von Judith Schuck, 04.11.2021
Grellbunte Futur-Fantasien
Utopie oder Dystopie? Dank einer Anti-Aging-Wunderpille schwelgen in der Komödie «Zukunftsmusik» noch Hundertjährige in infantiler Nostalgie. Noch bis 14. November ist das Theagovia-Stück in Weinfelden zu sehen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Die Wetterprognose für Ende Dezember 2060 sagt 22 bis 24° Celsius voraus. Darum gehen die Menschen selbst kurz vor Weihnachten nur mit Sonnenbrille aus dem Haus. Der etwas tranige Protagonist Adrian (Manfred Küttel) spielt zu Beginn des Stücks mit seiner Carrera-Bahn – welche wohl für jeden Erwachsenen als Relikt aus der Vergangenheit gelten kann.
In Anbetracht der Tatsache, dass Adrian an diesem Tag 100 wird und das Stück 40 Jahre in der Zukunft spielt, aber um so mehr. Die Menschen kommunizieren über einen silbernen Knopf an der Schläfe, einem Implantat. Hierüber ruft ihn seine Tochter Sara (Carolin Schulz) an, um dem Jubilar zu gratulieren.
100 sind die neuen 50
Sein stattliches Alter hat er ohne jeglichen körperlichen Gebrechen erreicht. Dafür ist die Gen-Wunderpille «Lofogeria» verantwortlich, deren regelmässige Einnahme die Tochter scharf überwacht. Sara ist besorgt, da der Vater sein Implantat nicht so up-graded, dass sie ihn auch beim Joggen problemlos erreichen kann. Doch ob sie zu seiner Fete kommt, lässt sie noch offen – ihr Business scheint wichtiger als die Feier.
Schliesslich sei es heutzutage nichts ungewöhnliches, hundert zu werden. «100 sind die neuen 50», das hört Adrian an seinem Ehrentag noch öfters.
Ein Gentechnik-Konzern regiert die Welt
Besorgt ist Sara ausserdem um ihre einzige Tochter Cosma Luna Luna (Isabel Schenk), die ebenfalls ein Alternativprogramm zum Geburtstagsfest des Opas hat: sie geht demonstrieren. Was heute Fridays for Future sind, das sind im Jahr 2060 Demos gegen Lofo-Human-Design und seine Gentechnik. Dieser Konzern regiert inzwischen die Welt.
Die Bürger:innen werden non-stop mit Werbung für die Produkte von Dr. Lofo berieselt, was einer Gehirnwäsche gleichkommt. Wir befinden uns zwar bei «Zukunftsmusik» des Theagovia-Theaters mitten im 21. Jahrhundert; wie Dr. Lofo sich via Bildschirm bzw. Leinwand in die Wohnzimmer der Bevölkerung beamt und diese nicht nur brainwashed, sondern auch überwacht, kennen wir bereits von George Orwells Roman «1984», der im Jahr 1946 veröffentlicht wurde.
Vorstellungen von Dystopien scheinen zeitlos
Regisseurin Michaela Bauer sieht in Dr. Lofo und seinen Gen-Produkten eine Überspitzung des Néstle-Konzerns. Lofo besitzt das Monopol auf alles: Trinkwasser, Medikamente, Nahrungsmittel, Putzmittel. Und ein lebloses, dafür anti-allergisches Haustier, das Lofo-Pet, soll Stress und Einsamkeit entgegenwirken.
Analog zu vielen frühen Science-Fiction-Verfilmungen, in denen sich die gewohnten Geschlechterstereotypen auflösen sollen, werden den Darsteller:innen dafür Symbolfarben zugeordnet: Sara und Cosma tragen zu ihren blassrosa Overalls knall-pinke Bob-Perücken. Caty, die übermotivierte Dame vom Catering für die Geburtstagsfete, trägt eine gelbe Perücke und den entsprechen hellgelben Overall. Adrian durfte sein Naturhaar behalten und trägt, wenn nicht Altherrenpyjama, hellblauen Overall. Jojo, der Hacker aus dem Nachbarhaus (Manuel Schweiss), sei irgendwo dazwischen, so die Regisseurin. Darum die langen Haare und der lila Anzug.
