von Inka Grabowsky, 23.05.2024
Ein Leben nach dem Tod
Die Iselisberger Schriftstellerin Michèle Minelli hat mit dem Roman «All das Schöne» für die Geschichte einer Trauer poetische Bilder gefunden. Die Leser begleiten eine verzweifelte Witwe ein Jahr lang auf dem Weg zurück ins Leben. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
«Es ist nicht mein einfachstes Buch.» So kommentiert Michèle Minelli ihren Roman «All das Schöne». Dem Leser kommt es anders vor. Die 93 Seiten sind schnell geschafft. Die Liebesgeschichte von Jakob und Elisa ist auktorial in der Vergangenheit erzählt und beinhaltet genügend komische Elemente, um die Trauer aufzubrechen, die Elisa als Ich-Erzählerin in der Gegenwart umfängt.
Die beiden Perspektiven wechseln sich ab. Und damit sich wirklich niemand in den Zeitebenen verläuft, hat Minelli jeder Phase im Leben der Protagonistin unterschiedliche Katzen zugeordnet. Elf Zeichnungen von Janine Grünenwald – Schafe, Rehe, Vögel, Pflanzen - setzen einen idyllischen Ton. Die Natur hilft der Hauptfigur bei der Bewältigung des Verlusts.
Im Thurgau verortet
Michèle Minelli legt mit «All das Schöne» ein persönliches Buch vor. «Es ist nicht autobiografisch, aber es hat doch etwas mit mir zu tun. 2016 ist eine Freundin gestorben, und ich wollte danach Sterben und Trauern für mich bearbeiten. Damals habe ich die ersten Skizzen gemacht.» Während Corona hat die Autorin das Thema wieder aufgenommen. In der amtlich verfügten Isolation wurde das Zuhause von Michèle Minelli zum Vorbild für den literarischen Schauplatz.
Nachdem 2020 der Verlag Saatgut mit seinem kantonal geprägten Programm das Werk angenommen hatte, waren konkrete Thurgauer Bezüge gefordert. «Dabei konnte ich meinem Heimatdorf Iselisberg ein Kompliment machen. Während der Pandemie haben alle zusammengehalten, so wie die Romanfiguren bei der Unterstützung der Trauernden. Und es gab tatsächlich einen fahrenden Händler, wie im Buch beschrieben.»
Durch die literarische Bearbeitung ist der Stoff distanziert genug, um allgemeingültige Erkenntnisse über den Umgang mit Trauer zu gewinnen. Minellis Lebensgefährte, der Autor und Schauspieler Peter Höner, sieht das allerdings kritisch: «Peter ist der Schauplatz ‹Iselisberg› zu nah. Wir haben lange diskutiert. Aber meine Toten sind mir präsent. Es wurde Zeit, mich damit auseinanderzusetzen. Und ich brauche dafür Figuren, die ganz anders sind als reale Menschen in meinem Umfeld.»
Eine traditionelle Paarbeziehung
Die Figur des Jakob hat von Michèle Minelli die Liebe zur Mongolei bekommen und von einem befreundeten Arzt die Einstellung zu seiner unheilbaren Krankheit. Als Mediziner weiss er, was auf ihn zukommt und entscheidet sich bewusst gegen eine Behandlung.
Sie würde seines Erachtens das Ende nur herausschieben, aber nicht verhindern. «Ich wollte ihn als Gegenpart zu Elisa», so die Autorin. «Er steht fest im Leben, hat eine Karriere als Arzt und ein humanitäres Engagement bei ‹Ärzte ohne Grenzen› hinter sich, ist ein geschickter Handwerker und Gärtner. Er ist gewöhnt, dass man zu ihm aufschaut. Das tut sie – und sie lernt.» Sie habe die Figur der Elisa bewusst sehr lernbegierig angelegt, erklärt Minelli. «Elisa nutzt Fachbegriffe, die eigentlich gar nicht zu ihr passen.»
Die ersten Sätze des Romans lauten dementsprechend:
«Der Ofen ist kalt. Behutsam ziehe ich den Schieber. Rauchgasdrosselung. Die Lötstelle blitzt mir entgegen, da, wo du das Gusseisen der Drosselklappe geflickt hast.»
Rationale oder emotionale Reaktion
Trotz dieses Wissens ist Elisa keine Ofenbauerin. Sie hat gar keinen Beruf, hat immer von Aushilfsjobs gelebt. Nachdem Jakob als ihre Stütze wegfällt, muss sie lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie macht damit zum zweiten Mal eine Emanzipation durch.
Zunächst musste der schon ältere Jakob sie nach einer Scheidung wieder beziehungsfähig machen. Und nachdem er ihr Vertrauen gewonnen hat und das Paar einige schöne Jahre mit Höhen und Tiefen verlebt, stirbt er. Seine Schwester kommentiert realistisch wie eindringlich: «Du warst nicht ahnungslos, du hast es gewusst, als du dich auf ihn eingelassen hast, Jakob hat es dir nicht verschwiegen. Es war dir ganz bekannt.» Minelli meint: «Die Schwester war für mich beim Schreiben eine interessante Figur. Sie spannt ein Auffangnetz und hält sich dann vornehm zurück.»
Keine exemplarischen «Phasen der Trauer»
Fachliteratur zu den «Phasen der Trauer», wie sie Elisabeth Kübler-Ross mit den Etappen Leugnung, Ärger, Feilschen, Depression und Akzeptanz Ende der sechziger Jahre postulierte, hat Minelli bewusst nicht konsultiert. «Ich habe meine Gefühle als Vorbild genommen. Ziel war es, das Jahr nach dem Tod eines geliebten Menschen schildern.»
Vieles wird Menschen mit Trauererfahrung vertraut sein: Elisa glaubt ihren verstorbenen Mann in Passanten in der Stadt wiederzuerkennen; anfangs hält sie es nicht aus, dass andere von ihm reden und zieht sich deshalb aus der Gesellschaft zurück. Hilfreich ist das nicht: «Ich wollte die störrische Frau scheitern lassen», so Minelli. «Und ich wollte zeigen, was ihr passiert, solange sie keine Hilfe annimmt.»
Das Buch endet hoffungsvoll. Es gibt für Hinterbliebene ein Leben nach dem Tod eines geliebten Menschen, auch wenn es zunächst nicht so aussehen mag.
Das Buch erscheint am 28. Mai
Buch Vernissage von «All das Schöne» von Michèle Minelli am Dienstag, 28. Mai im Pavillon des Murg-Auen-Parks in Frauenfeld. Beginn 18.30 Uhr.
Lesung von Michèle Minelli
Gespräch mit Cornelia Mechler, Präsidentin des Vereins, der den Saatgut-Verlag stützt
Musik von Räto Harder.
Der Roman ist im Saatgut-Verlag erschienen und kostet 28 Franken.
Von Inka Grabowsky
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