegen. 

Weitere Akademikerinnen wie die Historikerin Ruramisai Charumbira hinterfragt das schweizerische Ver­ständnis des Begriffs Toleranz, oder der Sozialanthropologe Alain Leite Stampfli, der sich mit Themen der strukturellen und institutionellen Teilhabe beschäftigt, geht der Frage nach, welche Bestrebungen zur Anerkennung einer pluralistischen Gesellschaft führen können.

Die Notwendigkeit nicht-akademischer Stimmen

Es sollten aber auch nicht-akademische Stimmen gehört werden, wie Mardoché Kabengele, der sich unter anderem aktiv beim Berner Rassismus-Stammtisch einsetzt und einen äusserst persönlichen Text über seine Familiengeschichte verfasst hat, der aus einem fiktiven Dialog zwischen ihm und seinen Eltern besteht. 

Oder das wunderschöne arabische Gedicht «Blau أزرق» der syrischen Dichterin May Alrefai, das sie während den musikalischen Proben mit ihrem Mann Abathar Kmash für dieses Projekt entwarf. Sandra Hetzl übersetzte dieses Gedicht aus dem Arabischen ins Deutsche und durch diese Zusammenarbeit entstand ein Austausch über ihre Arbeit und ihre Herkunft und mein Wunsch, diesem Buch ihre sehr persönliche Reflexionsebene über das «Wir» und das «Ihr» beizufügen.

 

Anja Nunyola Glover. Foto: Janmaat

Nach der Musik:  Die Zusammenarbeit mit den Autor:innen

Die Soziologin Anja Nunyola Glover hat mich oft inspiriert, Systeme der Unterdrückung zu thematisieren und neue Narrative zu verbreiten, um das kollektive Bewusstsein zu verändern. In ihrem Text beschreibt sie unsere Gesellschaft, die Produktivität über Reflexivität stellt, und er­läutert, warum das Engagement für Gerechtigkeit bitter nötig ist.

Die beiden Forschenden Oxana Ivanova-Chessex und Antoine Chessex verbindet ein ge­mein­samer Blick auf Postkolonialismus und gesellschaftliche Ungleichheiten – aus den unter­schiedlichen Perspektiven ihrer Fachrichtungen Pädagogik und Musik. Für diese Publikation haben sie zum ersten Mal gemeinsam einen Text geschrieben und stellen Fragen in den Raum wie:

● Wer macht Musik, und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen ist Musikproduktion möglich? In welche gewaltsamen, diskursiven und normativen Kontexte sind Musikproduktion und -rezeption eingebettet? Wie spiegeln die Strukturen der Musikproduktion und -rezeption, die Diskurse um Klang, Musik und (Zu-)Hören sowie die gesellschaftlichen Positionierungen der Akteur:innen im musikalischen Feld die sich überlagernden Machtverhältnisse wider?

● Was wird (nicht) gehört und komponiert, auf welche Weise, von wem, unter welchen Be­dingungen und mit welchen Folgen für wen? Welche Formen von künstlerischen Praktiken und wessen Stimmen bekommen einen Platz im öffentlichen Raum (und damit die Möglichkeit der Aner­kennung)? Was und wer bleibt ausserhalb der gesellschaftlichen Anerkennung?

● Was und wer repräsentiert die hegemoniale Norm? Wessen Stimmen werden unterdrückt, und welche Folgen hat das für wen?

● Was sind die konkreten Bemühungen, um die sich überschneidenden Macht- und Herrschafts­verhältnisse infrage zu stellen, zu verändern oder gar zu durchbrechen?

Die Zusammenarbeit mit den einzelnen Autor:innen war ganz unterschiedlich. Mit den meisten habe ich mich mehrmals getroffen, habe viel über das Projekt erzählt, aber vor allem ihnen zugehört, was sie beschäftigt, was sie vermitteln wollen. Ich wollte keine Regeln aufstellen, wie lange die Texte sein sollen oder welche Form sie haben sollen. 

Alle sollten sich so ausdrücken dürfen, wie es ihnen entspricht. Die deutschen Texte sollten alle ins Englische übersetzt werden und umgekehrt die englischen ins Deutsche, doch vorher mussten alle Texte noch ein sorgfältiges Lektorat durchlaufen, was in den meisten Fällen zu vielen kleinen Detail-Diskussionen führte, die aber meistens sehr produktiv und ergiebig waren. 

