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von Simon Engeli, 01.12.2023

„Ich muss kein Theater machen!“

„Ich muss kein Theater machen!“
«Da war ich noch nicht an der Schule, aber träumte davon», schreibt Simon Engeli zu diesem Bild. | © privat

Mein Leben als Künstler:in (1): Zum Auftakt der zweiten Staffel schreibt Simon Engeli über seine Anfänge an der Dimitrischule, Sorgen, die er sich hätte schenken können und von einem Aufsatz, der nie geschrieben wurde. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Ich habe meine Ausbildung an die Scuola Teatro Dimitri gemacht. Die Theaterschule, im malerischen Tessiner Dörfchen Verscio gelegen, wurde 1975 von Clown Dimitri gegründet und zieht seither junge Menschen aus der ganzen Welt an, die dort ihr Theaterhandwerk lernen möchten. Nach bestandener Aufnahmeprüfung folgt eine Probezeit von drei Monaten. Ich war hochmotiviert. Und total verkrampft.

Mein Tag in diesen ersten Schulwochen begann immer gleich: Ich erwachte in meinem Zimmer in Locarno, spürte einen nervösen Brechreiz, rannte ins Bad, übergab mich, setzte mich auf die Bettkante – und weinte ein bisschen.

Einmal im Leben eine Leberwurst

Dann fuhr ich mit dem Centovalli-Bähnchen in die Schule und versuchte, mit dem ganzen neuen Schulstoff klarzukommen. „Grand Battement“, „Rondat“, „Slancio“, „sensazione fisica“. Die neuen Worte überforderten mich genauso wie die Handlungen, die sie bedeuten.

Ich konnte mir keine drei Tanzschritte am Stück merken und unser ungarischer Akrobatiklehrer nannte mich „eine schlächt gefillte Läbärwurrst“, wenn ich meinen krummen Handstand übte.

Mit der Zeit wurde es besser, ich schloss Freundschaften und konnte mit meinem eher hinderlichen Anspruch „es gut machen“ zu wollen etwas entspannter umgehen.

 

Simon Engelis erste Gehversuche an der Theaterschule. Bild: privat

Die Suche nach der inneren Notwendigkeit

Doch dann, etwa zwei Wochen vor Ende der Probezeit, gesellte sich zu den vielen neuen Fachausdrücken ein weiterer hinzu: Die „NECESSITÀ“! Wie von einer „Also-sprach-Zarathustra“-Paukenfanfare begleitet, erhob sich das Wort über die Schulgebäude und versetzte uns Neulinge in ehrfürchtiges Staunen.

Unser Schuldirektor Florian hielt eine Ansprache: „Ihr habt in den vergangenen Wochen, gezeigt, wie ihr euch körperlich und künstlerisch entwickelt habt, eure Lehrer konnten eure Arbeitshaltung beobachten. Bevor wir jedoch über eure Zukunft an dieser Schule entscheiden, bekommt ihr noch eine Aufgabe. Ihr schreibt einen Aufsatz über eure innere Notwendigkeit, auf die Bühne gehen zu wollen, euren Drang, diesen Beruf auszuüben. Beschreibt euren Antrieb, warum ihr nichts anderes tun wollt. Abgabe am Soundsovielten vor dem Lehrerkonvent.“ Beflissen machte ich mich an die Arbeit.

Necessità, auf Deutsch Notwendigkeit, das war offenbar eine grosse Sache, soviel hatte ich bereits mitbekommen. Theater sollte ein radikales Bekenntnis sein, eine Berufung. Ich wollte sie auch, diese Necessità, unbedingt. Doch je länger ich mich selbst befragte, beschlichen mich immer mehr Zweifel: Eine innere Notwendigkeit Theater zu machen, habe ich die überhaupt? Tagelang verbrachte ich so in quälender Selbstbetrachtung – und gab am Ende keinen Aufsatz ab.

Das Ende dieser Geschichte ist leider unspektakulär. Mein Schuldirektor muss entweder ein begnadeter Pädagoge gewesen sein, oder ein vergesslicher Chaot, oder beides, denn: Er hat mich nie auf den fehlenden Aufsatz angesprochen, nie ein Wort über die nicht erfüllte Aufgabe verloren. Ich habe die Probezeit bestanden und durfte bleiben.

 

Akrobatik-Training an der Theaterschule. Bild: privat

Was ich mit 100 Millionen Franken tun würde

Heute, über 20 Jahre später, gönne ich mir hin und wieder ein etwas peinliches Gedankenspiel. Ich gestehe es hier nur deshalb öffentlich, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass Sie es auch schon gespielt haben.

Ich stelle mir vor, ich sei steinreich. Der Erbe einer Industriellen-Dynastie, mindestens 100 Millionen Franken schwer. Ich überlege mir, wie ich leben, was ich tun würde, in dieser privilegierten Lage, in der Geld verdienen, berufliches Einkommen, Broterwerb keinerlei Rolle spielten.

