von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 03.12.2020
Kunst oder Kitsch?
In Romanshorn kann man im neuen «House of Digital Art» Kunst-Ausstellungen digital und überdimensional erleben. Das wirft Fragen auf: Ist das die Zukunft für Museen? Und: Welchen Wert hat eigentlich noch das Original? (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Ausgerechnet im Thurgauer Corona-Hotspot Romanshorn eröffnet in diesen Tagen ein Ausstellungshaus, wie es der Kanton noch nicht gesehen hat: Das so genannte «House of Digital Art» macht im Kornhaus im Romanshorner Hafen am 4. Dezember erstmals seine Türen auf. Gezeigt werden darin digitale Kunstprojektionen auf Grossleinwänden.
Die BesucherInnen sollen in die Kunst eintauchen können. Die erste Show, Ausstellung kann man das ja nicht mehr nennen, trägt den Titel „Von Monet bis Kandinsky. Revolutionäre der Kunst“. Sie stammt von Oleg Marinins Unternehmen „Vision Multimedia Projects“, mit dem der Geschäftsmann weltweit ähnliche Museen mit Multimedia-Shows versorgt. „Die Projektionen wechseln von einer zur anderen, werden lebendig, bewegen sich im Rhythmus der Musik und ziehen den Betrachter mit einer Flut von Farben und Klängen in ihren Bann“, heisst es in einer Medienmitteilung der Veranstalter.
Spektakel und Unterhaltung. Aber ist das noch Kunst?
Spätestens jetzt wird klar, dass es bei dem Projekt nicht nur um Kunst, sondern auch um Spektakel und Unterhaltung am Rande des Kitsches gehen wird. Dazu passt: Die Eintrittspreise (18 Franken) liegen näher am Multiplex-Kino als an einem Museum. Initiator dieses Rummels ist Peter Schnückel, Inhaber der Kornhaus Romanshorn AG. Seit mehreren Jahren bemüht er sich darum, die Grossimmobilie am Romanshorner Hafen zu beleben. Nun soll der grosse Wurf gelingen.
„Das House of Digital Art soll die Destination für digitale Kunst in der Schweiz werden“, lässt sich Schnückel in einer Medienmitteilung zitieren. Mit thurgaukultur.ch reden möchte er nicht. Nachdem wir 2017 kritisch über sein Vorhaben berichtet hatten, lehnt er jeden Kontakt ab. Auch jetzt fordert er uns per Mail auf, „von einer Berichterstattung grundsätzlich abzusehen.“ Dass es so etwas wie Pressefreiheit gibt, scheint ihm entfallen.
Trailer: So sieht die erste Ausstellung in Romanshorn aus
Weltweit eröffnen derzeit digitale Museen
Egal. Das Thema ist zu gut, um nicht darüber zu schreiben. Schliesslich reiht sich das Romanshorner Vorhaben in eine ganze Reihe ähnlicher Projekte weltweit. Paris, Amsterdam, Tokio, Leipzig, Riga, Moskau - die Projektionskünstler sind längst rund um die Welt vertreten.
Manches davon ist sehr ähnlich (man vergleiche nur mal die Internetseiten des Romanshorner House of Digital Art mit jener des lettischen Digital Art House), anderes ragt heraus - wie das Amsterdamer Nxtmuseum zum Beispiel. Hier werden nicht nur Klassiker der Kunstgeschichte zu buntem Leben erweckt, sondern zeitgenössische Künstler zeigen, wie man das Konzept auch für aktuelle gesellschaftliche Fragen benutzen kann - und heben das Projekt so über ein reines Unterhaltungsformat hinaus.
Selbst in der Schweiz gab es schon zahlreiche Ausstellungen, die sich dieser Technik bedient haben. In Zürich und Solothurn zum Beispiel. In Basel widmet sich das Haus der elektronischen Künste (HeK) schon länger der digitalen Kultur und den neuen Kunstformen des Informationszeitalters. Und an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) gibt es den Immersive Arts Space, der schon seit Jahren die Schnittstelle von Kunst, Design und Technologie bearbeitet. Ganz so neu wie das Romanshorner House of Digital Art tut, ist das Konzept und die Idee dahinter also eher nicht.
Video: Illuminated Art, Solothurn
Im Bauch der Überwältigungs-Maschinen
Während es in Basel und Zürich durchaus wissenschaftlich zugeht, sind die meisten Wander-Projektions-Ausstellungen vor allem Überwältigungs-Maschinen. Der Rausch der Farben, die Klänge aus den exquisiten Soundsystemen, diese Projekte wollen im Sturm erobern. Sie sollen die BesucherInnen regelrecht und tief eintauchen lassen in das, was sie sehen und so neue Perspektiven auf Kunst ermöglichen.
Immersiv lautet das Stichwort in diesem Zusammenhang. Ein Begriff, der aus der Gaming-Szene kommt und eine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist. Er beschreibt den Effekt, den virtuelle oder fiktionale Welten auf den Betrachter haben: Die Wahrnehmung in der realen Welt vermindert sich und der Betrachter identifiziert sich zunehmend mit der fiktiven Welt, er taucht sozusagen komplett in die Scheinwelt ein.
