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von Simone Keller, 22.12.2023

Raus aus der Komfortzone

Raus aus der Komfortzone
„improvisação colaborativa“ – Meine Konzertreise nach Brasilien | © Simone Keller

Mein Leben als Künstler:in (4): Auf einer Konzertreise durch Brasilien erlebt die Pianistin Simone Keller wie Musik kulturelle Grenzen überwindet und wie wichtig es ist, Beziehungen auf Augenhöhe zu pflegen. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Ich schreibe diesen Text in Rio de Janeiro, klappe meinen Laptop auf und sitze dabei auf diesem Stuhl (siehe Bild oben) mit Blick auf den Zuckerhut und höre die Brandung des atlantischen Ozeans.

Mein Leben als Künstlerin. Klingt ziemlich gut. Ist es auch.

Dieses Bild ist natürlich nur die Oberfläche – sozusagen die Spitze des Zuckerhutes. In Zeiten der „Instagrammability“ ist es wichtiger denn je, auseinanderzuhalten, was Inhalt und was Oberfläche ist.

Vier Jahre lang habe ich diese Konzertreise nach Brasilien geplant, habe unzählige Gespräche mit lokalen Kuratoren geführt, in unendlich vielen Zoom-Meetings mit brasilianischen Künstler:innen ein gemeinsames Projekt mit vier unterschiedlichen Konzertprogrammen und Vermittlungsformaten entwickelt und in hunderten von E-Mails alle ästhetischen, logistischen und finanziellen Fragen geklärt.

Letzte Woche konnten dann endlich die Konzerte stattfinden. Der Festivalleiter hat uns herzlichst empfangen, der Klavierstimmer hat uns vier gute Flügel zurecht gerückt, für jedes Stück wurden individuelle Licht-Stimmungen eingerichtet und das Publikum strömte in unsere Konzerte an der Avenida Paulista in São Paulo und belohnte uns mit Standing Ovations.

 

Kukuruz Quartett spielt an der Avenida Paulista in São Paulo. Bild: Julio Kohl

„Wie entsteht eine Konzertreise nach Südamerika? Die einfachste Antwort darauf ist: Beziehungen.“

Simone Keller, Pianistin

Oft werde ich gefragt, wie ich denn zu diesen Konzertengagements komme. Warum fragen internationale Veranstaltungsorte genau mich an, die ich kein weltbekannter Superstar bin? Wie entsteht eine Konzertreise nach Südamerika? Die einfachste Antwort darauf ist: Beziehungen.

Dieser Begriff ist mit vielen (eher negativen) Konnotationen verbunden: Mit Filz und Vetterliwirtschaft, mit (oft verschwiegenen) Gegenleistungen, mit (oft von den Eltern geerbten) Netzwerken, in denen man sich gegenseitige Gefallen schuldet. In der neoliberalen Welt wird von „intensivem Networking“ geredet, bei dem durch ein ständiges Umwerben von wichtigen Kontakten internationale Kollaborationen entsteht.

Senecas sprichwörtliches Manus manum lavat „Eine Hand wäscht die andere“ ist zweitausend Jahre alt und das geflügelte Wort vom „Vitamin B“ kam im Deutschland der 40er Jahre auf – es beschrieb also die Wichtigkeit von privaten Netzwerken mit Entscheidungsträgern in einem totalitären Regime und in einer Zeit, als sie unter Umständen überlebenswichtig werden konnten.

Konzertreisen sind für mich mehr als Selbst-Marketing

All diese Varianten der „Beziehungspflege“ meine ich nicht, wenn ich von Beziehungen rede, von echten Beziehungen, das heisst davon, was geschieht, wenn man sich auf das Gegenüber einlässt, wenn man sich dabei aus der eigenen Komfortzone hinauswagt und sich dabei ständig hinterfragt, was man selbst (beispielsweise zur kulturellen Szene eines anderen Landes) beitragen könnte, was naturgemäss weit darüber hinaus geht, einfach nur die eigene Musik zu spielen und sich selbst zu „promoten“.

Im konkreten Fall hat das für mich bedeutet, über mehrere Jahre hinweg regelmässig mit den Veranstaltern in Brasilien in Kontakt zu bleiben, coronabedingte Verschiebungen (und Verschiebungen der Verschiebungen) zu organisieren und mich mit ihnen fortlaufend über mögliche Ideen auszutauschen. Immer wieder haben wir uns in Zoom-Sitzung getroffen, um zu besprechen wie die Zusammenarbeit aussehen könnte, wo es Verbindungen zu lokalen Musiker:innen gibt und wie eine Reihe von Workshops mit Musikstudierenden gestaltet werden könnte.