 

Mardoché Kabengle. Bild: Nicolle Bussien

Abteilung Grafik: Wie soll das Buch eigentlich aussehen?

Gleichzeitig entwickelte sich das grafische Konzept in Zusammenarbeit mit dem wunderbaren Team des Verlages Jungle Books, die ständig inhaltlich mitdachten, die Anliegen von «Hidden Heartache» immer von Grund auf verstehen und grafisch darauf reagieren wollten. Jede Sitzung im kleinen Verlags-Büro in St. Gallen war ein euphorisches Ideen-Feuerwerk und wurde schrittweise in eine realistische Umsetzung transformiert. 

Gemeinsam entwickelten wir die Idee, dass «Hidden Heartache» so etwas wie eine Sammlung von unterschiedlichen Röntgenbildern werden könnte, die dem versteckten Schmerz auf den Grund gehen wollen, eine genauere Betrachtung des Inneren, eine Verdeutlichung durch Hinzugabe von verschiedenen Kontrastmitteln, eine Überlagerung verschiedener Bilder, die die Hautfarben der Beteiligten verwischen oder umkehren.

Währenddessen liefen die Gespräche mit dem Grafik-Team des CD-Labels, die wiederum ganz andere ästhetische Vorstellungen hatten und ein vollkommen anderes Gestaltungs-Konzept umsetzen wollten.

 

«Röntgenbild» aus Bild-Überlagerungen der Beteiligten, Jungle Books

Und dann war da noch der Copyright-Anwalt aus Hollywood

Als ob das nicht schon genug verschiedene Baustellen wären, wusste ich immer, dass ich mich dringend auch um rechtliche Fragen kümmern sollte. Ich wollte unbedingt mindestens ein Notenblatt von Julia Amanda Perry veröffentlichen, gerade auch um zu zeigen, wie wichtig das für all die ungehörten Stimmen war und ist, dass sie keine Verlagskanäle hatten, die ihre Werke publiziert und verbreitet hätten. 

Die Musik einer Komponistin ist bis 70 Jahre nach ihrem Tod geschützt, also im Falle von Julia Amanda Perry bis 2049, was bedeutet, dass sie ohne Genehmigung der Erben nicht veröffentlicht, aufgeführt oder aufgenommen werden darf. Wenn es keine direkten Erben gibt und eine Künstlerin nicht von allgemeinem Interesse ist, wird es aber kompliziert. Ich musste sehr viele Abklärungen unternehmen, bis ich schliesslich bei einem auf Copyright spezialisierten Anwalt in Hollywood gelandet bin, der sich um den Nachlass von Julia Amanda Perry kümmert und mir auf meine erste Anfrage hin die Veröffentlichung verbieten wollte, da er befürchtete, dass ich die bereits bestehenden Editionen konkurrenzieren könnte. 

Ende gut, alles gut?

Glücklicherweise war er nach längeren Diskussionen einsichtig, dass so eine Form von Konkurrenz ja sogar wünschenswert wäre, da ja das weltweite Interesse an der Musik von Julia Amanda Perry verschwindend klein ist und ich mit dem Projekt «Hidden Heartache» einen ganz kleinen Beitrag dazu leisten möchte, dass diese Problematik mindestens beachtet wird. 

Mit der Versicherung, dass ich nichts an diesem Projekt verdienen werde, durfte ich schliesslich für 250 Dollar die Lizenz für eine A4-Seite Musik kaufen und gleichzeitig meine Rechte an dem Notensatz, den ich für das Buch erstellen liess, abtreten, die nun zukünftig von diesem Hollywood-Anwalt ebenfalls weiterverbreitet werden können. 

 

Klaviere auf Tour. Bild: Simone Keller

Die Tournee: Raus aus dem Konzertsaal, rein in die Brockenhäuser

Während der gesamten Arbeitszeit, die sich über etwas mehr als drei Jahre erstreckte, fragte ich immer wieder grosse Institutionen und Veranstalter an, ob ich bei ihnen die Musik von «Hidden Heartache» vorstellen dürfte. Da sich das Interesse aber sehr in Grenzen hielt, wurde mir immer mehr klar, dass ich nicht darum herumkommen würde, auf eigene Faust eine Konzert-Tour zu organisieren, einen Lastwagen und ein Klavier zu mieten und nach Räumen zu suchen, wo ich die Musik aufführen und das Buch vorstellen darf. 

