von Judith Schuck, 06.10.2022
Raus aus der Psychiatrie, rein in die Gesellschaft
Seit 5 Jahren ist das Offene Atelier der Stiftung Mansio in Kreuzlingen. Ein Ort zum Austausch und künstlerischen Schaffens. (Lesezeit: ca. 4 Minuten)
Gegenüber vom Kreuzlinger Hochhaus, in der Hauptstrasse 22, sitzt fast immer jemand draussen am Tisch vor dem Schaufenster. Hier lässt es sich gut „höckele“, ob für eine Zigarettenpause oder einfach, um den Verkehr, die vorbeilaufenden Leute, die zwischen Kreuzlingen und Konstanz pendeln, zu beobachten. Es gibt Menschen, die sitzen hier fast jeden Tag, für eine kreative Pause.
Aus dem Schaufenster heraus glubschen einen Wachsmasken an. Recht prominente Wachsmasken, denn sie waren Teil der Requisite im Film „Das Narrenschiff“ von Javier Téllez. Der venezolanische Regisseur drehte den Kurzfilm dieses Jahr im Auftrag des Kunstmuseums Thurgau, wo er aktuell im Rahmen einer Ausstellung zu sehen ist.
Einige Leute, die gerne auf dieser Bank „höckelen“, spielten beim Film mit, denn er wurde in Kooperation mit dem Offenen Atelier von der Stiftung Mansio in Kreuzlingen gedreht, dem Ort, zu dem diese Bank gehört.
Arbeitsraum wird Ausstellungsraum
Am 22. September, einem sonnigen Herbsttag, feierte das Offene Atelier sein 5-jähriges Bestehen. Auch an diesem Tag ist die Bank in wechselnder Besetzung gefüllt. Der grosse Atelierraum, in dem sonst die Arbeitstische stehen, ist freigeräumt. An den Wänden hängen die Werke der Kunstschaffenden und auch im Garten sind grossformatige Bilder auf Staffeleien ausgestellt.
In der Küche gibt es ein Buffet mit Getränken und Selbstgebackenen, die Gäste verteilen sich bei fröhlicher Stimmung über die Räume und nach draussen. Lenka Roth, Kunsttherapeutin, leitet das Atelier gemeinsam mit Ergotherapeut Andreas Göldi. Sie hat heute viel zu tun: Begrüssungen, Glückwünsche und Gschenkli entgegennehmen, schauen, dass alles läuft.
„In der Psychiatrie in Münsterlingen gab es schon immer ein offenes Atelier“, erklärt sie. Als Kunsttherapeut Thomas Meng dort auszog, setzt sich der ehemalige Klinikdirektor Karl Studer und der Verein für Sozialpsychiatrie dafür ein, dass Atelier zu erhalten. „Nach einem Jahr übernahm dann die Stiftung Mansio“, wodurch mehr Inhalt reingekommen sei, so Lenka Roth, die für die Stiftung arbeitet. „Dann haben wir gesagt: ,Raus aus der Psychiatrie, rein in die Gesellschaft´“.
Jede:r ist eingeladen zur Kunst
Das Offene Atelier in Kreuzlingen wurde geschaffen, um Menschen mit einer psychischen Erkrankung eine Tagesstruktur zu bieten. Wie der Name sagt, ist es offen, jede:r ist willkommen, sich künstlerisch zu betätigen. Menschen mit einer IV-Rente bekommen das Angebot gezahlt, es richtet sich aber ebenso an Selbstzahler. Die Idee sei es, günstig zu bleiben und jedem den Zugang zum künstlerischen Schaffen zu ermöglichen. „Wichtig für uns ist, dass es ein Ort ist, an dem Austausch und Begegnungen stattfinden“, sagt Lenka Roth, „wo Randgruppen und Stigmatisierungen aufgelöst werden können.“
„Wichtig für uns ist, dass es ein Ort ist, an dem Austausch und Begegnungen stattfinden“
Lenka Roth
Einen ähnlichen Ort gibt es noch mal in Kreuzlingen, das Open Place. Es ist an die Evangelische Kirche Kurzrickenbach angegliedert. Immer wieder finden Kooperationen zwischen den beiden Sozialprojekten statt, „unsere gemeinsame Ebene im Offenen Atelier ist aber die Kunst“, erläutert die Kunsttherapeutin die unterschiedlichen Schwerpunkte. Als im Sommer die Küche im Open Place eingeweiht wurde, kamen die beiden Institutionen zuletzt zusammen, denn die Kücheneinweihung ging mit einer Vernissage rund ums Thema Essen einher.
Lebenskreise aus Lebensmittelfarbe
Marcel Horni, der im Offenen Atelier seinen Platz gefunden hat, wirkte am Kunstworkshop mit. An der Jubiläumsausstellung im Offenen Atelier zeigte er eine Serie aus bunten Kreisen. „Ich nenne sie Lebenskreise“, sagt er. Sie erinnerten ihn an Schallplatten. Horni mag Hip Hop und auch Vinyl. Es findet sich zudem eine Ähnlichkeit zu Baumringen, nur, dass seine Ringe bunt sind.