Die effektive Arbeitszeit eines solchen Projektes ist unbezahlbar

Wir haben telefoniert und uns unzählige E-Mails geschickt, um die Programmierung zu schärfen und immer wieder neu zu hinterfragen, um schliesslich Kompositionsaufträge zu vergeben und Improvisationskonzepte zu entwickeln. Auch die Finanzierung war ein komplexes Thema und musste immer wieder mit allen Beteiligten genau geplant werden, damit mindestens unsere Reisekosten gedeckt waren.

Die effektive Arbeitszeit für solch ein Projekt kann schlussendlich gar nicht bezahlt werden, aber dennoch bin ich überzeugt, dass diese vielen, vielen unbezahlten Arbeitsstunden, die in der Planung so einer Zusammenarbeit stecken, richtig und wichtig sind.

 

„improvisação colaborativa“ – gemeinsame Improvisation mit dem Publikum in São Paulo. Bilder: Julio Kohl

 

Bereits am zweiten Tag unserer Ankunft spielten wir das erste Konzert mit Stücken aus unserem Repertoire, öffneten aber das Programm nach einer kurzen Pause für das Publikum und improvisierten gemeinsam mit allen, die Lust dazu hatten. Nach einem kurzen Zögern trauten sich rasch einige Freiwillige, ein paar Töne beizusteuern und animierten dadurch auch andere, sich an die vier Flügel zu wagen. 

In Beziehung treten

Die Improvisation wurde immer ausgelassener, kleine Kinder spielten fröhlich mit und ein Mann begann plötzlich in den Flügel hinein ein dadaistisches Gedicht zu rezitieren. Dabei entstand nicht nur ein musikalisches Ereignis, sondern auch eine soziale Verbindung, die mir – die ich nur (mit einer Online-App in den letzten Monaten erlernt) bruchstückhaft Portugiesisch kann – den Zugang zu dieser Gesellschaft ermöglichte. 

Der Mann, der das Gedicht spontan rezitierte, wurde zum treusten Fan, kam zu allen weiteren Konzerten und lud mich ein, bei meinem nächsten Brasilien-Aufenthalt bei ihm zu wohnen, auch wenn er als arbeitsloser Künstler sehr bescheiden am Stadtrand lebt.

Eine berührende Wiederentdeckung

Als Zugabe hat unser Quartett-Mitglied Philip Bartels das Stück „Pássaro triste“ der brasilianischen Komponistin Dinorá de Carvalho (1895 – 1980) über einen traurigen Vogel für uns arrangiert: Ein emotional aufgeladenes, äusserst eigenständiges Klavierwerk einer in Vergessenheit geratenen Komponistin, die zu ihren Lebzeiten durchaus bekannt war und das erste Frauenorchester des Landes gegründet hat, das „Orquestra Feminina de São Paulo“.

Mir war die Komponistin zuvor nicht bekannt und ich fand sie und ihre Noten erst durch eine lange und umständliche Internet-Recherche. Was für ein beglückendes Gefühl, diese Musik, die für mich eine grosse Entdeckung war, mit einem Publikum zu teilen, das vor Rührung in Tränen ausbricht.

Gemeinsame Horizonterweiterung

Nachdem das erste Konzert gut über die Bühne gegangen war und sich die erste Anspannung etwas gelegt hatte, mussten wir am nächsten Morgen sehr früh aufstehen, um rechtzeitig an der Musikhochschule von São Paulo unsere vier Studierenden in Empfang zu nehmen. Für einen Moment bereute ich es, dass die Reiseplanung – die ich ja selber zu verantworten hatte – so dicht war, dass wir neben dem Jetlag auch sonst zu wenig Schlaf hatten. 

Kaum begegnete ich aber den vier jungen Menschen, die ein klassisches Klavier-Studium absolvieren und trotzdem sehr offen für eine Horizonterweiterung in der Neuen und experimentellen Musik sind, war ich überzeugt davon, dass es die richtige Entscheidung war, diesen Workshops so viel Zeit einzuräumen. 

Nach einem intensiven gemeinsamen Brainstorming wurde einerseits mein Vorschlag, gemeinsam ein Stück des PoC-Komponisten Julius Eastman einzustudieren, der nach wie vor in der klassischen Musikwelt zu wenig Beachtung findet, angenommen. Andererseits wurde spontan eine Eigenkomposition eines Studenten ins Konzertprogramm aufgenommen, der erst kurz zuvor angefangen hatte, sich mit grafischer Notation zu beschäftigen. Eine begeisternde Zusammenarbeit mit den Studierenden der Escola Municipal de Música de São Paulo entstand:

 

Eine begeisternde Zusammenarbeit mit den Studierenden der Escola Municipal de Música de São Paulo entstand. Bild: Simone Keller

Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Für das zweite Konzert hatte ich eine Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Komponisten Manuel Pessôa de Lima geplant, den ich schon länger kenne und sehr schätze. Er verbindet in seiner kompositorischen und performativen Tätigkeit verschiedenste Genres und bezieht sich mehrdeutig aufs Scheitern und die politischen und gesellschaftlichen Dimensionen im Spannungsfeld zwischen Europa und Amerika. 

