von Rahel Buschor, 23.02.2024
Kunst, meine Wildnis
Mein Leben als Künstler:in (11): Die Tänzerin Rahel Buschor über vier Stichworte, wie Kunst und Alltag miteinander verschmelzen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Wenn mich jemand nach meiner beruflichen Tätigkeit fragt, muss ich immer erst einen Moment lang überlegen. Je nach Situation und Gegenüber kann die Antwort unterschiedlich ausfallen. Von der ganzen Palette an Labels, welche Teilaspekte von dem was ich mache beschreiben, gibt es keines, mit dem ich mich identifizieren kann.
Es ist die Vielfalt, die zu mir gehört: Die Bewegung, die Musik, das Darstellende, das Forschende, das Vermittelnde, das Unvorhersehbare. Das Finden des Künstlerischen im Alltag und das Erkunden des Alltäglichen in der Kunst gehören ebenso dazu. Das möchte ich in vier Stichworten veranschaulichen.
Hoffnung
Was ist Hoffnung? Andres Krafft ist Hoffnungsforscher und äussert sich dazu folgendermassen: «Hoffnung richtet sich zum einen auf konkrete Wünsche und Ziele. Zum anderen haben wir auch ein unspezifisches und grundlegendes Gefühl der Hoffnung im Leben, mit dem wir schwierige Situationen besser meistern können. Hoffnung dient als Fundament für die persönliche Bereitschaft und Fähigkeit sich zu engagieren und etwas zu unternehmen. Gleichzeitig beruht Hoffnung auf der Anerkennung unserer eigenen Grenzen und der Notwendigkeit, auf andere Menschen zu vertrauen.»
In der Ausschreibung von Kunst im Depot stand: «Zum Thema ‘’Re:creation – Wandel und soziale Hoffnung’’ ermöglichen wir Kunstschaffenden aus unterschiedlichen Disziplinen, welche bereits in dieser oder ähnlicher Thematik unterwegs sind, einen Recherche-Aufenthalt.»
Im Rahmen dieses Rechercheaufenthaltes setzte ich mich, in einer Zeit in der so einiges anders verläuft als ich es mir für unsere Welt wünschen würde, mit meinen Hoffnungen auseinander. Hoffnung ist zeitgebunden, stellte ich fest. Sie ist in der Gegenwart angesiedelt, bezieht sich auf die Zukunft und gestaltet sich meist aus Puzzleteilen, welche vergangenen Erfahrungen zugrunde liegen. Diese Zeitachse wurde zur Grundstruktur meiner Tanzperformance. Spuren von Bewegung bildeten den visuellen Teil der Arbeit: Bewegungsspuren als Hoffnungsträger.
Aus Zufall, bzw. aus Ungeschicktheit – beim Kochen – stiess ich auf das Medium Salz. Salz symbolisiert eine Essenz des Lebens, ohne die Menschen, Pflanzen und andere Lebewesen nicht überleben können. Salz wird in vielen Kulturen als ‘Trägermaterial’ gesehen, darum spielt es eine wichtige Rolle in Ritualen und Bräuchen.
Ich begann, das Material Salz tanzend, und in Bezug auf die Hoffnung zu erkunden. Schlüsselelemente wurden erstens: das Salz als Gewichte verpackt an meinen Extremitäten – stehend für ‘die Schwere des Lebens’ und die Krisen, mit denen wir uns aktuell konfrontiert sehen. Und zweitens: das sich Auflösen der Gewichte, das Streuen des Salzes auf den Boden und das Kreieren eines Salzmusters durch meinen tanzenden Körper – Versinnbildlichung für die Manifestation von dem, was wir hoffen.
Die Hoffnungswerkstatt mit Vernissage und Performance fand im vergangenen Herbst bei Kunst im Depot in Winterthur statt. An verschiedenen Stationen durfte sich das Publikum künstlerisch mit dem Thema der Hoffnung auseinandersetzten. Es gab einen spannenden Austausch, tiefgreifende Diskussionen und berührende Begegnungen.