Ich fragte rund 50 Brockenhäuser, Museen, Archive, Bahnhöfe, Boulder-Hallen, Restaurants und Buchhandlungen an. Die meisten lehnten ab oder antworteten gar nicht, aber rund 14 Orte liessen sich darauf ein und erlauben mir in den Tagen rund um den 100. Geburtstag von Julia Amanda Perry am 25. März 2024 für ein kürzeres oder längeres Konzert vorbeizukommen, meistens begleitet von einem «special guest» wie der Sängerin Serenat Ezgican oder der Pianistin Isabella de Carvalho. 

Am 24. März kommt nun alles zusammen

Der Posaunist Michael Flury, der auf der CD so versteckt die «Hidden Tracks» spielt, wird fast immer mit dabei sein und «Lieder ohne Worte» mit mir spielen, im «Haus zur Glocke» in Steckborn sogar wandernd durch alle Räume von nah und fern sein sehr sanftes, aber auch eindringliches Posaunenspiel erklingen lassen.

Am 24. März 2024 findet die Buch-Vernissage im Rahmen von «Theater Konzerte Weinfelden» im Rathaus Weinfelden statt und am 25. März 2024 die CD-Taufe mit anschliessender Klavier-Zerlegung im Walcheturm Zürich, einem Ritual, das das Publikum hinter die weissen und schwarzen Tasten eines Klavieres blicken lässt, wenn gemeinsam die über 10'000 Einzelteile eines Instrumentes sorgfältig zerlegt und zu neuen Instrumenten zusammengefügt werden.

 

Klavier-Zerlegung. Foto: Andri Freuler

 

Es gibt immer was zu tun: Letzte Vorbereitungen für die Veröffentlichung

«Hidden Heartache» steht nun also kurz vor der Veröffentlichung. Ständig überlege ich, was noch alles zu tun ist, wen oder was ich vergessen habe, welche Bedürfnisse noch nicht berücksichtigt wurden. Ich bespreche mit dem Grafik-Team die letzten Viertel- oder Achtelgeviertabstände der Typografie des Buches, bevor es in den Druck geht. 

Oliver Meier, der nicht nur den Lastwagen fahren wird, sondern auch in stundenlanger hingebungsvoller Zeichnungsarbeit einen Tour-Flyer entworfen hat, diskutiert mit mir die einzelnen Anlieferungs-Schwierigkeiten des Klavieres bei den jeweiligen Konzertorten. Jede kleine Treppenstufe bereitet uns Kopfzerbrechen und muss mit einer Rampen-Konstruktion überwunden werden. 

Mit Abathar Kmash möchte ich bei der Vernissage neue Stücke für Oud und Klavier spielen und wir verabreden Probetermine in München, besprechen die musikalischen Arrangements und organisieren seine Reise in die Schweiz. Isabella de Carvalho reist sogar aus São Paulo an für die CD-Taufe und möchte neben den Konzerten unbedingt zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee sehen…

So viele Beteiligte, so viel Herzblut

Tausend Dinge schwirren mir durch den Kopf und dabei natürlich vor allem Dankbarkeit dafür, dass ich so ein Projekt überhaupt umsetzen darf, dass es durch die grosszügige Unterstützung der Thurgauer Kulturstiftung realisierbar wurde und dass so viele ganz unterschiedliche Beteiligte mit so viel Herzblut daran mitarbeiten.

Bald werde ich das gedruckte Buch «Hidden Heartache» mit den «Röntgenbilder» des Herzschmerzes in Händen halten. Als Wilhelm Conrad Röntgen Ende des 19. Jahrhunderts die Röntgenstrahlen entdeckte, fürchtete er, dass man ihn für verrückt erklären könnte. Heute sind sie aus der Diagnostik nicht mehr wegzu­denken. So ist es auch die Hoffnung von «Hidden Heartache», dass das Aufzeigen und Bekämpfen von Dis­kriminierung und Ungerechtigkeit zur gesellschaftlichen Normalität wird.  

 

Handgezeichneter Flyer von Klavier-Transporteur Oliver Meier für die Hidden Tour: die «Dymaxion-Weltkarte», die kein Oben und Unten hat und die Welt mit geringeren Verzerrungen der Flächen und Formen darstellt. Bild: zVg

 

Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» läuft!

Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist gestartet. Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:

 

  • Simone Keller, Pianistin
  • Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
  • Rahel Buschor, Tänzerin
  • Sarah Hugentobler, Videokünstlerin

 

Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.

 

Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

 

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

 

Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier

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