von Judith Schuck, 28.10.2024
Ohne Raum bleibt alles nur ein Traum
Vor welchen Herausforderungen steht Gemeinschaft heute? Und wie kann Kultur Gemeinschaft stiften? Diesen Fragen gaben den Impuls zur dritten Thurgauer Kulturkonferenz. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Vertreter:innen aus Kulturinstitutionen, Kulturschaffende sowie Politiker:innen haben sich am Samstag in der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld zur dritten Kulturkonferenz versammelt, die von der Kulturstiftung, dem Kulturamt und der Kulturkommission des Kantons Thurgau veranstaltet wurde. Die Anwesenden setzten sich mit Fragestellungen zur Gemeinschaft auseinander. „Ohne Gemeinschaft gibt es keine Kultur“, eröffnete Stefan Wagner, Geschäftsführer der Kulturstiftung Thurgau, den Vormittag.
Das Thema war in fünf Segmente aufgeteilt: Pionier:innen, Jugend, Land, Netzwerk und Gegenüber, die in Vorträgen oder Workshops vertieft wurden. In der anschliessenden Podiumsdiskussion mit den Workshopleitenden stand das Thema Raum im Mittelpunkt, dessen dialektisches Verhältnis zur Gemeinschaft bereits im Vortrag des Referenten Frederik Fischer, Gründer von Neulandia, beschrieben wurde.
Hinter dem Start-up-Unternehmen Neulandia steht die Idee, der Wohnungskrise entgegenzutreten und Menschen zu unterstützen, die erwägen, von der Stadt aufs Land umzusiedeln. Während in den Städten Raum knapp beziehungsweise unbezahlbar wird, ist in ländlichen Gebieten eher der Leerstand ein Problem. Fischer erläuterte in seiner Präsentation, wie die Eroberung des ländlichen Raums in Neulandia-Projekten wie „KoDorf“ oder „Summer of Pioneers“ mit Gemeinschaft zusammenhängt.
Verheissungsvolle Lücken und Leerstellen
Das erste Neulandia-KoDorf-Projekt entstand in Wittenberg, einer ostdeutschen Kleinstadt zwischen Berlin und Hamburg. Die Ansiedlung einer Gemeinschaft, die auf der Suche nach neuem Land war, um Ideen umzusetzen, trug massgeblich zur Stadtentwicklung bei. Der Perspektivwechsel sei stets interessant, sagt Frederik Fischer: „Während der Leerstand für die Wittenberger etwas Negatives bedeutete, waren diese Lücken für die Menschen, die aus Berlin kamen, verheissungsvoll.“
Die grössten Hemmschwellen für den Umzug aufs Land sieht Frederik Fischer in der Abhängigkeit vom Arbeitsplatz und der Angst vor Isolation. Ersteres löste sich grösstenteils durch die Homeoffice-Erfahrungen während der Pandemie auf; an der Angst vor Isolation kann die Gemeinschaft ansetzen. Die Erkenntnis aus den KoDörfern war, dass die Gemeinschaft noch wichtiger ist als die architektonische Infrastruktur.
Wir von thurgaukultur.ch lancieren im Rahmen des 15-Jahr-Jubiläums eine neue, analoge Veranstaltungsreihe. Ziel ist, einen Rahmen zu schaffen, damit politische Akteur:innen und Kulturschaffende miteinander ins Gespräch kommen. Weg, von der klassischen Podiumsdiskussion, hin zum Austausch und zur Begegnung.
Termin: Mittwoch, 27. November, ab 18:30 Uhr
Ort: Apollo Kreuzlingen
Anmeldungen für die kostenlose Veranstaltung sind bereits jetzt über diesen Link möglich.
Bei der ersten Veranstaltung steht das Thema «Räume» bzw. «fehlende Räume» im Zentrum. Dies betrifft Ateliers, Proberäume, aber auch Auftrittsmöglichkeiten.
Was sind die Bedürfnisse der Kulturschaffenden und ihre Lebensrealitäten? Was sind die Rahmenbedingungen und Herausforderungen der politischen Prozesse und lokalen Gegebenheiten?
Eingeladen sind Kulturschaffende, Vertreterinnen von Städten und Gemeinden, der Kulturförderung und alle, die sich für das Thema interessieren. Direkt zur Anmeldung.
Was in Lichtensteig passierte
KoDörfer gibt es heute an acht Standorten in Deutschland und einem in der Schweiz. Die Stadt Lichtensteig im Kanton St. Gallen beteiligte sich 2023 zusammen mit der Stiftung zukunft.bahnhof am Projekt „Summer of Pioneers“. In diesem Programm begleitet die Neulandia UG während sechs Monaten Pionier:innen, die das Leben auf dem Land mit viel ehrenamtlichem Engagement austesten.
Die Zeit in Lichtensteig beschreibt Frederik Fischer als „bewegendes Erlebnis“. Die Stadt hat eine spannende Pioniergeschichte und arbeitet bereits an ihrem Image. Nach dem Abwandern der Textilindustrie in den 1970ern gab es in der Stadt immer mehr Leerstand. 2012 wurde Mathias Müller mit gerade einmal 30 Jahren Stadtpräsident in Lichtensteig. Er setzt sich für deren historischen Erhalt und Entwicklung ein.
