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von Rolf Breiner, 17.01.2025

Das Drama eines Lebens

Das Drama eines Lebens
Vor Gericht: Frieda Keller muss sich wegen des Mordes an ihrem Kind verantworten. Szene aus dem Film «Friedas Fall», der ab 23. Januar in die Kinos kommt. | © Condor Films

Die Geschichte der Kindsmörderin Frieda Keller bewegte 1904 die Ostschweiz. Jetzt kommt der Fall ins Kino. Der Film basiert auf einem Roman der Thurgauer Autorin Michèle Minelli. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Frieda Keller, 1879 in Bischofszell geboren, war das fünfte von elf Kindern des Ehepaars Jakob und Anna Keller-Kobi. Sie arbeitete sehr früh in der Stickereiindustrie und begann als 16Jährige eine Lehre als Damenschneiderin. Um sich Zustopf zu verdienen, kellnerte sie im Wirtshaus «Zur Post» in Bischofszell. Der Wirt, ein Freund ihres Vaters, vergewaltigte die junge Frau mehrfach. Frieda wurde1898 schwanger. Sie verliess Bischofszell und fand bei Luise Tremp einen Job als Schneiderin.  

Ihre Schwangerschaft blieb bis acht Wochen vor der Geburt verborgen. Luise Tremp wurde eingeweiht, war auf ihrer Seite und informierte Friedas Eltern. Der Vater verstiess sie. Friedas Kind Ernst wurde 1898/99 geboren und in der Kinderbewahrungsanstalt «Tempelacker» in St. Gallen untergebracht. Der verheiratete Vergewaltiger Karl Zimmerli wusste davon, scherte sich aber keinen Deut um den unehelichen Sohn Ernst – bis auf 80 Franken, die er der Anstalt zukommen liess. Strafrechtliche Konsequenzen hatte er dazumal nicht zu befürchten. Eine Klage auf Vaterschaft hatte in diesem Fall keine Chance.

Die Situation dramatisierte sich für Frieda Keller, als die Anstalt ihr mitteilte, dass Ernst das Heim aus Altersgründen verlassen müsse. Im Mai 1904 holte Frieda ihren Sohn aus dem «Tempelacker» ab und verschwand mit ihm im Hagenbuchwald in St. Fiden (St. Gallen). Sie erdrosselte den Buben.

 

 Überzeugt als «Verlorene» voll und ganz: Die St. Galler Schauspielerin Julia Buchmann spielt Frieda Keller. Bild: Condor Films

Der Prozess wurde intensiv verfolgt von der Öffentlichkeit

Das Schicksal dieser Frau aus dem Thurgau beschäftigte die Öffentlichkeit Anfang des 20. Jahrhunderts – und 20 Jahre später eine Schriftstellerin. «lange bevor Frieda Keller zu einem Dossier mit der Signatur GA 002/329 zusammenfiel, war sie einmal ein Mensch», schrieb Michèle Minelli im Nachwort zu ihrem Roman Die «Verlorene». «Dieses Buch schrieb sich fast von selbst. Gestützt auf Frieda Kellers Lebensbeschreibung, zahlreichen Gerichtsakten, Zeitungsartikeln und Briefen, zum Teil in Wortlaut und Orthographie übernommen, war mir wichtig, ein Bild jener Zeit zeichnen, das – so hoffe ich – heute noch berührt». 

Berührt hat der Fall dazumal viele Menschen, vor allem auch wegen des Todesurteils. Der Prozess wurde ausgiebig von den Zeitungen «Tagblatt der Stadt St. Gallen» und «Die Ostschweiz» verfolgt und beschrieben. Proteste gegen die Todesstrafe und das patriarchalische Rechtssystem sowie internationale Aufmerksamkeit blieben nicht ohne Folgen. Der Druck der Öffentlichkeit trug wesentlich dazu bei, dass Frieda kein Opfer der Guillotine wurde.

Maria Brendle hat den Stoff aufgegriffen und verfilmt: «Friedas Fall». Erste Einstellungen zeigen Alltagsbilder vom St. Galler Klosterhof und gutbürgerlichem Treiben. Wir sehen, wie Frieda (Julia Buchmann) ihren Buben Ernstli hätschelt, liebevoll bemuttert. Das Unheil, die Tat, werden ausgespart. Allein der Leichenfund im Wald wird rekonstruiert. 

