von János Stefan Buchwardt, 16.12.2021
Zwischen mürrisch und lind
Im jungen Caracol-Verlag aus Warth hat Jochen Kelter einen zweiten Gedichtband vorgelegt. Der inzwischen 75-Jährige bleibt sich treu: Wut und Trauer versus Hellhörigkeit und literarische Andacht. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Auch wenn Gedichte sich durchaus über ihren Solitärcharakter auszeichnen, Jochen Kelter greift wie viele andere Lyrikerinnen und Poeten vor ihm nicht zum ersten Mal zur zyklischen Anordnung: Zehn Abteilungen bergen jeweils sieben Gedichte, umrahmt von zwei Pandemie-Bezügen und einem mit «Letzte Sinfonie» übertitelten Abgesang.
Flankierend also fliesst aktuelle Corona-Bedrängnis ein. Relativierend schreit sie zum Himmel, dass Bedrohung und Zerstörung von Lebensgrundlagen parallel und auf Rekordniveau auch auf vielen anderen Gebieten geschieht: Verseuchung, Rodung, Leerfischung. Der Frühling des Jahres 2020 – der Alten «letztes frühes Jahr» – bedeute das Ende einer Generation: «ihr seid abgeräumt euer / Jahrhundert sagt good-bye».
Von Hinschied und Leben
Wo Kelter vom Bewachen der Eisengitter, die uns vom Leben und vom Tod trennen, spricht, weiss er Erschaudern hervorzurufen. Handkehrum und im Dialog mit einem Engel, womöglich Todesengel, erzählt er elegisch vom Weltall, «das uns sehend ein Leben zum Tod gibt».
Wo er stumpfsinnige Lösungsoptionen wie Vergeltung und Vergessen gegen Mozart-Klänge eintauscht und gleichwohl allgemeingültige Befremdung und Mutlosigkeit heraufbeschwört, gerät ihm das zum ungewollten Affront gegen innovatives Potenzial und Rückgrat-Zeigende unserer Zeit.
Biegsam gebeugt
Zu schillernd jedoch kommt der Lyriker Kelter in Gedankendurchdrungenheit und sprachlicher Virtuosität daher, als dass man ihn niedriger Altersgrimmigkeit bezichtigen könnte. Auch verfängt es nur bedingt, ihn kurzerhand in den Schrankfächern des ausdauernden Rebellen der 60er-Jahre verstauen zu wollen. Inspiriert vom nahenden Winter seines Lebens sind die bestimmbaren Bezugspunkte des roten Caracol-Bändchens von zerklüfteter Natur. Getragen von Defizitärem und mancherlei Enttäuschungen vereint sich Kummervolles mit Zugemülltem, Terror mit Geknicktem.
Dass ein (einst) unbiegsam politisch Empfindender nun gebeugt dasteht und Lebenssinn aus unbändiger Liaison mit erlesen lyrischen Modi schöpft, wird zum Phänomen einer literarisierten Psyche. Genau in solchem Wechselspiel vibrieren und interessieren die der Tradition verpflichteten Verse. Zeremoniell versetzen sie Kelters Selbst- und Weltschau mit von Nihilismus und Staunen durchtränkten Lebendigkeitsschüben.
Auf die Frage, wohin der Juni-Himmel einen durch den Sommer trägt, antwortet der Engel: «… hin zu deinem Vergehen / eines Nachttags das anders / sein wird als deine Herkunft / die du auch nie erfahren wirst».
Raffiniert reflektiert
In seinen lyrischen Ausprägungen läuft der stets einem libertären Sozialismus verbundene Intellektuelle mitunter zu Hochformen auf. Alles in allem versucht sein der vermeintlich zivilisierten Welt fremdgewordenes Ich couragiert die Spanne zwischen «traurig» und «heiter» abzuschreiten, kehrt aber auf halbem Weg um. Von Bipolarität kaum eine Spur: Kelter tendiert in überreifer Lebensepoche zum «… zu Tode betrübt».
Politische Resignation erreicht Kelter beispielsweise dort, wo er Rachsucht hinterfragt, Museen der Revolution besucht und seine Wurzellosigkeit im Angesicht von Faschisten und Investoren realisiert. Wenn es heisst «… nur wo wir / uns in den Wörtern löschen leben wir / vielleicht in den Worten weiter», setzt er auf diese, letztlich auch seine eklatante Besonderheit (des Menschen), mit komplexen Systemen der Kommunikation umgehen zu können. Ohne noch an deren Weiterentwicklung glauben zu wollen?