Die grosse Chance für die Kulturvermittlung
Für die Kultur- und Kunstvermittlung ist das eine grosse Chance. Weil sie auf diese Weise ein emotionales Erlebnis schaffen kann, an das sich die BesucherInnen auch Jahre danach noch erinnern werden. Es ist auch deshalb ein so verlockendes Instrument, weil es Zugänge in die Kunst schafft für Menschen, die vielleicht nicht unbedingt regelmässig ein Museum besuchen. Und weil so eine Wissensvermittlung möglich wird, die den Sehgewohnheiten des 21. Jahrhunderts mehr entspricht als eine klassische Ausstellungsarchitektur.
Damit das gelingt, müssten die digitalen Ausstellungen allerdings über das Spektakel hinausgehen. Sie müssten das Event-Entertainment mit Inhalten anreichern. Oder konkreter gesprochen: Sie müssten neben der bequemen Farbberieselung, zusätzliche Wege anbieten, um tiefer in die, in der Kunst angesprocheneren Themen einsteigen zu können.
Die oft auch umstrittenen Panorama-Türme des Künstlers Yodegar Asisi sind da ein gutes Beispiel. Auch seine 360-Grad-Bilder sind Überwältigungsmaschinen, aber alle Panoramen werden immer ergänzt mit klassischen Ausstellungen, die das Gesehene einordnen und vertiefen.
Welchen Wert hat das Original überhaupt noch?
Und obwohl oder gerade weil diese Technik ein so mächtiges Instrument für die Vermittlung von Kunst und Kultur sein kann, sollte man sehr gut überlegen, wie man sie einsetzt.
Denn: Viele Fragen dazu sind noch vollkommen ungeklärt. Ist das überhaupt noch Kunst, wenn nicht das Original, sondern nur eine digitale Kopie gezeigt wird?
Spoiler: Das ist wohl zur akademischen Fragen geworden. Für die meisten BesucherInnen dürfte es kaum einen Unterschied machen, ob sie einen Munch, einen Van Gogh in echt oder in einer Vervielfältigung sehen. Gesellschaftlich stellt sich trotzdem eine weitere Frage: Welchen Wert hat das Original im jederzeit Copy-and-Paste bereiten 21. Jahrhundert überhaupt noch?
Wer sammelt künftig noch unser kulturelles Erbe?
Was bedeutet es für die Kunst, wenn die Vermarktbarkeit auf hochauflösenden Grossleinwänden ein Kriterium wird? Machen dann alle nur noch grelle und schrille Kunst?
Welche Konsequenzen hat das für die Museen? Wenn es keine Rolle mehr spielt, ob man das Original zeigt oder eine Kopie - wer sammelt und untersucht dann noch unser kulturelles Erbe?
Und was macht es mit den Sehgewohnheiten von uns allen, wenn wir zunehmend von bombastischen Farb- und Tonspektakeln überwältigt werden? Werden wir den Sinn für echte Kunst verlieren? Werden wir uns enttäuscht von der kleinen Mona Lisa im Louvre abwenden und nach Grossaufnahmen mit Tonspur von ihr verlangen?
Ohne Inhalte wird der Pomp zu leerem Marketing
Bitte nicht falsch verstehen: Es ist absolut richtig, nach neuen Wegen der Kulturvermittlung zu suchen. Es ist wichtig, neue Zugänge für das Publikum des 21. Jahrhunderts zu schaffen. Ein Museum, das keiner besucht, ist ja auch von überschaubarem Wert. Es ist also absolut richtig, digitale Techniken da einzusetzen, wo sie Sinn ergeben und unsere Wahrnehmung erweitern können.
Aber: Wem es ernst ist mit dem Vermittlungsgedanken, der muss neben den Pomp auch die Inhalte stellen. Ansonsten bleibt alles leeres Marketing.
Was man in Romanshorn verstanden hat
In Romanshorn scheint man zumindest das verstanden zu haben. Eine der nächsten Ausstellungen dort soll ab Ende März 2021 lauten: „Kornhaus Romanshorn - Gestern und morgen.“ Für diese Ausstellung wurden historische Bilder und schriftliches Material über das Kornhaus und die Hafenstadt Romanshorn digitalisiert. Sie sollen, so die Veranstalter auf ihrer Website, „in einer spannenden Inszenierung mit den Phasen des Wiederaufbaus mit facettenreichen Gebäudedetails kontrastiert“ werden.
Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte vor Ort statt beliebiges Tournee-Spektakel: Wenn das so weitergeht, könnte das House of Digital Art ein echter Gewinn für Stadt und Region werden.
Öffnungszeiten & Ticketpreise
Geöffnet: Das House of Digital Art (Friedrichshafnerstrasse 54, Romanshorn) ist zunächst bis zum 31. März 2021 jeweils Sonntag bis Mittwoch von 10 bis 20 Uhr und von Donnerstag bis Samstag von 10 bis 21 Uhr geöffnet. Die Ausstellung ist geschlossen am 24. und 25. Dezember 2020. In den Ausstellungen besteht Maskenpflicht.
Ticketpreise: Einzel-Ticket (ab 16 Jahre) 18 Franken, Familien-Ticket 40 Franken (Eltern und eigene Kinder unter 15 Jahre) Kinder- & Schülerticket 10 Franken (7-15 Jahre) Kinder unter 7 Jahre gratis Tickets können online unter www.house-of-digital-art.ch oder www.kornhaus-romanshorn.ch oder an der Tageskasse gekauft werden.
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