von Judith Schuck, 23.05.2024
Die Zeit: Messbar, aber kaum fassbar
Im Theaterstück „Schildkröten haben Zeit“ nehmen uns neun Frauen mit auf eine erkenntnisreiche Reise. Die Eisenwerkproduktion feiert am 30. Mai Premiere. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Wir alle kennen es nur allzugut: Obwohl wir in einer Überflussgesellschaft leben, leiden fast alle an einem grossen Mangel, dem Mangel an Zeit. In unterschiedlichen Lebensphasen nehmen wir Zeit anders wahr. Je älter wir werden, desto schneller scheint sie zu verstreichen. Wenn wir warten, zieht sie sich oft endlos in die Länge und wir werden unruhig: „Was könnten wir in diesem Moment alles mit dieser Zeit anfangen!“
Denn Zeit ist wertvoll. Zeit ist Geld. Wie viel sie allerdings wert ist, kann pauschal nicht bestimmt werden. Fritzli Gwunder ist im Stück ein sechsjähriger Junge, gespielt von Gerti Ledergerber. Fritzli erzählt, wie schön seine Kindheit war: „Ich habe sooo viel Zeit, das ist so schön. Zeit zum Spielen, Lachen und Träumen.“
Die Grossen schimpften immer, dass sie Zeit verlören. „Ich kann das gar nicht verstehen, wo geht denn die Zeit hin?“, frag Fritzli. Später mal, „irgendwann“, da will Fritzli Zeitfinder werden.
Geld verdienen und Träume erfüllen
Als er in die Schule kommt, hat er schon nicht mehr so viel Zeit zum Spielen. Aber er will ja auch gut lernen, damit er Zeitfinder werden kann. Als junger Erwachsener kann Fritzli selbst über seine Zeit verfügen, will aber erst viel schaffen, um genug Geld zu verdienen. Dann kann er sich später all seine Träume erfüllen.
Am Beispiel von seinem Lebensweg beschreibt uns Fritzli im Stück „Schildkröten haben Zeit“, wie er die Zeit in seinem Leben wahrnimmt. Irgendwann hat er es geschafft. Es war zwar ein Krampf, aber er hat genug Geld erwirtschaftet, um sich alles leisten zu können.
„Eigentlich könnte ich glücklich sein, aber meine Freunde und Familie beklagen sich, ich hätte zu wenig Zeit für sie. Habe ich überhaupt Zeit für mich? Oder nehme ich sie mir nur nicht?“ Der Rückblick auf seine Lebensphasen lässt ihn zu einer traurigen Erkenntnis kommen: „Statt Zeitfinder zu werden, habe ich die Zeit verloren.“
Fünf Phasen unterschiedlichster Länge und Dichte
In der Erwachsenenproduktion 2023/24 des Eisenwerks beleuchten neun Figuren das Phänomen anhand von fünf Phasen. Manche packen diese fünf Phasen in einen Zeitraum von zwei Wochen zeitlich dicht beisammen. Andere, wie Fritzli, resümieren ihr komplettes Leben, kompakt erzählt. „Manche starten jung, manche alt“, erklärt die Regisseurin Petra Cambrosio.
Ludmila, die Maus, ist beispielsweise vier Jahre alt, während Hermine, die Schreibmaschine, bereits 111 Jahre zählt. Schön gespielt von Verena Hurter ist auch der Stein Surimutz. Er hat 102 Jahre auf dem Buckel. Mit tiefer, rauer Stimme und mühsam gebückter Haltung verkörpert Verena Hurter seine Schwere und Last. Er ist der Stolperstein, der mitten auf dem Weg ruht und die Eiligen, die weder nach links noch rechts schauen, zu Fall bringt.
Haben wir zu wenig Zeit?
Luna Farina Beck (Désirée Bärtsch) besucht das Zeitmanagement-Seminar von Lifetimecoach Yvonne (Anne Kathrin Bürgin). Luna will eigentlich gar nicht daran teilnehmen. Die leidenschaftliche Bäckerin müsste jetzt Brötchen backen. „Aber meine Freunde glauben, so ein Seminar täte mir gut.“ Sind wir selbst es, die zu wenig Zeit haben, oder die Menschen um uns herum, die mehr Zeit von und mit uns fordern?
