von Stefan Böker, 12.06.2024
„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist!“
Etwas mehr als 40 Jahre ist es her, da haben Menschen aus Frauenfeld und Umgebung den Grundstein fürs Eisenwerk gelegt. Ein vierteiliger Podcast erzählt im Jubiläumsjahr die Entstehungsgeschichte. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Freudige Gesichter nach der Generalprobe: Die fünf Interviewten und Moderatorin Lumi Probst durften ihren fertigen Podcast am Montag als Erste hören. Die Versammlung fand in der Beiz des Eisenwerks statt. An der Wand hängen Bilder aus der Anfangszeit. Darauf kann man auch die Beteiligten entdecken. Fotos, die Charme versprühen und die damalige Aufbruchstimmung vermitteln – ein passender Rahmen also für die Präsentation. Die Stimmung war erwartungsvoll.
«Mich fasziniert, wenn junge Leute etwas aus dem Boden stampfen, sich Platz und Raum schaffen, um miteinander zu leben, Zeit zu verbringen und kreativ zu sein – ein Ort für Gemeinschaft halt.»
Lumi Probst, Schauspielerin und Moderatorin des Podcast (Bild: Eric Scherrer)
«Was ihr jetzt hören werdet, ist das Kondensat aus sechs Stunden Audio», informierte Markus Keller vor dem Start. «Plus Nachaufnahmen.» Der bekannte Theatermann, Musiker und Produzent hat aus umfangreichem Material einen 27-minütigen Podcast destilliert. Sein Ziel war es, das Gemeinsame dieser individuellen Erinnerungen an die Oberfläche zu bringen, die Intensität des Erlebten spürbar zu machen und als Ganzes hörbar.
«So divers wie die Geschichten, so divers tönt es auch», kündigte er an. Eine schöne Klammer zur Gegenwart stellt die Moderation der jungen Schauspielerin Lumi Probst dar, die heute im Eisenwerk probt und dort mit dem Jungen Theater Thurgau auftritt. «Darum hat es mich interessiert, wie das alles angefangen hat, damals vor 40 Jahren», sagt sie.
Das erste Lächeln erscheint auf den Gesichtern am Tisch, als sie den Soundtrack zum Podcast hören, der von Jürgen Waidele stammt. «All I have to do, is relax myself, life can be so cool», singt der dem Eisenwerk von Anfang an sehr verbundene Konstanzer Musiker.
Die «Blaue Amsel» war der Vorläufer
Der Podcast zum Jubiläumsjahr der Genossenschaft Eisenwerk entführt Hörerinnen und Hörer in eine bewegte Zeit. Es ist die Zeit der Jugendunruhen in Zürich. Nicht nur in den Metropolen, auch auf dem Land rumpelte es. Man sprach vom «Frauenfelder Frühling», ein Zusammenschluss von Musikern, Theaterleuten, Freigeistern, die von der Party bis zum Flohmarkt einiges auf die Beine stellten.
In Frauenfeld entstand anfangs der 80er das erste «andere» Lokal, die «Blaue Amsel», so etwas wie ein gratis Jugendhaus, das erste Genossenschafts-Lokal, mit einem Raum ohne Konsumationszwang, in dem sich die alternative Szene traf. Vieles, was heute aus Frauenfeld nicht mehr wegzudenken ist, wie das Eisenwerk, fand dort seinen Anfang.
Hier formierte sich zudem in langen Nächten die links-grüne Gruppierung «CH – Chrampfe & Hirne», die, so wird es im Podcast erzählt, Bewegung brachte in eine doch sehr konservative Stadt. Und die eine wichtige Rolle in der Entstehung des Eisenwerks spielte.
«Uns wurde nichts einfach so von der Stadt zur Verfügung gestellt, wir mussten uns alles quasi abtrotzen»
Marius Sax, Gründungsmitglied des Eisenwerk
Als die «Amsel» 1983 zuging, musste Ersatz her. Viel Örtlichkeiten (oder Geld) für Veranstaltungen abseits des Mainstreams gab es nicht. «Wir wollten Räume für unsere Musik, unsere Kultur, unser Theater», fasst Gründungsmitglied Peter Hausammann die zurückliegenden Kämpfe einer jungen Truppe zusammen. Er war damals 28 Jahre alt, die erste Aktuarin, Kathrin Wenger, war Anfang 20, ebenso Kassier Stefan Guhl.
