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von Simone Keller, 29.03.2024

«Wir müssen uns engagieren. Immer und immer wieder!»

«Wir müssen uns engagieren. Immer und immer wieder!»
Abschlusstanz des Projektes «Solos&Sights» 2022, das Simone Keller zusammen mit San Keller für die Internationale Bodensee-Konferenz IBK in Frauenfeld kuratiert hat. | © Leon Faust

Mein Leben als Künstler:in (16): Die Pianistin Simone Keller erklärt, warum sie ihre künstlerische Arbeit oft mit sozialem Engagement verbindet. Und sie hat einen Wunsch an uns alle. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Immer wieder wird meine künstlerische Arbeit mit sozialem Engagement in Verbindung gebracht. Ich bin in der Schweiz geboren und aufgewachsen, habe deshalb bereits als Kind viele Privilegien genossen, hatte unter anderem Zugang zu Bildung, durfte Musikunterricht nehmen und diese Leidenschaft schliesslich zu meinem Beruf machen. 

Ich habe dies niemals als Selbstverständlichkeit betrachtet und mich deshalb verpflichtet gefühlt, aus meiner privilegierten Position den Blick für die Ungleichheiten und Diskriminierungen niemals zu verlieren und mich für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen.

 

«Das Engagement für Gerechtigkeit ist notwendig, weil es uns menschlich macht.»

Anja Nunyola Glover, Soziologin

«Das Engagement für Gerechtigkeit ist notwendig, weil es uns menschlich macht.» schreibt die Soziologin Anja Nunyola Glover in ihrem Essay für mein Buch «Hidden Heartache», welches soeben beim St. Galler Verlag Jungle Books als neuster Band der Reihe «Facetten» der Thurgauer Kultur­stiftung erschienen ist. «Wenn wir uns für das Gemeinwohl einsetzen, dann nicht, weil wir andere retten oder ihnen helfen wollen, sondern weil wir unser eigenes Weltbild retten wollen.»

Das Selbstverständliche

Es gibt in einem reichen Land wie der Schweiz vergleichsweise viele Menschen, die bereit sind, einen gewissen Geldbetrag für einen «guten Zweck» zu spenden. Auch ich sammle Geld für einen Verein, mit dem ich musikalische Jugendliche aus Krisengebieten unterstützen möchte und wir sind dabei sehr auf grosszügige Spenden angewiesen, und auch darauf, dass diese Grosszügigkeit keine Über­heblichkeit ist – dass also klar ist, dass wir nicht glauben, besser zu wissen, was die Hilfs­bedürftigen brauchen als diese selber. 

Zu den sogenannten «weissen Rettern» zu werden, die aus privilegierter Position heraus in überheblicher Weise glauben, zu wissen wie man hilft, ist eine Sorge, von der ich immer wieder höre und die ich kenne. Ich habe hier – genauso wie für die Kunst – kein Patentrezept. Sich dieser Gefahr bewusst zu sein ist sicher ein erster wichtiger Schritt, nicht so zu werden; ansonsten versuche ich zuzuhören, auf die Bedürfnisse einzugehen und einen Weg zu finden, um die bestmögliche Unterstützung zu bieten. Und ich muss mir dabei bewusst sein, dass ich deswegen nicht ein «Gutmensch» bin oder in irgendeiner Weise für meine ethisch-moralischen Kompetenzen Anerkennung bekommen möchte, sondern dass ich nur das Selbstverständliche tue.

Wenn ein Kind unter den Wagen kommt, reisst man es auf den Gehsteig.
Nicht der Gütige tut das, dem ein Denkmal gesetzt wird.
Jeder reisst das Kind vor dem Wagen weg.
Aber hier liegen viele unter dem Wagen, und es gehen viele vorüber und tun nicht dergleichen.
Ist das, weil es so viele sind, die leiden? Soll man ihnen nicht mehr helfen, da es viele sind? Man hilft ihnen weniger.
Auch die Gütigen gehen vorüber und sind hernach ebenso gütig, wie sie waren, bevor sie vorbeigegangen sind.

… analysierte Bertolt Brecht 1938 und Anja Nunyola Glover schreibt 2024: «Um etwas zu bewirken, reichen Zeit und Geld nicht aus. Wir müssen das Narrativ ändern, wir brauchen einen Wandel des Mindsets. Wir müssen lernen, uns mit unseren Privilegien auseinanderzusetzen und dass unsere Engagements selbst­verständlich sein sollten, um unseres eigenen Weltbildes willen.»

 

Meine «Carte Blanche» im Jazzclub Moods in Zürich: Es spielt das «Autonome Klavierensemble». 2020 Bild: Michelle Ettlin

Das Häkchen bei Inklusion

Spätestens seit der Bund im Rahmen der Kulturbotschaft 2016 erstmals die «kulturelle Teilhabe» ins Zentrum gestellt hatte, habe ich immer wieder Anfragen von Konzerthäusern, Institutionen und Festivals bekommen, die mich mit meiner Produktionsplattform ox&öl für ein möglichst inklusives und diverses Projekt buchen wollten – um in ihrem Pflichtenheft ein Häkchen zu machen und im Jahresbericht Fotos mit möglichst vielfältigem Publikum und marginalisierten Menschengruppen auf der Bühne zu veröffentlichen. 

Mit solchen sogenannten soziokulturellen Projekten werden dann oft Drittmittel akquiriert, die aus den herkömmlichen Kulturtöpfen nicht fliessen würden, die dann aber meistens nicht der jeweiligen Produktion zukommen, sondern vollkommen selbstverständlich in einem unübersichtlichen Gesamtbudget für die Overhead-Kosten verschwinden. 

