von Inka Grabowsky, 17.09.2024
Flucht aus Neugier
Im Kult-X stellte der Ermatinger Autor Jens Koemeda seinen neuesten Roman vor. Einmal mehr widmet er sich seinem Lebensthema, der Migration. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
«Migration hat viele Gesichter», meint die literarische Übersetzerin Franziska Bolli aus Konstanz in ihrer Einführung. «Erfreulicherweise kennen die Wenigsten von uns das Gefühl, nirgendwo verortet zu sein, und um Aufnahme zu betteln, während die eigentliche Heimat einem fremd geworden ist.» Kaum jemand sei so berufen darüber zu schreiben wie Jens Koemeda, der es aus eigenem Erleben kenne, weil er nach einem Publikationsverbot aus der damaligen ČSSR habe ausreisen müssen und weil er als Psychiater oft genug mit dem Thema konfrontiert gewesen sei.
In «Die Trennung. Die unerträgliche Leichtigkeit der Lüge» nähere sich der Autor den Folgen des Lebens in der Fremde auf drei Ebenen, so die Germanistin. «Koemedas Erzähler beschreibt für seine zuhause gebliebene Frau, was seine Vorfahren im Nachkriegs-Prag erlebt haben. Er beschäftigt sich hier unter anderem mit Migration in der Vergangenheit. Mit einem Kollegen in einem Münchener Museum spricht der Erzähler über aktuelle politische Probleme, also auch über Migration in der Gegenwart. Und weil der Protagonist nur aus Lust an der Veränderung Tschechien verlassen hat, könnte er jederzeit zurück. Das wäre dann die Migration in der Zukunft.»
Freiheit ist Offenheit
Der Untertitel ist eine mehr als deutliche Anspielung auf Milan Kunderas Bestseller «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von 1984. «Ich hatte guten Kontakt zu Kundera», erzählt Jens Koemeda. «Einmal habe ich ihn sogar ins Kellertheater Breitenstein für eine Lesung eingeladen, aber er hätte nur französisch lesen wollen. Tschechisch hat er ganz abgelehnt. So kam es nicht zustande.»
Der Titel «Die unerträgliche Leichtigkeit der Lüge» erweist dem Altmeister eine Reverenz. «In Diktaturen wird immer gelogen», sagt Koemeda. «Es gibt Dinge, die man in der Öffentlichkeit nicht sagen darf, sonst ist vielleicht der Job weg oder der Studienplatz für das Kind.» Im Roman kritisiert so der Onkel des Erzählers Gert als Geschichtslehrer im Schulunterricht Mitte der achtziger Jahre die tschechoslowakische Regierung und die Sowjetunion. Er wird deshalb strafversetzt.
Noch schlimmer ergeht es einem Grossonkel von Gert. Er wird nach dem Prager Frühling als Regimegegner verhaftet. Erst weiss er nicht, wie lange seine Einzelhaft dauern wird. Später weiss er nicht, wie er im Arbeitslager einer Uran-Mine überleben soll. «Diese Ungewissheit ist unerträglich», erklärt Koemeda das zweite Wort des Untertitels. «Das haben wir Tschechen verinnerlicht: Wir fragten uns: Wie geht es weiter nach dem Prager Frühling. Alles war ungewiss. Erst glaubten wir, frei zu sein, und dann kamen die Russen und mit ihnen die sogenannte Phase der Normalisierung.»
Im Rahmen des 16. Literaturwochenendes am Untersee öffnen Gastgeber ihre privaten Häuser für Lesungen namhafter Autoren.
