von Samantha Zaugg, 06.11.2020
Premiere nach über dreissig Jahren
In den 80er Jahren drehte eine Clique aus Jugendlichen einen Spielfilm in Frauenfeld. Doch der Film kam nie über einen Rohschnitt hinaus. Durch grosse Initiative von damaligen Schauspielern ist der Film nun doch fertig geworden. Und das ist gut so. «Pulverfass Obholz» feiert heute Premiere im Cinema Luna.
Vor ziemlich genau 35 Jahren hatten ein paar Filmfreunde aus Frauenfeld eine wilde Idee. Sie wollten einen Spielfilm drehen. Sie haben ein Drehbuch geschrieben, eine Equipe zusammengestellt, DarstellerInnen gecastet und viele Tage gedreht. Und dann ist sehr lange nichts mehr passiert. Die Filmrollen sind verschollen, der Film ging vergessen. Das Leben spielt, die jungen Leute von damals wurden erwachsen, die Clique ging auseinander.
Doch durch die Verkettung glücklicher Zufälle ist der Film nun doch fertig geworden. Mehr als dreissig Jahre später treffen sich per Zufall zwei Darsteller von damals. Urban Kaiser und Christa Klein, auf deren Estrich die Filmrollen eingelagert sind. Sie visionieren das Material und beschliessen den Film doch noch ins Kino zu bringen. Und das haben sie gemacht, der Film ist fertig und kann sich sehen lassen.
Rocker gegen Dorfjugend
Die Handlung spielt in Frauenfeld und Umgebung, vor allem im Obholz. Hier wohnt Dani, zusammen mit seinem kleinen Bruder Patrick, gespielt von Urban Kaiser. Mutter und Vater arbeiten viel, sind selten daheim. Dani ist sowas wie der Hausmann, hütet den kleinen Pädi, arbeitet als Automechaniker unten in der Stadt und erlebt allerhand Abenteuer. Mit seinen Kollegen fährt er Töff, geht schiessen, ausreiten oder trinkt Bier im Restaurant Obholz. Und er ist sehr verliebt in Christa, gespielt von Christa Klein. Obwohl er sich ungeschickt anstellt werden die beiden ein Paar. Das Glück scheint perfekt.
Bis sich die Rocker aus der Stadt ins Obholz verirren. Eine Pöbelei bringt alles ins Rollen. Pneus werden zerstochen, es wird viel geprügelt, noch mehr Motorrad gefahren, ein jemand landet im Spital. Die Eskalationsspirale dreht sich immer weiter bis zum dramatischen Ende in der Kiesgrube. Rocker gegen Landjugend.
Dieses Szenario ist zwar von der Realität inspiriert, aber doch weitgehend fiktional. In den 80er-Jahren seien Rockerbanden recht aktiv gewesen, sagt Urban Kaiser: «Sie waren beim Volk auch recht gefürchtet, teilweise zu Unrecht. Dieser Umstand inspirierte die Drehbuchautoren, war aber reine Fiktion.» Und auch eine Landjugendbande habe seines Wissens nicht existiert, sagt Kaiser weiter.
Video: Trailer zum Film
Zeitreise durch Frauenfeld
Obwohl es ein Laienfilm ist, obwohl die Zeit Spuren am Material hinterlassen hat muss man sagen, der Film ist richtig gut und zwar auf verschiedenen Ebenen. Zuerst das Offensichtliche: Um das Wort Nostalgie kommt man nicht herum. Einen Ort wie vor dreissig Jahren zu sehen ist ein schönes Erlebnis, man erinnert sich an Häuser, die es einmal gab, erkennt Geschäfte, die heute noch bestehen.
Abgesehen vom Lokalkolorit sind die kleinen Details wirklich hinreissend. Die alten Verpackungen der Lebensmittel, das Geschirr in der Küche, die Autos, die Turnschuhe, die Poster im Jugendzimmer. Auch für SprachliebhaberInnen ist der Film eine Freude. Bei Jugendslang von vor 30 Jahren im breitesten Thurgauer Dialekt geht einem das Herz auf.
Auch das Schauspiel ist solide, obschon alle Darsteller Laien sind. Doch auch wenn die Schauspieler einen guten Job gemacht haben, dass die Dialoge flüssig sind, die Szenen natürlich wirken, die Geschichte emotional reinzieht, liegt vor allem am Schnitt und damit an Jonas Greuter, dem jungen Editoren aus Frauenfeld. Das ist eine grosse Leistung, denn es hätte vieles schiefgehen können.
Im Schnitt gerettet
Einerseits hat das Filmmaterial seine Mängel. Manchmal fehlt der Ton oder auch ganze Szenen. Viele der Nachtaufnahmen sind unterbelichtet. Das Trägermedium Super 8 ist ein relativ kleines Format mit wenig Bildinformationen. Auch mit digitaler Nachbearbeitung sind die Grenzen schnell erreicht. Dasselbe gilt für den Ton, wenn die Aufnahme eine ungenügende Qualität hat, ist auch in Postproduktion nichts zu machen.
Anderseits ist das Schauspiel und die Storyline zwar solide, dennoch hätte der Film leicht ins Unbeholfene oder Hölzerne abdriften können. Doch Greuter hat das souverän gehandelt. Er hat dem Retromaterial durch Montage und Rhythmus einen zeitgenössischen Schnitt verpasst. Ein schmaler Grat, den Retrocharme zu bewahren und gleichzeitig einen Film zu schneiden, der unseren modernen Sehgewohnheiten entspricht. Greuter hat in seinem Schnitt die Balance gehalten.
Und dann ist da auch noch der Schluss: Hier hat das Projektleiterteam Kaiser und Klein einen Eingriff gewagt, beim Ende sind sie vom Drehbuch abgewichen. Auch das hat dem Film gutgetan. Als Fazit lässt sich sagen, es ist ein stimmiges Projekt, ein liebenswürdiger Thurgauer Heimatfilm, der trotz Amateurproduktion und Schönheitsfehler ins Herz geht. Gut, dass er doch noch fertig geworden ist.
Termine: Premiere ist am Freitag, 6. November, 19.30 Uhr, im Cinema Luna. Es sind insgesamt neun Aufführungen geplant. Viele davon sind allerdings bereits ausverkauft. Mehr Informationen zum Film und eine DVD zu kaufen gibt es auf der Webseite des Films.
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