von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 12.07.2022
Vor uns die Sintflut
Warum lernen wir so wenig aus Katastrophen? Oliver Kühns „theater jetzt“ erinnert an die Jahrhundert-Überschwemmungen aus dem Sommer 1987. Zu sehen ab 15. Juli in Graubünden. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Als vor ziemlich genau einem Jahr Täler und Städte in Deutschland absoffen und hunderte Menschen in den Fluten starben, da hat man auch aus dem kleinen Städtchen Poschiavo im südlichen Graubünden sehr besorgt und mitfühlend zugeschaut. Denn hier wissen sie wie das ist, wenn die eigene Stadt, das eigene Leben von Wassermassen hinweggerissen wird.
Am 18. Juli 1987 treten Bäche und Flüsse über die Ufer und Murgänge lösen sich. Um 22 Uhr bricht das an der Brücke am oberen Dorfeingang von Poschiavo gestaute Wasser und Geröll durch, verlässt das Bachbett und fliesst in vier neuen Flussarmen durch die Gassen von Poschiavo.
Das Dorf verwandelt sich in einen reissenden Fluss, der grosse Mengen an Geröll mit sich führt (der Schlussbericht des Hilfskomitees Unwetterschäden Graubünden zeigt Fotos, ebenso hier).
Video: Überschwemmungen in Poschiavo im Juli 1987
Zahlreiche Menschen müssen mit Helikoptern evakuiert werden. Zwei Menschen sterben. Fundamente der Häuser werden unterspült und ganze Ecken mitgerissen. Strassen sind zerstört, überall liegen Trümmer herum und viele Hauswände und Fundamente sind beschädigt. SRF-Videos zeigen noch heute das Ausmass der Verwüstung.
35 Jahre nach diesen verheerenden Ereignissen, nimmt sich das Sirnacher „theater jetzt“ von Oliver Kühn dieses Themas an - und inszeniert vor Ort ein deutsch-italienisches Musiktheater. Es heisst „Fenice.Poschiavo“ und feiert am Freitag, 15. Juli, Premiere im 3400-Einwohner-Dorf Poschiavo, rund 15 Kilometer südlich des Berninapasses.
Nix gelernt aus der Katastrophe?
„Mich hat an dem Thema vor allem die Frage interessiert, wie wir mit Krisen umgehen“, sagt Projektleiter Oliver Kühn. Solche Katastrophen wie die Überschwemmungen könnten, so Kühn, Momente der Umkehr sein, sich noch mal zu besinnen, ob der bisherige Weg der richtige sein kann.
„Die Tatsache, dass es diese Überschwemmungen gab, wir aber nicht entschieden genug die Ursachen bekämpft haben, zeigt mir, dass wir offenbar nicht so viel aus all den tragischen Ereignissen gelernt haben“, findet Oliver Kühn.
Video: Der Schweizer Katastrophensommer 1987
Die Fluten in Graubünden sind 1987 nur ein Zeichen in der Schweiz, dass da etwas in Bewegung ist. Eine Naturkatastrophe reihte sich in jenem Sommer an die nächste.
„Den Auftakt machte Lauterbrunnen im Berner Oberland. Am 28. Juni rutschte dort nach anhaltendem Regen eine halbe Million Kubikmeter Erde in Richtung Tal. In der ersten Juliwoche verschüttete ein Erdrutsch in Oberburg bei Burgdorf zwei Personen, das Ortszentrum wurde metertief überflutet.
In der Innerschweiz stürzte zur selben Zeit rund um den Rigi Erde und Geröll ab. Bei Davos zerstörten ausgebrochene Bäche Teile der Kantonsstrasse und Geleise der Rhätischen Bahn. Vom 17. zum 19. Juli regnete es 30 Stunden durchgehend. Im Bündnerland und im Tessin wurden mehrere Täler und Dörfer von der Umwelt abgeschnitten“, fasst die NZZ zusammen.
Podcast: Poschiavo unter Schutt und Wasser
Schon 1991 weist eine Studie auf Zusammenhang zu Klimaerwärmung hin
Insgesamt sterben neun Menschen, der Sachschaden wird auf bis zu 1,3 Milliarden Franken geschätzt. Die Politik reagiert darauf und will es genauer wissen - eine Studie soll die Gründe dieses Katastrophensommers beleuchten.
Das Ergebnis: Die Autor:innen kommen zu dem Schluss, dass vergleichbare Hochwasser sich häufen könnten. Sicher sei zudem, dass eine Klimaerwärmung um 2 bis 3 Grad die Natur bedeutend umgestalten werde: „Die Veränderungen werden weitgehend irreversibel sein.“
Im Mai 1991 erscheint diese Studie (sie ist hier nachlesbar) und trotzdem sind wir heute kaum weiter. Wie das passieren konnte, hat Elia Blülle in seinem Text „Das verlorene Jahrzehnt: Wie die Schweizer Klimapolitik durchstartete - und abstürzte“ für das Magazin Republik lesenswert nachgezeichnet.
Video: Mit Vollgas in die Klimakatastrophe (SRF 1990)
Worum es in dem Stück geht
Zurück in Poschiavo bei Oliver Kühn. Wenige Tage vor der Premiere zeigt sich der Theatermacher zuversichtlich: „Die Proben laufen gut, es fühlt sich gut an“, sagt er im Gespräch mit thurgaukultur.ch.
Die Geschichte, die er in seinem Stück erzählen will geht so: Genau 35 Jahre nach der Flut kommen fünf Zeitreisende in das Tal zurück. „Sie haben schon alle Katastrophen der Menschheitsgeschichte gesehen und bringen manchmal die Zeiten etwas durcheinander. Aber sie vermuten: Eine Katastrophe ist genau das, was mensch daraus macht“, erzählt Kühn.
„Die ständige Panikmache hat mich wirklich genervt an der Pandemie.“
Oliver Kühn, Projektleiter
Bezüge zu anderen gesellschaftlichen Krisen sind da durchaus beabsichtigt. Das Stück ist während der Pandemie entstanden, Kühn sieht hier im Umgang mit Krisenmomenten Parallelen.
„Die ständige Panikmache hat mich wirklich genervt an der Pandemie. Wir sollten vielmehr darüber reden, dass in Krisen auch Chancen stecken. Für mein Gefühl haben wir während Covid zu wenig über Hoffnung, Resilienz und Neustart gesprochen.“ Das gelte im Übrigen für den Umgang mit jedweder Krise, findet Kühn.
Für das Stück hat er selbst intensiv recherchiert - in Archiven, aber auch am Ort der Katastrophe. „Wir haben überlegt, wer kann uns was darüber erzählen und dann haben wir viel mit den Menschen hier gesprochen“, sagt Kühn. Die Betroffenheit über das, was damals geschehen sei, sei immer noch gross im Ort, jedes Jahr werde an die Ereignisse erinnert und der Opfer gedacht.
„Fenice.Poschiavo“ (insgesamt 12 Aufführungen ab 15. Juli, Tickets gibt es hier) ist für ihn auch nicht die erste deutsch-italienische Produktion. Es ist bereits das vierte Projekt, das er im Bündnerland realisiert. „Poschiavo ist inzwischen ein Teil der theater-jetzt-Geschichte geworden“, sagt Kühn.
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