Mir kommen schnell eine Menge Dinge in den Sinn: Erstmal würde ich (um etwas Sinnstiftendes zu tun zu haben) meine von mir finanzierten sozialen und ökologischen Projekte betreuen. Morgens Meeresschildkröten aus Fischernetzen schneiden, nachmittags das Jugendorchester aus dem Slum in die Konzerthalle chauffieren.

Aber dann würde ich mir meine eigenen Wünsche erfüllen: Ich würde mir ein Häuschen in der Wildnis Schwedens kaufen und abwechselnd draussen Holz hacken und drinnen vor dem Ofen Bücher lesen. Und ich würde mir zusammen mit meiner Familie die Welt anschauen. Mit dem Wohnmobil an die Küste von Maine, zu Fuss durch Tokio, mit dem Rucksack nach Schottland. So fantasiere ich gelegentlich vor mich hin, wenn ich im November-Dauerregen im Stau stehe.

Das Erschreckende dabei: Schauspielern, Inszenieren, Theater machen, gar ein Theater leiten, das alles kommt in meinen Tagträumen nicht vor. Ich kann mir ein Leben ohne Theater durchaus vorstellen. Habe ich sie also tatsächlich nicht, diese innere Notwendigkeit? Auch nicht nach all den ungezählten Inszenierungen, Rollen, Tourneen, Vorstellungen, Engagements in über 20 Jahren Theaterleben?

 

Backstage an der Theaterschule. Bild: privat

Beweglichkeit statt Notwendigkeit

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich liebe meinen Beruf! Ich mag Geschichten und erzähle sie gerne weiter. Ich verehre das Ritual, gemeinsam mit Menschen einen verdichteten, intensiven Moment zu erleben, im Hier und Jetzt. Ich bin glücklich, wenn ich Menschen zum Lachen bringen kann. Ich geniesse die Anerkennung, wenn eine Arbeit geglückt ist. Ich bin dankbar dafür, dass ich mein Einkommen mit einer Tätigkeit bestreiten kann, die mir ganz einfach Spass macht. Ich bin stolz darauf, mit meinen Freundinnen und Freunden zusammen ein Theater aufgebaut zu haben.

Aber ich muss kein Theater machen. Ich habe sie nicht, die Notwendigkeit. Nicht zuletzt deshalb würde ich mich selbst nie als Künstler bezeichnen, denn dieses „Nicht-anders-können“ gehört für mich eindeutig zu (meiner) Definition einer Künstlerin, eines Künstlers. Vielleicht bin ich eher ein Kunsthandwerker.

Doch was mir damals, Anfang zwanzig an der Dimitrischule, als Makel und persönliches Defizit erschien, erlebe ich heute als Freiheit. Keine Notwendigkeit, keinen Ausdruckszwang zu kennen, schenkt auch innere Beweglichkeit. Die Beweglichkeit, viele verschiedene Stilrichtungen auszuprobieren zum Beispiel. Oder sich in die unterschiedlichsten Ensembles und Arbeitsweisen einleben zu können. Oder ganz pragmatisch eine Auftragsarbeit auszuführen. Und es gibt mir eine gewisse Lockerheit, mit meiner Arbeit nicht immer gleich den Sinn des Lebens finden zu müssen.

 

So ein Chaos
Viel Spass bei der Arbeit: Simon Engeli hier mit seiner Partnerin Rahel Wohlgensinger und Monty auf der Bühne in der Inszenierung «So ein Chaos!». Bild: Ilja Mess

Wie der Aufsatz von damals heute beginnen würde

Trotzdem bedaure ich manchmal, den Aufsatz damals nicht abgegeben zu haben. Würde ich heute nochmals damit beginnen, die ersten Sätze lauteten vielleicht so:

„Ich bin sieben Jahre alt. Im Bodansaal Romanshorn stehe ich hinter der Bühne im Dunkeln, rieche den Geruch von Holz, Farbe und verbranntem Staub auf den Scheinwerfern – was für eine Mischung! Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Das Licht im Saal geht aus, das Publikum wird still, und ich bin bereit, wir alle sind bereit! Ein Augenblick von höchster Konzentration. Nun gut, ich bin nur Heinzelmännchen Nr. 14, eine stumme Rolle. Aber in jenem Moment ist mir klar: Dieses Gefühl, das willst du immer wieder haben.“

 

Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» ab jetzt!

Mit diesem Beitrag von Simon Engeli startet die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in». Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:

 

  • Simone Keller, Pianistin
  • Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
  • Rahel Buschor, Tänzerin
  • Sarah Hugentobler, Videokünstlerin
  •  
  • Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.

Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

 

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

 

Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier.

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