Die Seminarleiterin läutet ihren Kurs mit einem Lied ein, das melancholisch stimmt: „Die Schatten werden schon länger, die Zeit ist auf der Flucht, es ist schon mehr vorbei, als noch kommen wird, der Sommer schleicht davon. Du hörst nur noch sein Echo. Komm, blas´ noch mal ins Feuer und pflanz´ noch mal einen Baum. Kauf dir ein neues Paar Schuhe.“
Wie können wir mit Zeit umgehen? Aufhalten geht nicht. Aber wie sinnvoll nutzen? „Die Zeit läuft mir davon. Ich habe keine Zeit. Ich komme sicherlich zu spät. Es ist alles eine Frage der Zeit. Ich habe alle Zeit der Welt. Und jetzt? Ich bin völlig überfordert.“ In den Raum geworfene Phrasen, die uns nur allzu bekannt vorkommen.
Stück als Gemeinschaftsprojekt erarbeitet
Das Thema erarbeitete das Ensemble selbst. Eine Verbindung zu Michael Endes Momo liegt nahe, „wir alle kennen das Buch und haben uns davon inspirieren lassen“, sagt Petra Cambrosio. Die Figuren sind von den Ensemblemitgliedern frei erfunden, alles Laiendarstellerinnen, die grossteils zum ersten Mal auf der Bühne stehen.
Die Regisseurin ist glücklich über ihre Gruppe. Alle seien hoch motiviert, viele hätten grossen Spass am Bewegen. Einen Teil der Choreografie erarbeiteten sie mit der Tänzerin Mirjam Bührer. Jede bringt ihre Ideen ein und bekommt auch ihren Raum dafür.
Das gute Miteinander ist bei der Probe knapp zwei Wochen vor der Premiere spürbar. „Die meisten Schauspielerinnen haben sich auf eine Ausschreibung hin gemeldet, einige habe schon in Eisenwerkproduktionen mitgespielt“, sagt Cambrosio. Für alle sei aber Zusammenarbeit mit Profis wie Bühnenbauer:innen und Kostümbildnerin neu.
Wie im Leben: Unfälle fordern uns heraus
Speziell ist auch die Situation von Monika Rüegg, die den Vermesser Milo spielt. Während der Probearbeiten musste sie sich ihren Fuss operieren lassen. Sie kann ihn aktuell nicht belasten, „darum haben wir nach einer Lösung gesucht und sie gefunden“, so Cambrosio. Monika Rüegg spielt nun in sitzender Position im Rollstuhl, für sie eine komplett neue Erfahrung.
Dieser Perspektivwechsel habe auch dem Stück neue Ansätze verliehen. „Der Rollstuhl hat zu einer Verlangsamung geführt. Da ist eigentlich was Schönes draus geworden“, sagt Petra Cambrosio. Wie im wahren Leben, in dem uns unerwartete Geschehnisse, Unfälle oder Krankheiten da zu zwingen, den Fuss vom Gaspedal zu nehmen.
Das Ensemble kann mit diesem neuen Fortbewegungsmittel ganz anders umgehen, ihn mal schieben, mal drehen oder einen leicht Stubs geben, was die Szene um eine Bewegungsmöglichkeit bereichert.
Kosmisches Bühnenbild
Glücklich ist Cambrosio ausserdem über das Bühnenbild von Erika Gedeon und Stefan Schmidhofer von LaborRaum aus Zürich. Sie hätten erstmals den Bühnenraum im Eisenwerk komplett miteinbezogen und aufgenommen. Hierzu darf noch nicht allzu viel verraten werden. Auch nicht zum Schluss des Stücks „Schildkröten haben Zeit“, nur so viel: Es wird kosmisch.
Alle Aufführungstermine
Erwachsenenproduktion 2023/24, Schildkröten haben Zeit:
Premiere: 30. Mai, 20 Uhr
31. Mai, 20 Uhr
1. Juni, 19 Uhr
2. Juni, 19 Uhr
5. Juni, 20 Uhr
6. Juni, 20 Uhr
Dernière: 7. Juni, 20 Uhr
Von Judith Schuck
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