Video: Trailer zum Film

Ein Staatsanwalt, der sich profilieren will

Der Filmfokus ist ganz auf Frieda, den Prozess und Beteiligte gerichtet. Die Schneiderin Frieda kommt bei ihrer Schwester Bertha (Liliane Muat) zeitweilig unter. Es wird für sie kritisch, als sie den unehelichen fünfjährigen Sohn versorgen muss. Der Mutter fehlte das nötige «Kleingeld», um Ernstli unterzubringen.

«Als ich gar einsehen musste, dass ich durch die von mir verlangte Entfernung des Knaben aus dem Kindergarten, wo er ein sicheres und verborgenes Heim gefunden hatte, das lange, angstvoll gehütete Geheimnis preisgeben müsse und dass ich die Schande, unehelich geboren zu haben, nicht mehr länger verheimlichen könne, gewann jener schrecklicher Gedanke alle Macht über mich», schrieb Frieda Keller in ihrem Gnadengesuch. «Gott weiss, wie es in meinem Inneren aussah; ich habe die Tat nicht aus Hass oder Abneigung gegen mein Kind begangen, aber die Furcht der öffentlichen Schande und Verachtung anheimzufallen, brachte mich derart in Verwirrung und Verzweiflung, dass ich nicht mehr klar denken und hienach zu handeln vermochte.» 

Im Filmfall steht der Prozess im Zentrum und mit ihm Staatsanwalt Walter Gmür (Stefan Merki) und Verteidiger Arnold Janggen (Max Simonischek). Gmür war ehrgeizig und war als St. Galler Grossrat im Gespräch. Ihm waren keine Kinder vergönnt, das war auch ein Grund, Frieda mit aller Härte zu verfolgen: «Den Tod hat sie sich verdient.» Da stand Anwalt Janggen auf verlorenem Post, auch weil sich Frieda ihm anfangs verweigerte. Sie wollte nichts beschönigen, wollte bestraft werden. 

Aus humanitären Gründen setzte sich Ema (Rachel Braunschweig), Frau des Staatsanwalts, für Verbesserung der Lebensbedingungen der Angeklagten in der Zelle ein. Das ging so weit (im Film), dass Ema der Inhaftierten Schneiderarbeiten zutrug und sie im Notfall als Bedienstete bei einer wichtigen Tafelrunde einsetzte. Doch die juristische Männerwelt war unerbittlich. Das Justizdrama handelt einerseits von der Situation der Frau in einem patriarchalischen System, andererseits um Recht und Gerechtigkeit. 

 

Stehen im Zentrum des Films: Staatsanwalt Walter Gmür (Stefan Merki, rechts im Bild) und Verteidiger Arnold Janggen (Max Simonischek). Bild: Condor Films

Packendes Psychodrama

Basierend auf der wahren Geschichte der Näherin und Kindsmörderin Frieda Keller, schuf Maria Brendle ein packendes Psychodrama, einen bewegenden Justizfilm, der über den eigentlichen Prozess hinausging. Die Filmer und Autorin, 1983 in Singen geboren, studierte an der Zürcher Hochschule der Künste und machte mit ihrem Kurzfilm «Ala Kachuu – Take and Run» infolge einer Oscar-Nomination 2022 auf sich aufmerksam. Ihr Langspieldebüt «Friedas Fall» besticht durch Authentizität. Sie zeichnet ein Gesellschaftsbild, das Spuren hinterlässt – besonders was die Rolle der Frau in der Schweiz angeht. 

Markant dazu beigetragen hat auch die St.Galler Schauspielerin Julia Buchmann als Frieda, die 2019 im «Tatort: Züri brennt» und 2022 in «Borowski und der Wiedergänger» mitwirkte. Sie überzeugt als «Verlorene» voll und ganz. Frieda, die Geschundene, überforderte Frau, nach dem Tode ihrer Eltern sich selbst überlassen: «Das Leben ging also weiter Tag für Tag, und dann kam dieser eine verzweifelte Morgen und mit ihm ein verzweifelter Tag, an dem Frieda wusste, sie würde ihren Ernstli holen. Und so führte am 2. Mai 1904 eine Frau ein kleines Kind an der Hand in den Wald hinein. Die beiden gingen stumm. Die Frau wusste, mit diesem Kind würde sie den Wald nie mehr verlassen», ist in Minellis Roman zu lesen. 

