von Barbara Camenzind, 24.01.2022
Das ist der Zauber der Saison
Giuseppe Spinas Inszenierung „Im weissen Rössl“ von Ralph Benatzky bei der Operette Sirnach schneidet lustvoll die verstaubten Zöpfe ab, die diesem Grenzgängerwerk zwischen Revue, Singspiel, Musical und klassischer Operette seit dem zweiten Weltkrieg anhafteten. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Wäre der Österreicher Ralph Benatzky, der unschubladisierbare Komponist, Arrangeur, Weltenbürger und Theatermann noch am Leben, er hätte sich von Giuseppe Spina hocherfreut verstanden gefühlt. Sein 1930 entstandenes Weisses Rössl, in den Nachkriegsjahren komplett weichgespült, ist beste satirische Unterhaltung, ohne grossen psychologischen Unterbau, aber mit vielen Zwischentönen.
Die perfekte Plattform für Spielkunst, denn gutes Theater, was das Rössl ist, ist verwandelbar, ohne dabei kaputtzugehen. Sei‘s in der Komödie oder Tragödie. Dies scheint der Thurgauer Regisseur erfühlt zu haben.
Denn viele der Besetzung in dieser Szenerie rund um den verkrachten Zahlkellner Leopold, seine angebetene Wirtin Josepha, ihre Gäste und Akteure in dem Verwirrspiel, wer denn da zum Schluss wen heiraten wird, entstammen der Scuola Teatro Dimitri oder sind sonst im Zirkus/Aktionstheater tätig. Das Rössl im Zirkus? Der Zirkus im Rössl? Das passt doch!
Eine Schauspielerin überragt alle anderen
In Sirnach wird die Rolle des schrulligen Kellners Piccolo durch einen Grande erweitert. Tommy Müller und Adrien Borruat jonglieren sich mit clownesken Nummern, trockenem Schalk und perfektem Timing in die Herzen ihres Publikums.
Den Vogel schiesst aber die Berlinerin Judith Johanna Bach ab, in ihrer Rolle als Wilhelmine von Giesecke, Trikotagen Leipziger Strasse. Auch wenn ihr der Wannsee lieber ist als der Wolfgangsee in Sirnach, wie Giesecke immer wieder betont, erweitert Bach diese Rolle um so viele komische, schlagfertige und herzliche Facetten, dass man sich den mürrischen Herrn Giesecke im Original nie mehr zurückwünscht. Koloratursopraneinlage inklusive.
Starke Stimmen
Mit Petra Halper König setzt Sirnach auf eine Sängerin, die als erfahrenes „Operettenrössl“ bezeichnet werden kann. Die Österreicherin besticht mit dezentem Wiener Charme in der Stimmführung. Den es unbedingt auch braucht in diesem Stück. Sie setzt spielerisch der Rasanz ihrer Kollegen die nötige Ruhe entgegen. Es ist eine Freude, ihr zuzuhören und zuzusehen.
Schauspieler Florian Steiner als Zahlkellner Leopold, der den schwersten Gesangspart zu meistern hat, macht es genau richtig. Sein oft repetiertes „Zuschau‘n kann i net“ muss so verzweifelt klingen, das ist allerfeinste Rössl-Tradition. Die anderen Katastrophen, die der unerhörte Liebende anrichtet, spielt er mit viel Herzblut und Tragikomik.
Am Ende gibt’s einen klaren Publikumsliebling
Der Südtiroler Tenor Roman Pichler beweist wieder einmal, wie schade es ist, dass Doktor Siedler nicht mehr zu singen hat, seiner schönen Stimme hört man auch sehr gerne zu. Zusammen mit seiner Ottilie Giesecke (Mirjam Fässler) gibt er ein schickes, sehr wohlklingendes Paar ab.
Die Schauspieler Joe Fenner und und Marion Mühlebach als Professor Hinzelmann „Kaiser“, Reiseführerin und Klärchen entpuppen sich als wahre Bühnen-Chamäleons, und natürlich ist Sigismund Sülzheimer (Jan Hubacher) wieder einmal der Publikumsliebling. Nicht nur, weil er so schön ist, sondern so herzlich gut singt und spielt.
Fast alles herausgeholt
Das stehende Bühnenbild mit den zwei Galerien wird durch das Orchester besetzt, das im Rücken der Darstellenden spielt, witzig gelöst durch den als Schnapswagen kaschierten Dirigentenpult. Maestro Andreas Signer entpuppt sich als eloquenter Mitakteur, der sehr darauf bedacht ist, die Musik stringent zu führen.
Aufgrund der Anordnung gelingt das nicht immer ganz, leider wackeln im ersten Akt die Übergänge und der „Revue-Flow“ stellt sich erst nach und nach ein, wahrscheinlich den Umständen geschuldet durch die herausfordernde Kommunikation mit der Szene.
Perfekte Einstiegsdroge für neue und alte Musiktheaterfans
Ein grosses Lob gilt dem Ad hoc-Chor, der spielfreudig, sängerisch lupenrein und abwechslungsreich kostümiert von Luis Trenker bis Elvis eine tolle Leistung abliefert und so engagiert ist, dass jedes Staatstheater mit Profichor neidisch werden könnte: „Das ist der Zauber der Saison“.
«Das Weisse Rössl» in Sirnach holt aus Benatzkys Erfolgsstück ganz viel Frische heraus, auch wenn die 60er Jahre mehr Kulisse sind als Inhalt. Weil das Original in der Musik steckt. Das ist gut so.
Der freche, in die 1960er Jahre transformierte Zirkus des Sirnacher Weissen Rössl ist die perfekte Einstiegsdroge für neue und alte Musiktheaterfans. Oder, um es mit dem Kaiser zu sagen: „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut.“
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