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von Judith Schuck, 16.03.2021

Eine unendliche Annäherung

Eine unendliche Annäherung
Maria Xagorari am Zeichenbrett. | © Judith Schuck

Die Malerin Maria Xagorari kam vor 5 Jahren von einer kargen, griechischen Insel in die üppige Bodenseelandschaft. Das hat ihre Kunst verändert. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Unter dem sich automatisch öffnenden Eingangstor winkt keine Malerin im farbbeklecksten Overall  zur Begrüssung hindurch. Ebenfalls nicht die Künstlerin im extravaganten Outfit, das ihren Freigeist zur Schau stellen soll. Maria Xagorari ist praktisch und unauffällig gekleidet – Bluejeans, grauer Pulli und Sneakers.

Ihr Arbeitsplatz befindet sich im Souterrain eines Wohnhauses in Kreuzlingen. Regale mit Malutensilien oder Naturalienmodelle wie getrocknetes Schilf, Moos oder Äste, Staffeleien mit Zeichnungen, grossformatige Ölbilder, Studien und Fotos von wurzeligen Baumstümpfen aus verschiedenen Perspektiven, die als Vorlage dienen, säumen den Raum, der eher praktisch ausgestattet ist.

Ein bequemer Bürostuhl, keine Design-Ikone oder Flohmarktrelikt; ein schwerer Stahlschrank mit Schubfächern für die Aufbewahrung der Zeichnungen; die in Arbeit befindlichen Bilder hängen an der Wand.

«Ich möchte emotionale Zustände, Gefühle darstellen und nicht das Aussehen.»

Maria Xagorari, Malerin (Bild: Judith Schuck)

Fragt man Maria Xagorari, was sie will mit ihrer Kunst, dann sagt sie sehr klar, sie wolle jedenfalls nicht porträtieren und den speziellen Charakter eine Person herausarbeiten. Was dann?

«Ich möchte emotionale Zustände, Gefühle darstellen und nicht das Aussehen.»

Der Mensch in ihren Gemälden stehe für etwas Universelles. «Würde ich Charaktermenschen malen mit einem besonders auffälligen Äusseren, würde dies nur ablenken von meiner Intention, das Wesen, ein Gefühl darzustellen.»

Manche Ölbilder erinnern an William Turner

Xagorari stammt von Syros, einer Insel in der Ägäis. Sie wuchs am Meer auf und wie sie erzählt, in einer kargen, steinigen Landschaft. «Alles, was dort wachsen will, muss kämpfen», beschreibt sie die Flora der Kykladeninsel. Manche ihrer Ölbilder erinnern an den britischen Impressionismusvorreiter William Turner.

Ähnlich wie die MalerInnen der Romantik und des Impressionismus strahlen ihre Werke eine gewisse Ruhe aus. Ihre Malweise hänge mit ihrer Herkunft zusammen: «Das Licht in Griechenland bricht die Konturen.» Noch stärker als das gleissende, mediterrane Licht, habe sie aber der Wind beeinflusst. Auch der Wind verwischt die klaren Formen.

Wie in einer Traumlandschaft «Das Bett im Wasser». Bild: Judith Schuck

Explosion von klaren Formen und Farben

Gezeichnet und gemalt habe sie schon immer, sagt sie. «Ein Leben ohne zu malen kann ich mir gar nicht vorstellen.» Mit 12, 13 Jahren hatte Maria Xagorari eine Kunstlehrerin, die sie eng begleitete und bei ihren ersten Schritten im Kunststudium zur Seite stand. Seit fünf Jahren lebt sie in der Schweiz, wieder sehr nah am Wasser.

Die Umgebung habe sie schon immer stark geprägt. «Je reifer ich werde, desto mehr spüre ich, welche Rolle diese Umgebung spielt.» Als sie Ende 2016 hierher kam, brach die schweizer Landschaft wie eine Explosion über sie herrein. In vollem Saft stehende Wälder und Wiesen, Berge und Seen – «die Formen waren so klar, ich konnte alle Konturen deutlich sehen! Das war ich nicht gewohnt.»

