von Judith Schuck, 30.08.2022
Eintauchen in fantastische Welten
Kunst ist für Noemi Lottaz Lebenselixier. Seit ihrer frühen Kindheit malt und zeichnet sie. Dabei hat die Entwicklung von digitalen sowie Massenmedien einen starken Einfluss auf ihre Werke. (Lesezeit: 3 Min.)
Wenn sie male, komme Noemi Lottaz in einen richtigen Flow, beschreibt Daniela Breu den Zustand der Künstlerin. Daniela Breu ist Geschäftsleiterin im Kanzler Frauenfeld, einer Institution für Sozialpsychiatrische Betreuungsangebote. Noemi Lottaz wohnt dort seit 2020. Vorher lebte die 34-Jährige mit ihrer Mutter in Romanshorn, suchte aber einen Weg zu mehr Selbstständigkeit, den sie hier fand. Schon immer verbrachte sie viel Zeit mit dem Zeichenblock: «Ich male, seit ich einen Stift halten kann», erzählt sie von ihrem künstlerischen Werdegang. Ihre grosse Schwester, die auch gerne male, sei dabei für sie Inspiration gewesen, sowie ihre Tante, eine Glaskünstlerin. Die Kunst bringe ihr in erster Linie Spass; doch dient ihr die kreative Tätigkeit auch als Ausgleich, um schwierige Situationen zu regulieren, «wenn mal viel los ist», erklärt Daniela Breu. Noemi könne im Malprozess regelrecht Raum und Zeit vergessen.
Der Reiz am Figürlichen
«Ich zeichne und male fast jeden Tag, vor allem in den Arbeitspausen und am Wochenende.» Bei Noemi Lottaz ist das Skizzenbuch oder Tablet immer dabei. Neben Zeichnungen, Aquarellen und Acrylbildern, arbeitet sie inzwischen viel digital. In der Kartause Ittingen ist sie einem 80 Prozentpensum in der Verpackerei und Töpferei an einem geschützten Arbeitsplatz beschäftigt. Ihre Aufgaben empfindet sie ebenfalls als «ein bisschen kreativ».
«Ich habe den Künstlerblick. Ich schaue Menschen mit ganz anderen Augen an.»
Noemi Lottaz
Im Fokus stehen Menschen. «Ich habe den Künstlerblick. Ich schaue Menschen mit ganz anderen Augen an.» Als Kind waren es Familienmitglieder, die sie als Modell nahm, heute stammen ihre Sujets häufig aus Filmen und Serien, Mangas und Animes. Daran fasziniere sie die Fantasie, der sie freien Lauf lassen könne. «Meine Bilder sind Referenzen auf die Vorbilder aus den Serien. Ich gebe immer noch einiges dazu. Manchmal passt es, manchmal ist es auch zu viel», gibt die Künstlerin selbstkritisch zu. Sie liebe es, Neues auszuprobieren und zu lernen. «Es gibt so viele Facetten von Kunst und ich möchte mich gerne weiterentwickeln.»
Digitale Welten helfen der Autodidaktin
Dass sie selbst in der Schule nie Kunstunterricht hatte, bedauert Noemie Lottaz. Das läge daran, dass sie heilpädagogische Sonderschulen besuchte, welche das nicht anboten. Dies beförderte die kunstinteressierte junge Frau um so mehr darin, sich selbst zu schulen. Ihre Bilder und Zeichnungen präsentiert sie über Social Media Kanäle wie Instagram oder Tik Tok. Hier steht sie im Austausch mit anderen Kunstschaffenden und schaut sich die Live-Streams eines Kunstlehrers an, von dem die Autodidaktin immer wieder Tipps bekommt. «Von ihm lerne ich viel über figürliches Zeichnen.» Am Ende sei es aber vor allem das stetige Üben, das sie weiterbringe.
Vielseitig unterwegs, analog wie digital
Nicht immer leicht ist die Übersetzungarbeit vom Digialen ins Analoge, wenn sie vom Film aufs Papier oder die Leinwand überträgt. Spannend findet Noemi Lottaz hingegen die Mehrdimensionalität beim digitalen Zeichnen.
Das Malen mit Acryl lässt Experimente zu. Hier wird sie auch mal abstrakter und schafft mit Schwämmen, Fingern und groben Pinseln. Diese eigneten sich besonders gut, um Strukturen reinzuarbeiten. Am Aquarellieren reize sie, dass es nur eine Chance gebe. Wenn nicht jeder Strich sitze, sei das Bild nicht mehr zu retten. «Gleichzeitig finde ich es schön, wie je nach Beschaffenheit des Papiers – ob saugstark oder eher dicht – die Farben ineinander fliessen. Aquarell ist eigentlich meine Lieblingstechnik.» Ganz im Gegensatz dazu schätzt sie aber am digitalen Malen die Möglichkeit, alles korrigieren zu können: «Digitales Malen ist viel einfacher. Ich habe verschiedene Werkzeuge und auch unterschiedliche Ebenen, auf denen ich arbeite.» Wenn sie beispielsweise auf einer Ebene Haare zeichne und ein Fehler passiere, könne sie ganz einfach mit den Haaren neu beginnen.
Träume, die in Erfüllung gehen
Beim Blättern durch ihre Skizzenbücher fallen die «Grossaufnahmen» und ungewöhnlichen Perspektiven auf, wie sie vor allem im Comic auftauchen: überdimensionale Hände und Hochhausschluchten haben etwas Expressionistisches. «Diese Perspektivwechsel sind für mich recht faszinierend. Ja nach Blickwinkel wirkt das Bild anders.»
Ein Bild zeigt einen Oktopus, der von Quallen umgeben ist. Hier war es für Noemi Lottaz das Spiel mit Licht und Schatten, das sie forderte. «Wenn ich male, muss ich mich konzentrieren: wo kommt Licht, wo kommt Schatten hin, passen die Proportionen?» Bei der Farbgebung spielen häufig äussere wie innerliche Einflüsse eine Rolle: Wetter, Befinden, Umgebung. Ein Traum von ihr wäre, ihre Bilder einmal in einer Ausstellung zu sehen, «eine Galerie fände ich einen schönen Ausstellungsort.» Ein anderer Traum geht schon sehr bald in Erfüllung: die erste eigene Wohnung. Zu Ende August verlässt Noemi Lottaz den Kanzler. In ihrer Wohnung möchte sie auf jeden Fall ein Zimmer als Atelier einrichten.
Von Judith Schuck
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