Hier ein Einblick (Video:Marko Mijatovic):
Regeln
Es ist Montagmorgen, 8.20 Uhr. Ich stehe im Schulzimmer einer 2. Primarschulklasse im Kreis 2 in Zürich. Die Klassenlehrperson ist krank, ich springe ein. Fach: Musik. Thema: Ethik. Was hat Ethik mit Musik zu tun? Oder brauchen wir Regeln? Wir wagen das Experiment und stellen uns vor, wie ein Tag ohne Regeln aussehen würde.
Die Euphorie ist gross: «Ich würde den ganzen Tag lang gamen und fern schauen.» «Ich würde nur noch Süsses essen.» «Ich würde keine Hausaufgaben mehr machen.» «Ich würde die neuen Schuhe meiner Schwester anziehen.» Auf den Sturm an Ideen folgt eine Phase der Ernüchterung: «Es gäbe keine Regeln mehr im Verkehr und viele Unfälle.» «Wäre dann Geld nichts mehr wert?» «Dann würde ja alles allen gehören.» Nach diesem Gedankenexperiment sind sich alle einig: Regeln sind wichtig. Doch: Welche Regeln wollen wir, welche bereichern unser Zusammenleben?
Gelten beim Musikmachen dieselben Regeln? Wir hören uns ein Orchesterstück an mit verschiedenen Stimmen an. Es tönt so, als würden die verschiedenen Stimmen einander ins Wort fallen – und doch harmoniert die Musik. Wir ahmen das Orchestersetting mit unseren Stimmen nach. Das klingt sonderbar. Es fällt uns schwer, einander zu verstehen. Anderes Setting, andere Regeln?
Wir gehen noch weiter und spielen mit den Regeln. Was passiert, wenn wir Regeln auf den Kopf stellen?
Wir sprechen über Kunst, und dass da oft andere Regeln gelten. Eine Regel besagt, dass es keine Regeln gibt, bzw. dass wir die Regeln neu definieren dürfen. Das wird auch Querdenken genannt. Bekanntes wird in einen neuen Zusammenhang gesetzt, aus einer anderen Perspektive betrachtet, mit etwas ‘Unpassendem’ kombiniert. Nach den musikalischen Experimenten üben wir visuell: Wir zeichnen eine Stadt, welche aus Küchengegenständen besteht. Was für Kreaturen würden wohl in einer solchen Stadt leben? Wir stellen uns die Welt aus Ameisenperspektive vor und zeichnen einen Ausschnitt von dem, was wir sehen.
Bewertung
Ich sitze am dozierenden Konvent der Hochschule der Künste Zürich (ZHdK). Ein Thema, welches immer wieder für Diskussionen und erhitzte Gemüter sorgt, ist die Note. Das Highlight der heutigen Zusammenkunft: Die Abteilung Musikpädagogik verabschiedet sich per sofort von den Noten zur Beurteilung der Leistungen von Studierenden! Prüfungen wird es weiterhin geben, die Beurteilung derselben wird nach neu zu definierenden Kriterien erfolgen. - Wow! -
Dass Noten keine nachhaltige Lernmotivation sind, bestätigt auch die Bildungsexpertin Rahel Tschopp kürzlich in einem Interview zur Schule der Zukunft. Weiter sagt sie: «Das eigene Potential sowie die eigene Leidenschaft entdecken und entwickeln, Kreativität und Kollaboration leben, sich selbst immer wieder herausfordern und komplexe Aufgabenstellungen schätzen: Das ist eine gute Leistung.»
Damit sind wir schon mitten in der Kunst.
Bei der Tätigkeit als Kunstschaffende bin ich ständig Bewertung und Kritik ausgesetzt. Besonders wenn ich als Performerin auf der Bühne stehe. Aber auch, wenn ein Projekt noch nicht mal begonnen hat, es erst als Idee existiert: Ich bewerbe mich für eine Residenz, frage um Geldbeiträge bei Stiftungen oder anderen Institutionen für die Realisierung von einem Tanzstück. Manchmal gibt es eine Zusage, manchmal eine Absage. Diese «Bewertung» entscheidet nicht selten darüber, ob ein Projekt Gestalt annehmen kann oder nicht.