Kultur im Regierungsgebäude
Als das Rathausgebäude aufwändig hätte saniert werden müssen, um barrierefrei zu werden, zog er in ein benachbartes Gebäude um und überliess das historische Rathaus im Herzen der Stadt den Kulturschaffenden – ein Vertrauensbeweis und eine grosse Wertschätzung. In den Diskussionen bei der Kulturkonferenz stellte sich immer wieder heraus, dass Kulturschaffende bei ihrer Suche nach Räumen oft auf die Angst der Vermietenden treffen.
In der Podiumsdiskussion, die an die vier Workshops zum Thema Gemeinschaft und Raum anschloss, erläuterte Pascal Leuthold, Vertreter des Tankkellers Egnach, einem Kunstprojekt in einer alten Mosterei, wie er den Gebäudebesitzer:innen die Angst vor der Nutzung durch Kulturschaffende nehmen konnte: „Für uns war es wesentlich, einen Perspektivwechsel hinzubekommen. Wir haben versucht, aus der Perspektive anderer Menschen Gemeinschaft zu denken.“
Vertrauen motiviert zum Engagement
Im Tankkeller Egnach fanden im Frühjahr 2022 eine Vielzahl von Kulturveranstaltungen statt, von zeitgenössischer Kunst über Konzerte – Rock/Pop, Experimentelles oder Folkloristisches, Lesungen und vieles mehr. „Wir haben einfach mit allen gesprochen, ob sie mitmachen wollen, und alle haben zugesagt“, sagt Leuthold und ergänzt, dass fast ein Dutzend seiner Anfragen für Projektideen vorher vom Gemeinderat abgelehnt wurden.
Mara Notter, die für das KAFF im Podium sitzt, sieht den Erfolg des Frauenfelder Kulturvereins darin, dass den Mitgliedern Vertrauen entgegengebracht wird. Sie lädt ausdrücklich zum Mitmachen ein: „Bei uns können Personen, die schon länger in der Kultur tätig sind, mit einem Know-how-Transfer helfen.“ Im KAFF gibt es also Gemeinschaft und Raum.
Anderen Kulturschaffenden fehlt jedoch Raum, um ihre Ideen umzusetzen oder für ihre kreative Gemeinschaft. Pascal Leuthold ist überzeugt, dass es im Thurgau genügend Raum gibt: „In Egnach stehen zig Räume und Scheunen leer. Entscheidend ist, welche Geschichte ich spinne, damit ich es schaffe, die Leute für diesen Raum zu begeistern.“
Eine Raumbörse für den Thurgau?
Simone Uster vom Unternehmen Impact Hub Zürich, das Räume an Kulturschaffende vermietet, betont, dass es „wichtig ist, dass der Austausch stattfindet, damit Vermietende und Kulturschaffende, die Räume suchen, voneinander wissen.“ Stefan Wagner bringt die Idee einer Raumbörse für den Thurgau ins Gespräch, um Räume leichter vermitteln zu können.
Die Kulturvermittlerin und Musikerin Katrin Sauter möchte nicht nur über den physischen Raum sprechen, sondern auch über den Erfahrungsraum, den Kulturschaffende für den Austausch bräuchten. Um Zugang zu Räumen zu erhalten, sollten Kulturschaffende versuchen, Brücken zu schlagen und die Angst vor dem, was sie tun, zu nehmen. „Angst verhindert“, sagt sie. „Wenn wir nicht als Blockade wahrgenommen werden, kann Vertrauen zu den Menschen entstehen, die Türen öffnen.“
Mirjam Wanner, Künstlerin und Kuratorin aus Frauenfeld, findet die Anregungen, dass Kulturschaffende noch aktiver werden müssten, um ihre Bedürfnisse verständlich zu vermitteln, teilweise ermüdend: „Wir machen alle schon extrem viel. Es braucht zwei Bewegungen, auch eine hin zu uns.“ An letzterer mangele es ihrer Meinung nach im Thurgau. „Ich finde es heikel, uns noch mehr aufzubürden. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, dass Kultur ihren Platz erhält und nicht immer wieder zur Diskussion gestellt wird.“
Raus aus der Einbahnstrasse: Initiative sollte auch von Gemeinden kommen
Eine weitere Stimme meldete sich aus dem Publikum: Er kritisierte, dass in der Schweiz oft das Positive betont werde, anstatt Probleme klar zu benennen. „In der Politik passiert doch erst etwas, wenn wir sagen können, was nicht gut ist.“ Die Raumfrage treibe die Kulturstiftung um, sagt Stefan Wagner. Konkret werde künftig mit Blick auf die Stadtkaserne Frauenfeld etwas passieren.
Die Erkenntnis aus Projekten in Lichtensteig und anderen Gemeinden ist, dass das Interesse der Gemeinden an der Bereitstellung von Raum und Entwicklung vorhanden sein muss. Lichtensteig geht laut Frederik Fischer diesen proaktiven Schritt, den sich auch Mirjam Wanner wünscht. Der Newsletter weist ebenfalls auf zu vermietende Räume hin. Stefan Wagner sieht eine Chance, wenn positive Beispiele bekannter würden.
Nach der Mittagspause gründete sich am Ort der Konferenz, in der Theaterwerkstatt, der Verein TanzNetz Thurgau, ein Zusammenschluss professioneller Tanzschaffender. So folgte auf den gedanklichen Austausch zur Gemeinschaft ein ganz konkreter Akt zur Vernetzung und Zusammenarbeit.
Von Judith Schuck
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