Der Spielfilm, unter anderem vom Lotteriefonds Thurgau und von der Kulturförderung St. Gallen unterstützt, endet mit dem Todesurteil und der Begnadigung. 1919 wurde Frieda Keller aus der lebenslangen Haft entlassen. Sie fand 1931 eine Anstellung im Kanton Bern, war aber durch die lange Isolationshaft depressiv. 1937 wurde sie infolge eines Hirnschlags 1938 ins Bezirksspital Thun eingewiesen, anschliessend in die Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen verlegt, schliesslich in die Irrenanstalt Münsterlingen, wo sie im September 1942 starb. 

 

Die Tat: Frieda Keller (Julia Buchmann) im Wald. Bild: Condor Films

 

Premiere, Kinostart und eine Reportage vom Filmdreh

Die Premiere des Films fand am 9. Oktober 2024 als Gala Premiere beim Zürich Film Festival 2024 statt. Ein regulärer Kinostart in der Deutschschweiz ist für den 23. Januar 2025 geplant. Mehr zu den Dreharbeiten, die unter anderem im Thurgau stattfanden, kannst du hier nachlesen.

Michèle Minelli zur Verfilmung «Friedas Fall»

Die Zürcher Schriftstellerin Michèle Minelli (56) Schriftstellerin lebt in Iselisberg im Thurgau. Sie veröffentlichte 2015 den Roman «Friedas Fall». Neuauflage zum Filmstart (aufbau taschenbuch 2024). Im Interview erläuterte sie ihre Arbeit als Drehbuchautorin.

 

Wurde Ihr Drehbuch stark verändert?

Ich will die Änderungen nicht aufrechnen, aber ich kann sagen: Sie hat zwei, drei Entscheidungen getroffen, die ich nie getroffen hätte, ich hätte den Mut nicht gehabt, die Geschichte so zu fiktionalisieren, auch weil ich das Buch, den Roman geschrieben habe. Das finde ich auch richtig, dass sie diesen Schritt gemacht hat.

Dies ist ja ein historischer Fall. Wie viele Recherchen stecken in dem Buch?

2015 kam der Roman «Die Verlorene» heraus. Das ist die Lebensgeschichte von Frieda Keller – von ihrer Geburt bis zum Tod. Der Dokufiction-Roman war die Grundlage für meine Drehbuchentwicklungen. Für ihn habe ich mich in die Akten gestürzt – ins Staatsarchiv St. Gallen, ins Staatsarchiv Thurgau und in viele andere kleine Archive.

Gibt es grosse Unterschiede zwischen Roman und Film?

Der grösste Unterschied besteht darin, dass der Roman die gesamte Lebensgeschichte der Frieda Keller abbildet. Der Film konzentriert sich auf die Tat, auf den Prozess bis zur Verurteilung. Der zweite grosse Unterschied ist die Art: Dokufiction. Das bedeutet: ich hielt mich beim Buch an die Fakten und Akten. gehalten, soweit ich sie festmachen konnte. Der Film fiktionalisiert mehr, und das hat Maria sehr gut gemacht, finde ich.

Der Fall an und für sich stimmt oder?

Ja, der Fall ist korrekt.

Stimmt es auch beim Staatsanwalt und seiner Frau?

Real ist der Verteidiger:  Sein Name stimmt und er war mit einer Schauspielerin aus Deutschland verheiratet. Den Staatsanwalt gab es natürlich, seine Frau aber, die Erna, habe ich für den Film dazu erfunden. Sie liegt mir sehr am Herzen. Im Film ist der Staatsanwalt kinderlos, um die Situation zu verschärfen.

Ein zentrales Thema des Films ist die Todesstrafe. Zu sehen sind auch Proteste und Demonstrationen damals 1904. War das wirklich so?

Es ist belegt, dass der vaterländisch orientierte Grütliverein, aus dem die SP hervorging, sich zu dieser Zeit stark gegen die Todesstrafe engagiert hat. Real ist auch, dass aus allen Schweizer Landesteilen Briefe und Bittschriften eingegangen sind, die forderten, Frieda Keller zu begnadigen. Die Diskussionen um die Todesstrafe – aufgrund ihres Falles – und um die Ungleichheit der Frauen gegenüber den Männern vor dem Gesetz wurden sehr hitzig geführt.

 

Interview: Rolf Breiner

 

 

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