Obwohl längst bekannt, berührt es mich immer wieder, dass viele Kunstschaffende zu Lebzeiten nicht oder nur wenig gesehen werden. Ob dies auf schlechte Kritik/ Bewertung zurückzuführen ist, weil sie von der Zeit in der sie leben nicht verstanden werden, oder aus ganz anderen Gründen, das ist schwierig zu ergründen. Simone Keller erzählte dies eindrücklich am Beispiel der herausragenden Thurgauer Musikerin Olga Diener.
Kunst ist auch Hochleistungssport: Bei Musiker:innen oder Tänzer:innen kann eine einzige Beurteilung beim Vorspiel/Vortanzen über die weitere Karriere entscheiden. Ist das noch Kunst? Was sind Kriterien für gute Kunst?
In vielen Bewertungssystemen scheint es darum zu gehen, wie anpassungsfähig der Mensch ist. Macht die Schülerin das, was von ihr verlangt wird? Trifft der Musiker die Klangfarbe, die gerade im Orchester gesucht wird? Was muss die Influencerin posten, um möglichst viele Likes zu generieren?
«Warum wollen wir so sein wie die anderen? Obwohl wir so gern einzigartig wären...», so eine Überschrift in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift «Zeit Wissen». Sie trifft für mich einen Kern von Bewertung, und auch für das künstlerische Tun.
Kunst machen heisst oft gegen den Strom zu schwimmen. Es bedeutet den eigenen, manchmal verrückten Ideen Platz zu geben. Es bedeutet Bewertungen konstruktiv zu verarbeiten und die eigene Authentizität zu erkunden und zu leben.
Wildnis
Im vergangenen Jahr hatte ich die Chance, in Kenya Wildtiere zu beobachten. Im Vorfeld war ich skeptisch, überhaupt auf die Tour zu gehen, da ich das Setting mehr mit einer Art ‘grossem Zoo’ assoziierte. Zootiere wirken auf mich oft deprimierend, irgendwie abgestumpft und ihrer Lebendigkeit beraubt. Doch weit gefehlt, das hier war etwas ganz anderes.
Das Beobachten der Wildtiere packte mich auf eine Art, wie ich es nie für möglich gehalten hätte: Die ‘Wildheit’ dieser Geschöpfe, diese Wachheit, die majestätischen, im nächsten Moment kämpferischen, kraftvollen, flinken, wunderschönen Bewegungen - ich war absolut fasziniert. Dieses Erlebnis in Kenya berührte mich nachhaltig, inspirierte mich und stimmte mich nachdenklich. Ich habe viel nachgedacht über diesen schönen Planeten auf dem wir leben, und über das was schützenswert und wertvoll ist.
Meine Wildnis ist die Kunst. Wie kann ich noch authentischer sein in diesem Feld, meine eigene Wildheit erkunden und zum Ausdruck bringen? Wie kann ich mich auf dieser Ebene mit anderen Menschen verbinden, in Resonanz kommen, etwas bewegen?
Das Folgen einer Idee, einer Inspiration oder einem künstlerischen Projekt ist so etwas wie das Schreiten in die Wildnis, in eine komplett unbekannte Welt. Wie bei den Tieren hat jedes von uns seine unverkennbare Eigen-Art und diese ungestüme, alles durchdringende Lebenskraft. In dieser Wildnis habe ich das Gefühl, dem näher zu kommen was Menschsein bedeutet - und unseren kleinen blauen Planeten so wertvoll macht.
Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» läuft!
Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist gestartet. Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:
- Simone Keller, Pianistin
- Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
- Rahel Buschor, Tänzerin
- Sarah Hugentobler, Videokünstlerin
Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.
Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.
Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.
Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier
Von Rahel Buschor
Weitere Beiträge von Rahel Buschor
- Es muss im Leben mehr als alles geben (19.04.2024)
- Der Rhythmus des Lebens (22.03.2024)
- Arbeitstools: meine Werkzeugkiste (26.01.2024)
- Kreativität für alle (15.12.2023)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Kolumne
Kommt vor in diesen Interessen
- Kulturvermittlung
- Tanz
Ist Teil dieser Dossiers
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