Dies ist einer der Hauptgründe, warum ich die meisten Projekte in diesem Bereich unabhängig von Institutionen selber produziere, um möglichst viel Kontrolle zu behalten. 

Damit trage ich dann aber auch meistens das finanzielle Risiko, wie beispielsweise bei einem Projekt, das wir über drei Jahre in einem Jugendgefängnis aufgebaut hatten, für das wir aber schlussendlich nicht genügend Stiftungen überzeugen konnten – unter anderem da unsere Arbeit hinter Gittern keine öffentlichen Präsentationen erlaubte und wir aus Persönlichkeitsschutz keine Fotos machen durften. 

 

ox&öl-Musiktheaterstück mit Jugendlichen mit geistigen Beeinträchtigungen, 2017 Bild: Lothar Opilik

Ins Handeln kommen

In diesem Text möchte ich aber nicht über die Schwierigkeiten sprechen, die zwangsläufig auftauchen, wenn man sich für etwas engagiert, sondern viel mehr dazu ermutigen, dass wir es trotzdem und immer wieder trotzdem tun. Wir werden dabei zwar immer wieder ausgebremst, kritisiert und hinterfragt, aber das sollte uns nicht davon abhalten, uns aktiv daran zu beteiligen, dass unsere Gesellschaft gerechter und barrierefreier wird. 

Es scheint oft die beste Möglichkeit, nichts zu tun – ganz einfach, um keine Fehler zu machen. Aber schon der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick schrieb, «wir können nicht nicht kommunizieren, denn jede Kommunikation (nicht nur mit Worten) ist Verhalten und genauso wie man sich nicht nicht verhalten kann, kann man nicht nicht kommunizieren.»

Nichts zu tun ist also auch eine Haltung. Ob aus Zurückhaltung, Unsicherheit, Gleichgültigkeit oder dem Bedürfnis unpolitisch oder «neutral» bleiben zu wollen. Wer etwas verändern will, muss handeln und Handeln bedeutet zwangsläufig, Fehler zu machen. Und wenn wir dabei Fehler begehen, kann uns dies helfen, voranzukommen und bestenfalls aus den Fehlern zu lernen. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass es wichtig ist, dabei immer zu wissen: Nichtstun ist eine aktive politische Haltung, sie bestärkt die aktuelle Tendenz. 

«Nichtstun ist eine aktive politische Haltung, sie bestärkt die aktuelle Tendenz.»

Simone Keller, Pianistin 

Bis wir alle frei sind

Oftmals werde ich für diese Aussagen belächelt oder ich werde belehrt, dass sich die Welt nicht so einfach verändern liesse. Brecht schreibt 1938 weiter:

Je mehr es sind, die leiden, desto natürlicher erscheinen ihre Leiden also. Wer will verhindern, dass die Fische im Meer nass werden?
Und die Leidenden selber teilen diese Härte gegen sich und lassen es an Güte fehlen sich selbst gegenüber.
Es ist furchtbar, dass der Mensch sich mit dem Bestehenden so leicht abfindet, nicht nur mit fremden Leiden, sondern auch mit seinen eigenen.

Das ist mir alles durchaus bewusst und ich könnte mir ja selber in all meinen Bemühungen für mehr Gerechtigkeit auch die völlige Sinnlosigkeit aus einer globalen Perspektive nachweisen, aber dennoch möchte ich dafür einstehen, dass wir uns immer wieder hinterfragen, was wir dazu beitragen können, um etwas zum Positiven zu verändern. 

Tun wir das, was wir für richtig und wichtig halten. Das tue ich als Teil der Gesellschaft, als Mensch und als Künstlerin, in meinem Alltag und in meinem künstlerischen Schaffen.

Der Kampf gegen Ungerechtigkeiten

Anja Nunyola Glover schreibt dazu: «Wir engagieren uns oft freiwillig, weil wir Gutes tun wollen. Weil wir davon überzeugt sind, Gutes tun zu müssen. In erster Linie ist der Grund jedoch der folgende: Weil wir uns dabei gut fühlen. Wir wollen gute Menschen sein und wollen auch, dass andere Menschen glauben, dass wir gute Menschen sind. Aber das reicht nicht. Veränderung geschieht erst dann, wenn wir eine Motivation haben, die uns selbst betrifft. Das ist nicht Egoismus. Vielmehr bedeutet es, dass jemand verstanden hat, dass Ungerechtigkeiten und unterdrückerische Systeme immer auch einem selbst schaden. Dass niemand inneren Frieden empfinden kann, solange es Ungerechtigkeit gibt. Denn keine:r von uns kann frei sein, solange wir nicht alle frei sind.»

 

Abschlusstanz des Projektes «Solos&Sights» 2022, das ich zusammen mit San Keller für die Internationale Bodensee-Konferenz IBK in Frauenfeld kuratiert habe. Bild: Leon Faust

 

Der gesamte Text von Anja Nunyola Glover kann im Buch «Hidden Heartache» nachgelesen werden. Soeben beim Verlag Jungle Books erschienen und hier erhältlich: 

Zitat aus Bertolt Brecht «Die Hoffnung der Welt» [BBG, S. 738]

 

 

Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» läuft!

Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist gestartet. Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:

 

  • Simone Keller, Pianistin
  • Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
  • Rahel Buschor, Tänzerin
  • Sarah Hugentobler, Videokünstlerin

Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.

 

Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

 

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

 

Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier

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