von Barbara Camenzind, 22.01.2025
New York ist überall
Tolle Musik, leichtfüssige Regie, lässige Tanzeinlagen und eine gehörige Portion Selbstironie machen aus dem Broadway-Ungetüm „Hello Dolly“ in der Operette Sirnach einen unterhaltsamen Theaterabend. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
„Prima la musica, poi le parole“, wiehern die alten Opernrösser, wenn die Qualität der Musik das Libretto übertrumpft. Erst die Musik, dann das Wort, das gibt es auch bei einem Musical, das vor allem mit einem grandiosen Sound punktet und weniger mit einer skurrilen Handlung, wie eben „Hello Dolly“, das 1964 am Broadway uraufgeführt wurde. Auch wenn Thornton Wilder das Vorbild für Michael Stewarts Textdichter war. Der 2019 verstorbene Komponist Jerry Herman schrieb übrigens auch die Musik zu „La Cage aux Folles“, eine ganz andere Geschichte als die der unternehmungslustigen Heiratsvermittlerin Dolly Levi in einer etwas angestaubten Kleinstadt.
Die Sirnacher Band, das 20-köpfige Orchester unter der Leitung von Eisverkäufer, pardon, Dirigent Andreas Signer gab alles, um ultimatives New-York-Feeling zu generieren. Hammermässig gut gespielt, immer nahe an den Stimmen, mit strahlendem Blech, superschönem Swing und ja, Dollys Titelsong erzeugte pure Gänsehaut in den Ohren. Die Musik wurde zudem sehr schön in Szene gesetzt und war so Teil der Inszenierung. Regisseur und Bühnenbildner Giuseppe Spina beleuchtete den Klangkörper so, dass es aussah, als sässe sie im Kopf der Freiheitsstatue.
Kluge Kniffe des Regisseurs
Wie schon bei der letztjährigen Produktion, dem "Weissen Rössl", musste sich Giuseppe Spina einiges einfallen lassen, um das Werk "sirnachtauglich" zu machen. Denn die Bühne im Tannzapfenland ist zwar überregional bekannt, aber sie ist nicht der Broadway. Die Geschichte um die umtriebige Heiratsvermittlerin Dolly, den biederen Vandergelder, seine Nichte und das ganze Personal spielt eigentlich um 1900, wurde aber von Spina und Kostümbildner Joachim Steiner „irgendwie“ in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verlegt.
Wie in der letztjährigen Produktion, dem Weissen Rössl“, musste sich Giuseppe Spina einiges überlegen, um das Werk „sirnachtauglich“ zu machen. Denn die Bühne im Tannzapfenland ist zwar überregional bekannt, aber nicht der Broadway. Die Geschichte der umtriebigen Heiratsvermittlerin Dolly, dem brötigen Vandergelder, seiner Nichte und den ganzen Angestellten spielt eigentlich um das Jahr 1900, wurde aber von Spina und Kostümbildner Joachim Steiner kunterbunt „irgendwie“ in die 70er des vergangenen Jahrhunderts versetzt.
Anstelle einige sehr verstaubte Stellen zu streichen, ging Judith Bach als Dolly ex tempore darauf ein und wies das Publikum darauf hin, dass sie jetzt eigentlich auch nicht ganz wissen, warum sie den Marsch: „Ich bin für Mutterschaft, Amerika und die Speisung von Waisen“ singen müssten, nachdem sie uns zuvor erklärte, dieses Kaff Yonkers, sei so ähnlich wie, na… sie wissen schon. Die Lacher waren gesetzt, es war ein kluger Kniff des Regisseurs.
Der erste Teil vor der Pause strich dann die ganze kleinstädische Piefigkeit hervor, allen voran der geizige, spassbremsige und darum auch sehr amüsante Horace Vandergelder, super gespielt und gesungen von Florian Steiner. Der Spiesser als grosser Antipode zur weltgewandten Dolly.
Ehrlicherweise fanden dann einige Zuschauende in der Pause zu Recht, wir sollten uns über Vandergelders Frauenbild (ein liebes Frauchen) und diesen Heiratsvermittlungsschwank nicht all zu sehr herablassend urteilen: Das Frauenstimmrecht wurde in der Schweiz 1971 eingeführt und passt somit perfekt zum Bühnenbild.
Spannende Besetzung
Judith Bach als Dolly - ist eine unerwartete Freude, weil Dolly gemeinhin eher etwas matronenhaft mit Theaterladies in den „Golden Ages“ besetzt wird. Ihre drahtige, agile Gestalt, der freche Mutterwitz und ihre Bewegungsfreude machten aus der amerikanischen Diva Dolly eine sehr europäische Figur. An die man sich erst etwas gewöhnen musste, aber die genau deshalb sehr spannend wurde. Dollys Rückkehr in die Grossstadt, das könnte Berlin oder Paris sein, deshalb hat uns Judith Bach einen sehr interessanten Abend geschenkt: So gespielt, könnte New York überall sein. Stimmlich überzeugte sie mit rauem Charme und grosser Musikalität.
Anstelle des grossen Auftritts auf der Schautreppe (im Harmonia Gardens Restaurant), gab es eine Tanzeinlage mit dem Personal. Das war nett und witzig. Ein bisschen mehr Glamour hätte man der Hauptdarstellerin jedoch in dem Moment gegönnt, der Musik wegen.
Christian Menzi als Cornelius Hackl und Yves Ulrich als Barnaby Tucker bildeten ein perfektes, den amerikanischen Traum verkörperndes Angestellten- Duo. Passend dazu Sabrina Sauder als Hutladen-Besitzerin Irene Molloy und Sarina Weber als Minnie Fay, die in ihren bunten Kostümen einfach grossartig aussahen.
Claudine Kirchhoff als Nichte Ermengarde und Raphael Jenni als Ambrose sorgten für einige Lacher bei ihrem Chaos-Auftritt im Restaurant, derweil Cäcilia Ernis humoristische Talent als Ernestina den armen Vandergelder gehörig in die Mangel nahm. Publikumsliebling war natürlich wieder einmal Tommy Müller mit seinem ganzen clowneskem Charme, sei es als Oberkellner Rudolph oder als Modeikone Iris Apfel mit Stinktier.
Rasante Regie, toller Chor, starke Choreografie
Oriana Bräu-Bergers feinsinnig gestaltete Tanzeinlagen (mit Caroline Mazenauer, Viviane Hummel, Amelie Lisa Rüegsegger) sorgten für schöne Momente, in der die Musik besonders blühen konnte. Super in Szene gesetzt war der Tanz des Restaurantpersonals im zweiten Teil. Das fügte sich wunderbar in Giuseppe Spina bewegungsorientierte, fixe und leichtfüssige Regiarbeit, zu der auch die beweglichen Kastenelemente gehörten, aus denen die Bühnenbilder zusammengesetzt werden konnten.
Wer das Stück ein bisschen kennt, weiss, dass gerade die Chorpartien harmonisch tricky und nicht sonderlich einfach zu singen sind. Tolle Leistung des supermotiviert erscheinenden Sirnacher Operettenchors, einstudiert von Florence Gemperli, der nicht nur gut klang, sondern auch witzig in Szene gesetzt wurde.
Die Sirnacher Dolly ist ein bunter, fein sarkastischer Hingucker - und vor allem ein Hinhörer. Wer sich noch eine Karte ergattern kann (gespielt wird bis zum 5. April), verlebt ein paar vergnügliche Stunden.
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