«Ich habe fünf Jahre gebraucht, um mein Gleichgewicht zu finden.»

Maria Xagorari, über ihr Ankommen in Kreuzlingen

Das schweizer Licht führte dazu, dass sie neue Techniken entwickeln musste. «Ich habe fünf Jahre gebraucht, um mein Gleichgewicht zu finden», resümiert die Künstlerin, die zufrieden und verblüfft vor ihrem neuesten Bild steht: kräftige Pink- und Rottöne, beinahe eine monochrome Farbfläche in luzider Malweise. Mittig schält sich ein Ruderboot aus dem grellen, wohl vom Sonnenuntergang tiefrosa-verfärbten Wasser, die Konturen nur angedeutet und mit Softpastellekreide leichte, weisse Lichtakzente gesetzt.

Normalerweise male sie sehr lange an ihren Bildern. Doch dieses hier sei ganz schnell «passiert».

Ein Bild, das die Künstlerin selbst überrascht: Maria Xagorari vor einer ihrer neuesten Arbeiten. Bild: Judith Schuck

Der Betrachter soll Freiraum bekommen

Einige ihrer Werke sind mehrteilig, gegensätzliche oder sich ergänzende Dyptichen. Die Sujets wiederholen sich. Das Bett in Form von Kissen und Tuch, die Bäume, Schilf und Wasser, das Boot. Die Details sind sorgsam ausgearbeitet, aber die Darstellung beschränkt sich auf das Wesentliche.

Die Motive sind verfremdet, aus ihrem gewohnten Zusammenhang gerissen. Das Kissen lehnt im Wasser am Schilf. «Das Bett ist für mich ein sehr intimer Ort, er bietet Ruhe und Schutz.» Der Baum kam erst in der Schweiz hinzu. Sie male inzwischen überhaupt keine Menschen mehr. Doch alles, was sie male, stehe metaphorisch für den Menschen, für den Gefühlsmoment eines Menschen.

Die Wurzeln könnten Knochen sein, das Tuch ein liegender Körper. Diesen Schritt der Entfremdung ins Antropomorphe geht sie, «damit man nicht über die Person spricht. Ich wollte weiter weg von der Erzählung, die man gleich zu einem Menschen hat. Ich wollte keine bestimmte Geschichte erzählen, sondern Freiraum für den Betrachter lassen.»

Die Nähe von Malerei und Poesie

In ihrer Kunst sieht sie eine Nähe zur Poesie in dem Sinne, dass sie versucht, das «unausgesprochene Dahinter» sichtbar zu machen, auf der Suche nach einer universellen Verständlichkeit. Dabei steht bei ihr die sinnliche Wahrnehmung vor der kognitiven. Es funktioniere ein wenig wie mit der Asymptote in der Mathematik: «Es geht nicht um die genaue Bedeutung.»

Obwohl man sich vielleicht immer mehr annähert, wird die Bedeutung als solche nie ganz fassbar. «Bilder machen hat für mich genau dieses Ziel: dem Unerreichbaren näher kommen. Und ich glaube, Poesie macht das Gleiche.»

Arbeitsmaterial leere Gebäckschachteln, Joghurteimer oder Ricottabecher tuns gut. Bild: Judith Schuck

 

Die Künstlerin

Maria Xagorari sudierte an der Aristoteles Universität in Thessaloniki Bildende Kunst. Sie ist Mitglied der Visarte Schweiz und zeigte 2020 in der St. Galler Galerie vor der Klostermauer die Ausstellung «Aus dem Gedächtnis eines Körpers» sowie in der Galerie Baliere in Frauenfeld «Heilschlaf – von Wurzeln träumen». Die Corona-Zeit kann sie positiv für sich nutzen. Maria Xagorari erlebt momentan eine sehr kreative Zeit.

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Atelier Maria Xagorari

8596 Scherzingen

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