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03.02.2025

Ein Leben (fast) wie im Film

Ein Leben (fast) wie im Film
Die Steckborner Filmerin Yvonne Escher auf der Terrasse ihres Hauses mit Blick auf Städtli und Untersee. Das Bild stammt aus dem Jahr 2014. | © Brigitta Hochhuli

Genf, Rom, Berlin: Die aus Steckborn stammende Filmemacherin Yvonne Escher lebte ein turbulentes Leben. Jetzt ist sie im Alter von 90 Jahren gestorben. Ein Nachruf von Christof Stillhard. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Yvonne Escher ist 1934 in Stein am Rhein geboren und in Steckborn aufgewachsen. Ihre Eltern arbeiteten beide in der Kunstseidenfabrik, Yvonne genoss eine glückliche Kindheit auf den Strassen, in den Wäldern und Wiesen der Umgebung. Dann trennten sich die Eltern und Yvonne wurde 1941 eingeschult. In ihrer Autobiografie schrieb sie: «Es begann eine grausame, kinderverachtende Zeit voller Demütigungen, Enttäuschungen und Tränen.» Ohrfeigen und sogenannte «Tatzen» mit der Rute gehörten zum Schulalltag. Einige Kinder zerbrechen daran, andere werden rebellisch.

Mit etwa 18 Jahren, als Schülerin an der Handelsschule in Konstanz, kaufte sich Yvonne eine 500er Sunbeam. Sie sei die erste Schweizerin mit einem schweren Motorrad gewesen, erinnerte sie sich, und fortan fuhr sie so in die Schule – natürlich ohne Helm. «Mein Selbstbewusstsein hat sich wesentlich gesteigert.»

Wie sie das Kino kennenlernte

Mit 20 zog Yvonne Escher weg von zu Hause, nach Zürich, und arbeitete in einer Couvert-Fabrik an der Stanzmaschine. Sie lernte neue Freunde kennen und mit ihnen das Kino, die Literatur, die Architektur. Mit dem damaligen Partner zog sie nach Köln, wo er die Fotoschule, sie die Schauspielschule besuchte. 

Über Basel und Griechenland kam Yvonne Escher nach Genf. Dort arbeitete sie erst einmal auf einer Bank. Doch schon bald fiel sie in einem Café dem Filmregisseur Francis Reusser auf, der ihr prompt die Hauptrolle in einem Film anbot. Als Schauspielerin im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen gefiel ihr sehr, doch immer mehr interessierte sie auch die Arbeit hinter der Kamera. 

Sie lernte die Genfer Filmszene um Alain Tanner, Claude Goretta und Michel Sutter kennen. Nach den Dreharbeiten kaufte sich Yvonne eine Kamera, mit der sie zur Bank zurückkehrte und ihre Arbeitskollegen filmte. Nach drei Tagen wurde sie fristlos entlassen.

 

Yvonne Escher bei einer Lesung im Phönix-Theater Steckborn. (2019). Bild: Inka Grabowsky

Ein Teil der Römer Filmszene

In Genf lernte Yvonne Escher Carlo di Carlo kennen, einen italienischen Filmer, Kritiker und Herausgeber. Sie folgte ihm nach Rom. Sieben Jahre waren sie ein Paar und danach lebenslang freundschaftlich verbunden. Über Carlo, der auch als Regieassistent von Filmgrössen wie Michelangelo Antonioni und Pier Paolo Pasolini arbeitete, wurde Yvonne Teil der Römer Filmszene und arbeitete in verschiedenen Funktionen mit.

Nach vielen weiteren Abenteuern, die Yvonne Escher durch die halbe Welt führten, kehrte sie 1977 nach Steckborn zurück und kaufte im Alter von 43 Jahren ein Häuschen im Ort ihrer Kindheit und Jugend. Sie arbeitete Teilzeit im Altersheim in Berlingen, gründete mit Anderen eine Theatergruppe, aus der später das Phönix Theater entstand. Von ihrem Häuschen an der Haldenbergstrasse genoss sie eine wunderbare Aussicht auf den Untersee und eines Tages kam sie auf die Idee, einen Film über die hiesigen Fischer zu realisieren.

 

Eine prägende Freundschaft

Während der Vorbereitungen zu «Der See und seine Fischer» lernte Yvonne Escher 1981 den Frauenfelder Fotografen und Kameramann Konrad Keller kennen. Aus gemeinsamen Interessen und einer intensiven Zusammenarbeit entstand eine tiefe, 25-jährige Freundschaft. Konrad Keller sollte fortan bei allen Filmen von Yvonne Escher die Kamera führen – bis zu seinem Tod 2006.

Ich lernte die Beiden 1982 kennen und durfte sie in den Sommerferien kurz vor der Matur als Assistent bei den Dreharbeiten zu ihrem zweiten gemeinsamen Film «Stationen» nach Stuttgart begleiten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Erwachsene für mich entweder Verwandte oder Lehrpersonen gewesen, mit denen man keine freundschaftlichen Beziehungen pflegte. 

Yvonne und Konrad waren die ersten Erwachsenen, die mir auf Augenhöhe begegneten. Gemeinsam arbeiteten wir eine Woche lang hart, diskutierten viel und rauchten und tranken nicht wenig. Yvonne war eine tolle Frau, unbequem, eigensinnig, originell und wild, Konrad war bedächtig, feinfühlig und freundlich. Beide verband ein ähnlicher Humor, ich fühlte mich sehr wohl.

 

Fester Blick: Yvonne Escher im Jahr 2014. Damals war sie gerade 80 geworden. Bild: Kathrin Zellweger

Manchmal litt sie unter Einsamkeit 

Von Yvonne Eschers Werken gefallen mir vor allem «Der See und seine Fischer» und «Rebzeiten», Zeugnisse des ländlichen Lebens vor 50 Jahren, sowie das etwas sperrige Porträt «Hans Baumgartner» über den ebenfalls aus Steckborn stammenden grossen Fotografen. 2001 erhielt sie den Thurgauer Kulturpreis. Yvonne Escher drehte noch einige kleinere, lokale Filme ohne Konrad, verkaufte das Häuschen am Berg, zog in die Altstadt hinunter und kaufte im hohen Alter noch einmal ein Auto. Sie genoss die Zeit mit Freunden wie auch das Alleinsein. Manchmal litt sie unter der Einsamkeit und immer wieder staunte sie, wie lange der Tod sie verschonte. 

Yvonne Escher ist am 25. Januar 2025 kurz vor ihrem 91. Geburtstag in ihrer Wohnung für immer eingeschlafen. Ihre Autobiografie von 2019 heisst treffend: «Diese Freiheit nehm ich mir – Aufzeichnungen einer selbstbestimmten Frau».

Die Urnenbestattung findet am Freitag, 7. Februar 2025, um 13.30 Uhr am Gemeinschaftsgrab statt, mit anschliessender Abdankung in der evangelische Kirche Steckborn.

 

Der Autor dieses Textes

Christof Stillhard ist Kulturbeauftragter der Stadt Frauenfeld. Seit vielen Jahren engagiert er sich für das Filmschaffen im Kanton. Stillhard war auch einer der Gründer:innen des Cinema Luna in Frauenfeld.  Als junger Mann lernte er Yvonne Escher kennen.

 


 

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