Freitag, 20. September 2024, 19 Uhr: Saskia Winkelmann: «Höhensangst» in Tägerwilen in der Unteren Mühle
Samstag, 21. September 2024
Bernadette Conrad: «Was dich spaltet» um 11.00 Uhr in Mannenbach in der Alten Kaplanei
Moritz Heger: «Zeit der Zikaden» um 15.30 Uhr in Berlingen im Haus zum Gries
Robert Schneider: «Buch ohne Bedeutung» um 19.30 Uhr in Ermatingen auf Schloss Breitenstein
Sonntag, 22. September 2024
Angelika Overath: «Engadinerinnen» um 11.00 Uhr in Tägerwilen in der Alte Säge
Lea Singer: «Die Heilige des Trinkers» um 15.30 Uhr in Steckborn im Turmhof
Die Hommage an Erich Kästner im Alten Debrunnerhaus am Sonntag ist bereits ausverkauft.
Kartenbestellung unter anmeldung@literaturamuntersee.ch
Autobiografische Elemente
Die Seelenverwandtschaft zwischen Autor Jens Koemeda und seiner Figur Gert ist augenscheinlich. Beispielsweise lässt er ihn im Roman seine mangelnden Deutschkenntnisse erklären: « (…) Meine Eltern, Sudetendeutsche, unterhielten sich zuhause tschechisch – die Nachkriegszeit; für Deutsche, die bleiben durften, war es oft nicht leicht.» Trotzdem beteuert der Autor: «Ich bin nicht Gert. Es ist alles aus unterschiedlichen Erfahrungen zusammenmontiert. Aber wie er bin ich Sudentendeutscher, habe Deutsch erst spät gelernt, und wie er hatte ich ein Auto des Prager Herstellers Aero.»
Koemeda erzählt, er habe den Oldtimer mit Baujahr 1929 bei seiner Ankunft in der Schweiz verkaufen müssen, um für ein paar Monate seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, bevor er seine erste Stelle als Arzt in der Chirurgie und Gynäkologie bekam. Allerdings bedingte er sich aus, den Wagen gegebenenfalls zurückkaufen zu können. «Nach 25 Jahren hat sich der Käufer gemeldet, so dass ich meinen Aero wiederbekam.»
Reinhören: Jens Koemeda liest aus seinem neuen Roman
Fleissiger Bücherschreiber
Jens Koemeda hat in den vergangenen Jahren eine hohe Produktivität an den Tag gelegt. Zuletzt erschien 2023 «Der Taxifahrer», auf dem es im aktuellen Buch eine Anspielung gibt, und 2022 «Die Helferin» als Abschluss einer Trilogie. Die Romane stellen jeweils die Erlebnisse und Erkenntnisse von Immigranten in den Mittelpunkt.
In seinem nächsten Projekt aber widmet sich Koemeda für einmal einem Dissidenten, der nicht aus seiner Heimat geflohen ist, sondern sich arrangierte: Er arbeitet an einem Buch über Emil Zátopek, der als Langstreckenläufer bei den olympischen Spielen in Helsinki 1952 drei Goldmedaillen für die Tschechoslowakei geholt hat. Seine Frau Dana Zátopková war als Speerwerferin erfolgreich. «Das Paar wurde quasi vergöttert. Als sie sich für den Prager Frühling einsetzten, war das immens wichtig. Doch unter dem Druck des Regimes musste Zátopek sein Engagement widerrufen. Ich mache im neuen Buch das Gewissen zu meinem Thema.»
Koemeda war als Medizinstudent Mitglied der tschechoslowakischen Junioren-Nationalmannschaft für Leichtathletik und hatte so Kontakt zum illustren Ehepaar: «Dana hat mich in Prag in Diskus-, Hammer- und Speerwurf trainiert. Ich habe zwei Jahrzehnte später brieflich Kontakt zu ihr aufgenommen. Letztendlich konnte ich sie zuhause besuchen und hatte seitdem ein vierseitiges Interview zu den Vorgängen damals auf dem Schreibtisch.»
Das Buch
Adolf Jens Koemeda: «Trennung. Die unerträgliche Leichtigkeit der Lüge», erschienen im Münsterverlag, kostet 20 Franken.
Von Inka Grabowsky
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