von Judith Schuck, 18.12.2023
Quasimodo – neu interpretiert

In seinem diesjährigen Wintertheater inszeniert Florian Rexer «Der Glöckner von Notre Dame». Das farbenfrohe Spektakel stellt die tiefgehende Frage: Was ist Freiheit? (Lesedauer:ca. 4 Minuten)
Im Original von Victor Hugo stecken so viele Einzelgeschichten, dass das Buch von 1831 Stoff für vielerlei Umsetzungen gab. Hugo betitelte sein Werk auch als «Notre Dame de Paris», dem Ort, an dem sich diese zahlreichen Binnengeschichten abspielen. Regisseur Florian Rexer übersetzte für seine Inszenierung von «Der Glöckner von Notre Dame» Teile des Inhalts in die Jetztzeit, schliesslich hat sich die Gesellschaft innerhalb der bald 200 Jahre seit Entstehung des Romans stark verändert.
Nach «P. Pan» und «Oli Twist» geht es in seinem diesjährigen Stück fürs Wintertheater um grosse Gefühle. Der bisweilen beklemmende und düstere Gehalt bekommt durch Rexers Inszenierung etwas Lebensbejahendes, oft Heiteres und auf jeden Fall Hoffungsvolles.
Wie in der literarischen Vorlage beginnt die Vorstellung mit einer Massenszene: Strassenkinder kommen zusammen in Vorfreude auf das alljährliche Narrenfest, bei dem sie in karnevalesker Manier die Machtverhältnisse für einmal umkehren können. Im Original spielt der Stoff im Spätmittelalter, wo diese fasnächtliche Tradition ein wichtiges gesellschaftliches Ventil war, um sich von den starren Zügel der Obrigkeit zu lösen.
Video: Einblick in die Probenarbeit
Heiterkeit der Strassenkinder wird jäh unterbrochen
Das schöne Roma-Mädchen Esmeralda singt mit den Kindern ein Lied, in dem sie alle ihre Herzenwünsche äussern dürfen, auf die sie sich am meisten freuen am Fest. Einige der bescheidenen Träume lassen das Publikum auflachen – die kleinsten Wünsche sind doch oft die schönsten: «Schnitzel mit Nudeln – these are few of my favourite things», singt Esmeralda, gespielt von der Schauspielerin Anja Brühlmann, mit glockenklarer Stimme.
Die Freude wird schnell getrübt durch Wachleute, welche die Kinder auf die Pariser Ausgangsperre hinweisen. Zunächst glauben sie, es wäre die Polizei, doch der Richter Claude Frollo sagt: «Wir sind etwas viel Schlimmeres als die Polizei.» In der literarischen Vorlage ist Frollo nicht Richter, sondern ein der bösen Hexerei verdächtigter Priester. Er nahm das verunstaltete Findelkind, das er Quasimodo nannte, in seiner Kirche, der Kathedrale von Notre Dame, auf, und bildete ihn zum Glöckner aus.
Die Kirche ist nicht die ganze Welt
Bei Florian Rexer ist Claude Frollo in Wirklichkeit der leibliche Vater von Quasimodo, der ihn ähnlich wie Kaspar Hauser versteckt vor der Öffentlichkeit in den Kirchtürmen aufwachsen lässt. Dabei kümmert sich die Nonne Jeanne, gespielt von Deborah Loosli, wie eine Mutter um den Jungen. Beide erzählen ihm sein Leben lang, dass der Kirchturm die ganze Welt sei. Doch ab einem bestimmtem Punkt in seinem Leben, beginnt Quasimodo das in Frage zu stellen.
Wie in der Verfilmung von Wallace Worsley aus dem Jahre 1923 spielen in Rexers Inszenierung die Gargoyle eine wesentliche Rolle. Die Einsamkeit Quasimodos lässt die steinernen Wasserspeier zum Leben erwecken, oft sind sie die einzigen Wesen, mit denen er sich in seiner Fantasie austauschen kann – doch auch sie versteht er eines Tages nicht mehr. Sie sind ihm nicht mehr genug.
Bedrohliche Bauwerke als Zeichen der erdrückenden Macht
Das Bühnenbild besteht aus zwei Holzkonstruktionen, die dem Dachstuhl der Kirche nachempfunden sind. Der Brand in Notre Dame 2019 brachte Florian Rexer zum Stoff. 2024 sollen die Renovationsarbeiten in Paris soweit abgeschlossen sein, im Grunde ist das Thurgauer Theater also fast ein Einweihungsstück.