Jeder Widerstand gegen das System soll gebrochen werden
Zumindest ansatzweise sind die Geschlechterfarben also in Zukunft noch da, auch wenn Michaela Bauer das grelle Pink für Sara und Cosma eher wegen der Signalwirkung wählte. Ihnen gegenüber stehen die schwarzgekleideten Agent:innen von Dr. Lofo, die jegliche Widerständler:innen gegen das herrschende System eliminieren sollen.
Ihre Spike-artig spitz nach oben gezwirbelten Haare gleichen Stacheln oder Antennen und drücken ihre Gefährlichkeit sowie Omnipräsenz aus. Sie haben es auf Cosma und Jojo abgesehen, die gegen das Lofo-Gentechnik-Monopol intrigieren.
Strühnchen statt veganer Alternative
In der Zukunft ist alles schlicht und funktionell. Anstelle von Möbeln gibt es einheitliche Metalleimer. Sie dienen als Sitzmöbel ebenso wie als Stauraum. Als Adrian Caty «Kaffee, Espresso oder Cappuccino» anbietet, kann die Festplanerin nur lachen: «Was für eine Zeitreise!»
Für das Geburtstagsbuffet hat sie Sushi aus kanadischen Ahornalgen vorgesehen. Diese wüchsen dort, weil der Hudson-Bay inzwischen ganzjährig eisfrei sei. Ausserdem Strühnchenbrust, eine Kreuzung aus Strauss und Huhn. Dazu Design-Gemüse sowie geklonte Gigantwachteln. Der Futur-Fantasie wird freier Lauf gelassen.
Eine kurzweilige Komödie über das, was kommen könnte
«Zukunftsmusik» malt als kurzweilige Komödie ein Bild von dem, was noch kommen könnte. Vieles davon ist vielleicht schon da oder nur gesellschaftlich immer noch nicht durchgesetzt wie Tante Lottis (Patricia Venturini) Liebesleben.
Die Schwester von Adrian trägt hippieske Züge, wenn sie zwar im blauen Space-Kostüm, aber immer mit zwei wesentlich jüngeren Lovern im Gepäck durch die Welt zieht. Diese Form der freien Liebe ist aber selbst 2060 noch bei weitem nicht von allen akzeptiert.
Wie die Corona-Pandemie das Stück veränderte
Ursprünglich hätte das Stück bereits vor einem Jahr aufgeführt werden sollen mit wesentlich düstererem Gestus. Damals drehte sich der Inhalt viel um einen Virus, der die Menschen in die soziale Isolation treibt. Diese Idee kam Michaela Bauer vor Corona. «Plötzlich waren wir in einer Pandemie. Da war klar, dass das Stück umgeschrieben werden muss.» Die Premiere wurde corona-bedingt um ein Jahr verschoben und das Ganze in eine Komödie umgewandelt.
Die Tristesse der Vereinsamung der Menschen ist als Hintergrundfolie aber immer noch spürbar. Ist doch Adrian im Grunde völlig unverstanden und verlassen. Er vermisst seine 2018 an Krebs verstorbene Frau. Seine kindliche Freude, wenn er die Kurven und Loops seiner Carrera-Bahn aufbaut, zeigt, dass er trotz seiner körperlichen und geistigen Fitness doch sehr verloren ist in dieser steril-bunten Welt. Dass er sie verdrängt und sich die Vergangenheit zurückwünscht.
Am Ende ist die grösste Hoffnung die Liebe
Hoffnungsträger sind die Jungen, Cosma und Jojo. Sie kämpfen gegen die Gentechnik-und Human-Design-Diktatur. Und sie verlieben sich. Die zwischenmenschliche Liebe wirkt, wieder ähnlich wie bei Orwell, gefährlich auf das System, da es hier um Individuen geht, die aus der Gleichmacher-Reihe tanzen.
Termine: «Zukunftsmusik» ist noch bis zum 14. November jeweils am Samstag um 20.15 Uhr und am Sonntag um 16.15 Uhr zu sehen. Tickets gibt es unter www.theaterhaus-thurgau.ch
Von Judith Schuck
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