Da vor Ort in São Paulo wenig Zeit für gemeinsame Proben war, bereiteten wir alles minutiös per Mail und im Chat vor, verfassten ein Skript, flochten die Musikstücke ein und überlegten uns eine Art Choreographie, wie die vier Klaviere auf der Bühne zusammenfinden konnten. 

Manuel schrieb uns auch einige portugiesische Sätze ins Skript, von denen er zwei Abende vor dem Konzert im Hotelzimmer mit uns Audioaufnahmen machte, um sie unter grossem Gelächter des Publikums abspielen zu lassen. Mit diesem humorvollen und abgründigen Musiktheaterabend durften wir eine sehr schöne Premiere feiern:

 

Manuel Pessôa de Lima mit dem Kukuruz Quartett. Bild: Julio Kohl

Streng und überheblich: das gängige Bild von europäischen Musiker:innen in Südamerika

Natürlich wäre es für mich am einfachsten gewesen, in Brasilien Stücke aus meinem Repertoire zu spielen und in einem kurzen Workshop an der Musikhochschule zu zeigen, wie ich das tue und was ich für richtig halte. 

Eine Studentin hat mir nach dem Abschlusskonzert verraten, dass sie vor dem Workshop sehr ängstlich war, weil ihr mehrfach bestätigtes Vorurteil gegenüber europäischen Musiker:innen sei, dass die nach Südamerika kommen und denken, das musikalische Niveau sei tiefer als in Europa, um dann im Rahmen von sogenannten „Meisterkursen“ streng und überheblich zu unterrichten, wie man zu spielen habe. Sie sei total überrascht gewesen, dass wir eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe angeboten und am Ende ein gemeinsames Konzert gespielt haben.

Eine vergessene Thurgauer Komponistin

Zum Abschluss meiner Reise spielte ich ein Klavierrezital in der Casa da Suíça in Rio de Janeiro – ausschliesslich mit Stücken von brasilianischen und Schweizer Komponistinnen. Es war mein Vorschlag, das Programm so zu gestalten, auch wenn ich mir damit nochmals mindestens hundert Stunden zusätzlicher Arbeit eingehandelt habe (Recherche der Komponistinnen, Suchen der Noten, Einstudieren der Stücke). 

Ich kombinierte Klaviermusik von Cacilda Borges Barbosa, Júlia Cesarina Ribeiro Cordeiro, Dinorá de Carvalho und Chiquinha Gonzaga mit Stücken von Anny Roth-Dalbert (der ersten weiblichen Studentin am Konservatorium Zürich) und der in Vergessenheit geratenen Thurgauer Komponistin Olga Diener (1890 –1963), über die ich in meiner nächsten Kolumne mehr schreiben werde.

 

Olga Diener, Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA)

 

„Ein Beziehungsnetzwerk bedeutet für mich genau das – Beziehungen vor Ort zu knüpfen und zuallererst mit der Musik in Beziehung zum Publikum zu treten, ganz egal wo.“

Simone Keller, Pianistin

Aus ökonomischen Gesichtspunkten muss man es als eine totale Fehlentscheidung betrachten, so viel Zeit in ein unbezahltes Konzert zu investieren. Und dennoch bin ich überzeugt, dass es richtig ist, sich für etwas einzusetzen, was über den blossen Auftritt als Künstlerin hinausgeht. 

Ich möchte mich nicht als Schweizer Musikerin, deren Reise von der Pro Helvetia mitfinanziert wurde, auf einem Podium in Brasilien beklatschen lassen, wenn ich darüber hinaus keinen Beitrag an die Musikszene vor Ort leisten kann. Ein Beziehungsnetzwerk bedeutet für mich genau das – Beziehungen vor Ort zu knüpfen und zuallererst mit der Musik in Beziehung zum Publikum zu treten, ganz egal wo. 

So zu arbeiten ist zwar sehr anstrengend und manchmal auch erschöpfend, aber unendlich beglückend. Es entstehen dadurch echte Beziehungen, echte Freundschaften, ein echter Austausch. Es ist ein grosses Privileg, als Künstlerin mit Schweizerpass so auf Reisen gehen zu dürfen und dabei nicht den Gesetzen einer Agentur folgen zu müssen, die für mich entscheidet, welche Engagements gewinnbringend sind, sondern meine Herzensangelegenheiten vertreten zu dürfen und dadurch eine direkte Beziehung zu den Menschen vor Ort aufbauen zu können.

 

Kukuruz Quartett mit brasilianischem Komponisten Manuel Pessôa de Lima und Klavierstimmer in São Paulo. Bild: Simone Keller

 

 

Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» läuft!

Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist gestartet. Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:

 

  • Simone Keller, Pianistin
  • Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
  • Rahel Buschor, Tänzerin
  • Sarah Hugentobler, Videokünstlerin
  •  
  • Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.

Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

 

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

 

Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier.

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