Literarischer Kniff
Ob Kriegsgeschehnisse, machtgierige Potentaten oder der Blick auf verflossene Freund- und Liebschaften, Kelters Kompositionsform bedient sich der Eigenheit, Satzzeichen – bis auf wenige Ausnahmen – auszulassen. Satzstrukturen werden so zum Rate-, Sinneinheiten nicht selten zum Assoziationsspiel.
Gleichmass mit Stolpersteinen, Verständlichkeit mit Rätseln zu pflastern, mag Respektgeste den Leserinnen und Lesern gegenüber sein. Deren geschätzte Eigenleistung bestünde darin, sich in Mehrdeutigkeiten selbst reflektieren und finden zu müssen.
Existenzielles Handwerk
Wer sich in ausgefeilt sprachlichen Gefilden über Visionen und Impressionen mit der Problematik des Seins abquälen mag, liegt bei Kelter richtig. Wer sich nicht scheut, dabei Metaphysisches, Schöngeistiges und Melancholisches zu streifen, um dann doch jählings in verblasste Agitprop-Bottiche getunkt zu werden, kommt auf seine Kosten. Der Pessimist liest Bestätigung heraus, die Optimistin folgert bestenfalls: aufwachen, sich positionieren und politisieren.
Da wo der Dichter Verlassenheit und Groll, Unmut und Sinnsuche mit literarischen Filtern domestiziert, beschönigt und mässigt er hin zur Salonfähigkeit. Etwa in naturlyrische Mäntelchen gekleidet oder zu Sprachtrouvaillen verwandelt, werden Gedankengänge aushaltbar. Der Homme des Lettres weiss Lebenswillen aufrechtzuhalten, indem er desillusionierende Tendenzen gezielt ästhetisch umspielt und in solchem Handwerk existenzielle Erfüllung findet.
Verblüffende Wehleidigkeit
Und immer wieder ist Erschütterung und Fatalismus in den Versen auszumachen: Kriegskrüppel vor den Trümmern ihrer selbst, deren Enkel stumpf nach Volkstum rufen (Anlass der Krüppel zu gedenken); Lebende, die in hellem Sarg der Gegenwart ausharren, Winter erwarten, um die Welt endlich ganz roh gezimmert sehen zu können (Roh gezimmert). Immer wieder brüllt und ziseliert Kelters Seele selbst, wenn er die Besäufnis-Orgien der Gegenwart, die Zerstörungswütereien derjenigen, die «Scheisse zu Gold» brüllen (Das Brüllen der Gorillas), an den Pranger stellt.
Auch in stilleren Zeilen drücken Willkür, Verbitterung und, wie die letzte Zeile des Gedichts «Leben im Traum» formuliert, die Gnade, nicht zu sein, durch. Einer, der «schon lang im Fegefeuer heimatlich» (aus: Dass nichts mehr ferner scheint) ist, der das Unablichtbare der Seele zum Leuchten bringen will (Persönliches Notat), den grossen Durchbruch als Literat aber dennoch nie geschafft hat. Warum? Weil er selbst den Tod als Egoisten entlarven zu können meint (Nahender Abstieg) und an der Geistlosigkeit der Gewinnler und Profiteure abprallt?
Drama der Knatschigkeit
Ausser Frage: Muffigkeit steht Fruchtbarkeit im Weg. – Ist Kelter denn, wie der Protagonist im buchtitelgebenden Gedicht «Zátopek», ein in Ungnade Gefallener, ein zwischen die Räder Geratener, nur weil er sich für die Revolution entschied? Ein Langstreckenläufer der Poesie, der wie der einstige tschechoslowakische Weltrekordhalter Emil Zátopek irgendwann einmal rehabilitiert werden müsste?
Nun: Ein mit menschlichem Versagen, mit Schlappen und Schuld, Versäumnissen und Hypotheken versiegelter Gedichtband wird es nicht leicht haben, Anerkennung und Gnade bei neuen Leserinnen und Lesern zu finden. – 1997 wurde Zátopek in Tschechien zum «Athleten des Jahrhunderts» gewählt. Er hörte stets nur auf sich selbst, heisst es, und zelebrierte seine Art zu laufen: schwergängig und schmerzverzerrt. Ob sich Kelter insgeheim auf des Läufers überlieferten Rat beruft, andere nur lachen zu lassen und sie auszulachen, sobald man selbst am Ziel ist?
Das Buch
Jochen Kelter: Im Grauschlaf stürzt Emil Zátopek. Gedichte. 120 Seiten. 12 × 20.5 cm
Juli 2021; Reihe: Caracol Lyrik, Band 4; 978-3-907296-11-0 20 CHF
Der Link zum Verlag: https://caracol-verlag.ch/books/im-grauschlaf-stuerzt-emil-zatopek/
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