Im Dachboden von Notre Dame sei viel neues Holz verarbeitet worden – darauf nimmt das Bühnenbild, das von Kirchenerprobten Zimmermännern erbaut wurde, Bezug. «Notre Dame hat etwas Bedrohliches, wie die meisten Bauwerke in Paris. Sie sollen das Volk klein halten», sagt Florian Rexer. Zu den zwei Glockentürmen kommt eine Videoprojektion, die neben der Glocke auch eines der berühmten Fenster der Kathedrale zeigt.
Gefangen im Jenseits
Eingesperrt in den mächtigen Türmen, verwehren die bunten Glasmalereien den Blick in die Aussenwelt und richten die Gedankenwelt Quasimodos wie die übrigen sakralen Elemente der Kirche auf das Geistliche statt aufs Diesseits. Claude Frollo, gespielt von Jean Loupe Fourure, der wirklich aus Paris stammt, spricht im Stück als Einziger immer wieder Französisch.
Die Sprache wirkt hier distanziert, übermächtig, unterdrückend. «Unten gibt’s nur Laster, Sünden und Verbrechen», lehrt er seinen Sohn Quasimodo, den es in die Welt drängt. «Schau nach oben, da gibt es Hoffnung.» Verschüchtert wagt sich dieser zu widersprechen: «Manchmal kann es doch sein, dass es auch hier unten ein bisschen Hoffnung gibt?»
Quasimodos Wunsch nach gesellschaftlicher Teilhabe
Denn nichts wünscht sich der Heranwachsende mehr, als beim heutigen Narrenfest teilnehmen zu dürfen. Diesen Wunsch gewährt ihm der strenge Vater nicht: «Hier bist du am Sichersten.»
Frollo versteckt seinen Sohn nicht, um ihn zu schützen, sondern um sich zu schützen. Er schämt sich für ihn: «Nach all den Jahre könnt ihr nicht einen Funken Mitgefühl zeigen», rügt ihn Jeanne. «Ihr seid sein Vater. Eure Scham verwehret ihm die Freiheit.» Florian Rexer geht es in seiner Inszenierung um die Dialektik von Freiheit und Gefangenschaft.
«Die Kirche kann Fluch und Segen sein», erläutert er. Wer von den Personen ist eigentlich frei und wer gefangen? «Kann ein Junge, der sich hinter seinem Nintendo verkriecht, nicht genauso gefangen sein?»
Esmeralda sieht mit dem Herzen
Schliesslich begleitet Quasimodo seinen Freund Cedric (Fynn Lanter) – eine Erfindung von Rexer – aufs Narrenfest, wo er auf die schöne Esmeralda trifft. Anders als bei Hugo, wo das attraktive Romamädchen herzlos beschrieben wird, und nur die starken und schönen Männer liebt, ist sie bei Florian Rexer eine Retterin, die mit den Schwachen und Ausgeschlossenen fühlt und sie beschützt. Als Quasimodo Esmeralda seinen Glockenturm zeigt, öffnet sie ihm die Augen: «Du wurdest belogen. Dein ganzes Leben lang. Da draussen gibt es so viel mehr.»
Zu sechs professionellen Schauspieler:innen kommen 17 junge Talente, die mit ihrem Können und durch die harte Probenarbeit der letzten Monate zu einem gefühlsreichen, bunten Spektakel beitragen und mit dieser modernen Interpretation des Glöckner von Notre Dame ein neues, sehenswertes Stück auf die Bühne bringen. Premiere feiert «Der Glöckner von Notre Dame» am 20. Dezember im Kulturforum Amriswil, bevor es durch den Thurgau tourt.
Alle Termine im Überblick
Kulturforum Amriswil:
20. Dezember 2023, 19:30 Uhr, Premiere
28. Dezember 2023, 20:00 Uhr; 29. Dezember 2023, 20:00 Uhr; 30. Dezember 2023, 15:00 Uhr
Eisenwerk Frauenfeld:
19. Januar 2024, 20:00 Uhr; 20. Januar 2024, 20:00 Uhr; 21. Januar 2024, 15:00 Uhr
Trauben-Saal Weinfelden
23. Februar 2024, 20:00 Uhr; 24. Februar 2024, 20:00 Uhr; 25. Februar 2024, 15:00 Uhr
Dreitannen-Saal Sirnach
15. März 2024, 20:00 Uhr; 16. März 2024, 20:00 Uhr; 17. März 2024, 15:00 Uhr
Tickets für alle Aufführungen gibt es über die Website der Produktion.

Von Judith Schuck
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