von Andrin Uetz, 20.01.2021
Provokation & Heimatdichtung
So geht Punk in Zeiten der Pandemie: Der Frauenfelder Produzent DJ Netlog und Jessica Jurassica sind das Duo CAPSLOCK SUPERSTAR. Das Debüt-Album «Megamix» ist der perfekte Soundtrack unserer Zeit.
CAPSLOCK SUPERSTAR, das sind der Produzent DJ Netlog (auch bekannt als DAIF oder David Nägeli) und die fiktive Autorin Jessica Jurassica. Und ja, man muss den Bandnamen in Grossbuchstaben schreiben. Das gibt der Name quasi vor und gehört zum Witz und Konzept des Duos. Aber dazu später mehr. Die Songs zu ihrem Album „Megamix“ sind als Reaktion auf die Corona-Pandemie entstanden. Europa brauche jetzt Euro-Dance aus der Schweiz, lässt das Duo auf der Homepage verlauten.
Wer nun an DJ Bobo, an serbischen Turbo-Folk, an Ballermann und Après-Ski denkt, liegt goldrichtig. Dazu noch ein Zebra aus Scooter-Lines legen – FKC 2020 – oder mit Christoph Liniensnief nach Bergamo fahren; fertig ist die Rezeptur für den Sound von „Megamix“.
Wer seine Jugend nicht mit koksenden Rappern und Redbull-Vodka gurgelnden Raverinnen in einer improvisierten Kuhstall-Disco in der Provinz verschwendet hat, dem mag diese Soundästhetik etwas befremdlich vorkommen. Allen anderen geht es wie Proust mit den Madeleines; sie erfreuen sich einer bitter-süssen Erinnerung an liminoide Riten am Arsch der Welt.
Hugelshofe Stalingrad
Nachdem der Titelsong einen allgemeinen Überblick zum Album gibt, und in etwa die Transformation der Jessica Jurassica zum CAPSLOCK SUPERSTAR skizziert, wird ohne Umschweife grosses Geschütz aufgefahren. „Hugelshofe Stalingrad” hat es in sich.
Musikalisch irgendwo zwischen Brian Eno und Gudrun Gut, darüber eine an die deutsche Rapperin Haiyti erinnernde Stimme: „Hugelshofe kaputt spaziere!”, findet Jurassica die perfekte Balance zwischen Provokation und Heimatdichtung.
Sie fängt mit ihren Worten etwas ein von einer Befindlichkeit zur Zeit des Notstands im thurgauischen Kaff: Mit einem Bein in der Gegenwart, den Kopf zerstreut zwischen WW2-Doku, Netflix und Fernweh.
Reinhören: CAPSLOCK SUPERSTAR «Montevideo»
Ein Tennisplatz in Flammen
Dann begeben wir uns für ein paar Songs etwas auf die Social-Media-Meta-Ebene, worüber andere AutorInnen wohl mehr zu schreiben wüssten. Schön ist etwa, wie Jurassica in “Tennisplatz i Flamme” die Namen von Schweizer A-, B- und C-Prominenz gleichsam beschwörend wie anklagend ausruft.
Ist es nicht auch so in den Social-Media; immer gleichzeitig im Rampenlicht und am Pranger? Im Song “Hit Machine” erzählt Jurassica von ihrer Jugend in Bandräumen diverser “Boybands” und in “Hei isch si geil” vom mansplainenden Schweizer-Popmittelmass; Hopp Feminismus!
Der Jurassica-Effekt
Das Paradox von Jurassica ist, dass sie zwar mit einer Maske ihre bürgerliche Identität verbirgt, gleichzeitig jedoch als fiktive Autorin mit ihren Worten sehr nahbar wirkt.
Dem ironisch-narzisstischen und zumeist eher peinlichen Gehampel von AutorInnen und MusikerInnen in den Social Media, welche sich in den visualozentrischen Laufrädern der Aufmerksamkeits-Ökonomie gefangen sehen, setzt sie eine Alternative entgegen, welche auf der Verweigerung aufbaut.
Sie inszeniert sich nicht selbst, sondern kreiert eine Anti-Persona: Dadurch schafft sie sich Raum für ihre Dichtung. Wer mehr über die Kunstfigur erfahren will, dem sei dieser Artikel in der WOZ empfohlen.
Video: CAPSLOCK SUPERSTAR mit ANTHROPOZÄN
“Mit dem letzten Tropfen Kerosin”
Zum Schluss zeigt sich bei «Anthropozän» der Weltschmerz dann doch eher als etwas Abstraktes, gar Diffuses, irgendwo zwischen Verschwörungstheorien und Fridays for Future, und nicht etwas, was den CAPSLOCK SUPERSTAR tatsächlich tangierte.
Der Song könnte sowas wie ein Spiegel sein für eine wohlstandsverwahrloste Gesellschaft, die sich mit Krisen-News gerne am Leid der Welt in in einen selbstdestruktiven Ledercouch-Pessimismus schaukelt und dazu zynisch Prosecco aus der Dose kippt.
Er, sie oder es trägt für uns das Kreuz
Auch wenn der Song dieser Verheissung musikalisch nicht ganz gerecht werden kann, so bringt er doch die religiöse Kraft des CAPSLOCK SUPERSTAR auf den Punkt: Er, sie oder es trägt für uns das Kreuz unserer spiegelglatten, hypernarzisstischen Gegenwart, nimmt all unsere Projektionen auf sich, lässt sich von moralinsüchtigen HeuchlerInnen am virtuellen Pranger beschimpfen.
So geht Punk in Zeiten von Lockdown und Quarantäne.
Das ganze Album auf bandcamp
https://capslocksuperstar.bandcamp.com/album/megamix
Weitere Beiträge von Andrin Uetz
- Der Boden, auf dem wir stehen (06.05.2024)
- Zu Unrecht fast vergessen (28.03.2024)
- Feinsinnige Klangfarben und packende Soli (21.02.2024)
- „Gute Vernetzung ist wichtig” (01.02.2024)
- «Es ist faszinierend, wie alles zusammenkommt» (13.11.2023)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Musik
Kommt vor in diesen Interessen
- Pop
- Punk
Ähnliche Beiträge
Ein Mann, eine Gitarre, ganz viel Gefühl
Eine Welt voller Melodien und Emotionen: Der Bischofszeller Tobias Engeler holt aus seiner Akustikgitarre heraus, was anderen mit einer mehrköpfigen Band nicht gelingt. mehr
Schweizer Indie-Pop mit Liebe zum Detail
Die Winterthurer Mundart-Band Plankton kehrte diesen Sommer mit ihrem neuen Album «Boule» auf die Bühne zurück. arttv.ch stellt die Band im Video vor. mehr
Eine Familie mit 24.000 Mitgliedern
Die Summerdays haben sich in den vergangenen 15 Jahren seit ihrem Umzug nach Arbon ein Stammpublikum erarbeitet. Sie bieten ein gediegenes Umfeld und Musik, die generationenübergreifend anspricht. mehr