„Die Farbigkeit steht für die verschiedenen Lebensabschnitte“, erklärt der Künstler. Einen der Lebenskreise habe er für das „Kochen – Kunst – Gemeinschaft“-Projekt im Open Place gemalt. „Mit der Zunge und Lebensmittelfarbe.“ Dabei legte er das zu bemalende Blatt auf eine rotierende Töpferscheibe und brachte so mit bunter Zunge die Kreise aufs Papier.
Zur Kunst kam Marcel Horni durch seine ehemalige Partnerin. Bevor er seine Kunst nach Kreuzlingen brachte, arbeitete Horni in Salenstein in einer Zwischennutzung. Am Offenen Atelier gefällt ihm, dass er viel ausprobieren kann: Schablonen für Street-Art, Siebdruck, auch im Digitalen fühlt er sich wohl. Unter seinen Lebenskreisen laufen auf einem Tablett unter anderem das Video, wie der Lebensmittelfarben-Lebenskreis entstand.
Graffiti zum Anziehen
Seine Base-Cap und sein weiter Sweater sind bestickt. Von ihm, mit einer Stickmaschine. Ebenfalls eine seiner vielfältigen künstlerischen Techniken. Als ein Basler Graffiti-Maler, den er sehr schätzte, aufhörte, Kleider zu besticken, kaufte er sich einfach selbst eine Stickmaschine. Nun kreiert er unter „MarcelowArt“ selbst diese Schriftzüge im Graffiti-Style.
Marcel Horni arbeitet viel mit Adaptionen, der Street-Art-Künstler Bansky gehört zu seinen Vorbildern. Der Wasserwerfer ist ein Schablonenmotiv von Horni, ein junger Mann, der eine Wasserbombe wirft. Dieses Motiv hat er schon im öffentlichen Raum gesprüht, um beispielsweise auf Häuserleerstand und die Möglichkeit zur Zwischennutzung hinzuweisen. An der Street-Art gefällt ihm, dass sie mitten in der Gesellschaft und gratis ist.
Ohne Konkurrenz
Marcel Horni lebt in Berlingen und leidet unter psychischen Problemen. Lange lief er auf dem Weg zum Arzt am Offenen Atelier vorbei, bis er im Januar 2022 den ersten Schritt rein wagte. „Die künstlerische Auseinandersetzung lenkt mich von meinen Problemen ab." Am Offenen Atelier schätzt er ausserdem den Austausch mit den anderen. Es gibt keinen Konkurrenzkampf, jeder kann machen, was er möchte, sich dafür Tipps holen. „Mir gefallen die vielen Möglichkeiten hier.“ Einzig schade findet er, dass er es erst so spät entdeckt hat, obwohl er so lange schon dran vorbei lief.
„MarcelowArt“ ist nur ein Beispiel für Menschen, die im Offenen Atelier ihren Platz und ihre Struktur gefunden haben. Nikolaus Gabini aus Altnau ist schon von Anfang an dabei. Er war bereits in Münsterlingen im Offenen Atelier, „im Haus F.“ Auch er kam vor langer Zeit über eine Partnerin zur Kunst. „Sie hat mir ein Blatt Papier gegeben und Farbstifte und gesagt: ,Du bist jetzt freischaffender Künstler´.“
Familienporträt für die Stadträtin
Schon als er noch stationär in der Psychiatrie war, malte er jeden Tag. Porträts, Landschaften, nach Familienfotos. Kürzlich erst habe Dorena Raggenbass, scheidende Kultur-Stadträtin von Kreuzlingen, ein Porträt mit ihr und ihrer Tochter in Auftrag gegeben. „Das hängt jetzt bei Frau Raggenbass“, sagt Nikolaus Gabbini, dessen Markenzeichen seine dunkelblaue Franzosenmütze ist.
Wirklichkeit und Fiktion fliessen ineinander
Berglandschaften mit rauschenden Flüssen und bunten Vögeln – seine Sujets entdeckt er irgendwo, Bilder im Internet, auf Fotos, adaptiert sie und dichtet noch dazu. Auf einem grossformatigen Bild, das am Jubiläum im Garten aufgestellt ist, sitzt am rechten Rand eine Meerjungfrau. „Sie ist eine Erinnerung an die Lädine.“ Nik spielte beim Film „Das Narrenschiff“ mit und verbrachte während dem Dreh viel Zeit auf dem mittelalterlichen Lastenschiff.
Gabbini arbeitet jeden Tag von 8.30 bis 14 Uhr im Atelier. Die Kunst ist sein Leben. Immer wieder mal stellt er seine Werke aus, farbenfrohe, fantasievolle Bilder, Gouache auf Leinwand. Er besucht den Porträtkurs bei Lenka Roth, ansonsten malt der Künstler frei. Das Offene Atelier bedeutet für ihn Freiheit: „Die Bilder und hier mit den Leuten reden, das ist meine Freiheit.“
Von Judith Schuck
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