Eine visionäre Idee
Dass es möglich sein könnte, eine abrissgefährdete Schraubenfabrik zu kaufen, für 1,7 Millionen Franken – diese Idee tönte in vielen Ohren wie eine ewas zu grosse Nummer, selbst für Enthusiasten.
Res Stauffer, CH-Mitglied der ersten Stunde, 1983 frisch in den Gemeinderat gewählt und von Beruf Angestellter beim Kanton, war jedoch einer, der das Ganze nüchtern anging – und neben Zugang zu den Jungen auch Connections ins Establishment besass. «Ich wusste, wen fragen und wo mer cha go gosle», erinnert er sich.
Wichtige Rollen spielten auch Menschen, die heute nicht mehr zu Wort kommen können. Wie Hans Bissegger. «Habi» habe Leute mit unterschiedlichen Ideen an einen Tisch gebracht, grösser gedacht als die meisten, einen anderen Blickwinkel gehabt, ja sozusagen die Fäden in der Hand gehabt, und: «Ohne ihn gäbe es das Eisenwerk heute nicht», so erzählen es die am Podcast Beteiligten. Und solche Visionen trafen auf fruchtbaren Boden.
«Wir wollten etwas Konkretes realisieren und waren bereit, uns dafür wirklich zu engagieren – nicht nur zu konsumieren.»
Stefan Gubler, Gründungsmitglied des Eisenwerk
Die Begeisterung, an der Entstehung eines Kulturzentrum teilzuhaben, übertrug sich auf andere. Kathrin Wenger erinnert sich: «Mich hat die Idee sehr fasziniert: Arbeiten, Wohnen und Freizeit mit Kulturmöglichkeiten zu kombinieren, Ausstellungen im Shed zu besuchen, ins Theater zu gehen und Konzerten zu besuchen.»
Nach langen Diskussionen und Abklärungen wurde dieser Traum greifbar, was auch am Goodwill des Besitzers der Schraubenfabrik lag. Ihm gefiel das Konzept der jungen Leute. Am 8. Juni 1984 wurde der Kauf des Eisenwerks durch die Genossenschaft besiegelt.
Erneutes Schmunzeln rufen die Erinnerungen an die Finanzierung herbei. Für den Kauf von Genossenschaftsscheinen weibelten die Gründer überall, vor allem bei Freunden und Verwandtschaft. Unterstützung gab es von Bund, Kanton und Stadt. Und letztlich auch den Kredit von der Bank, von der Kantonalbank, nachdem die Bankgesellschaft einen Rückzieher gemacht hat.
«Der damalige Stadtammann hatte das Gefühl, wir machen eine Kommune auf und weiss der Teufel noch, was für verrückte Geschichten er sich ausgemalt hat»
Kathrin Wenger, Gründungsmitglied des Eisenwerk
Mit dem Kauf ging es richtig los
Was dann folgte, war ein Erfolg. Erst eine provisorische Beiz, in der alles stattfand, zum Beispiel ein legendäres Konzerte mit Jürgen Waidele, aber auch Theater, Vorträge, Wahlveranstaltungen. Ein Bedürfnis für die Jugend Frauenfelds war erfüllt, an der langen Bar wurde oft bis in die Morgenstunden gefeiert. Mit ganz viel Freiwilligenarbeit wurde nach und nach umgebaut. Und auch Mieter fanden die Gründer. Der Rest ist Geschichte und wird wohl in den kommenden drei Teilen erzählt.
Im ersten Teil des Podcasts ist zu hören, Hans Bissegger habe den Spruch geprägt: «Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.» Dieser macht klar: Für die beteiligten Gründungsmitglieder ist es ein kleines Wunder, dass das, was sie vor 40 Jahren auf den Weg schickten, heute noch existiert und grosse Anziehungskraft besitzt. Und darauf können sie stolz sein.
Jetzt reinhören
Der 27-minütige Podcast zur Entstehung des Eisenwerkts ist auf der Homepage des Eisenwerks zu hören.
Von Stefan Böker
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