von Anabel Roque Rodríguez, 23.12.2021
Die Macht der Bilder
Wie macht man künstlerisches Denken sichtbar? Die Galerie Kirchgasse in Steckborn findet einen spannenden Ansatz. Inspiriert von Gedanken von Aby Warburg. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Bilder prägen unser Denken und welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen. Welche Bilder zirkulieren, wenn über Ereignisse berichtet wird? Welches Bild erscheint vor unserem geistigen Auge, wenn wir einen Begriff hören? Wie ordnen wir die Flut an Bildern mit denen wir es täglich zu tun haben? Bilder haben Macht Gedanken zu formen.
Lenken wir den Blick in die Kunstwelt, grenzen wir Werke häufig durch eine Chronologie oder Einordnung in Stile ein. Dabei lohnen sich Ansätze in denen Kunstwerke in Kontexten gesehen werden und in denen der Kontext selbst thematisiert wird. Denn wie Dinge in Bezug gesetzt werden, sagt viel über die Sozialisierung und Haltung jedes Einzelnen oder eines ganzen Forschungszweiges aus.
Aby Warburg ins Heute überführen
Vielleicht ist genau das der Grund, warum der Bilderatlas Mnemosyne des Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866–1929) bis heute so grosse Faszination ausübt. Man muss sich das ganze wie grosse visuelle Mind Maps vorstellen, die eine Art Brücke zwischen dem alten Konzept eines Zettelkastens und visuellen Hyperlinks darstellen.
Der Atlas bestand in seiner letzten Version aus 63 großen schwarzen Tafeln, auf denen Warburg fotografische Reproduktionen von Kunstwerken aus dem arabischen Raum, der europäischen Antike und der Renaissance neben zeitgenössischen Zeitungsausschnitten und Werbeanzeigen anordnete und so visuelle Themen und Muster studierte.
Dabei inkludierte er Themen aus der Astrologie, der Mythologie, aber auch der Wissenschaft. Ihn interessierten dabei wiederkehrende visuelle Themen und Muster von der Antike über die Renaissance bis zur damaligen Gegenwartskultur. Das Haus der Kulturen der Welt in Berlin widmete dem Atlas, der übrigens nie fertiggestellt wurde, Ende 2020 eine grosse Ausstellung mit erstmals wiederhergestelltem originalem Bildmaterial, dazu gibt es hier einen lohnenswerten virtuellen Rundgang.
Wie die Sterne am Himmel
Nun überführt die Galerie Kirchgasse in Steckborn mit ihrer Ausstellung «Constellations in a Bubble» den Atlas in die heutige Zeit und zeigt, wie zeitgemäss die Herangehensweise Warburgs ist um ein Instrument für Erkenntnisse zu schaffen.
Mit unterschiedlichen thematischen Konzentrationen schaffen die eingeladenen Künstler*innen ihre eigenen Konstellationen und machen künstlerisches Denken sichtbar. In allen Arbeiten zeigt sich der Ursprung des Worten con stellare als eine Gruppe von Erscheinungen, die jeweils gemeinsam etwas zu erkennen zu geben, ähnlich wie die Sterne am Himmel Menschen von Anbeginn zu Geschichten animiert haben.
Die Galerie als Ort des Austausches
Im Gespräch erklärt die Galerieleiterin Anne Gruber, die zusammen mit dem Künstler Philipp Schwalb die Ausstellung kuratiert hat: «Ausstellungen sind an sich Konstellationen. Die Galerie soll ein Ort des Austausches sein, der sich aus den verschiedenen Kontexten und Verhältnissen der Künstler*innen und Besucher*innen weiterentwickelt. In einer Bubble, die sich öffnet, in der sich das Lokale mit anderen Orten verbindet und Konstellationen gepflegt werden.»
Gerade als Kunstort in der Peripherie mag diese Ausstellung ein wenig überraschen, denn sie benötigt viel Vermittlung und Dialog, man kann als Besucher*in kaum die Ausstellung besuchen, ohne im besten Fall mit seinem Vorwissen Assoziationen zu haben oder mit Fragen in interessante Gespräche mit den Galeriemitarbeiter*innen zu kommen. Hier bricht die Galerie mit dem allgemein häufig geltenden Vorurteil, dass Galerien «nur» verkaufen, denn neben dieser Aufgabe zeigen Galerien sich längst auch als wichtige Diskussionsräume mit experimentellen Formaten.
Die Ausstellung selbst ist letztendlich auch aus einer Konstellation entstanden, denn sowohl Philipp Schwalb als auch Anne Gruber beide Organisatoren der Ausstellung kennen die Künstler gut, da einige von ihnen Treffen des Mnemosyne-Läb mitgestalteten, das von Schwalb initiiert ist und sich in regelmässigen Abständen zu Diskussionen trifft.
Der Atlas als Gewebe
Sarah Lehnerer verbindet in ihrer Bildtafel «Der Atlas ist ein Stoff» die Grundlage für die Programmierung von Rechnern 1 und 0 mit der Technik des Webens. Diese Verbindung von Codierung und Weben wird in alternativen Textilgeschichten immer wieder genutzt und es gibt eine ganze Reihe an Erklärungen. So werden die ersten Lochkarten die um 1730 in den Webstühlen verwendet wurden, als erste rudimentäre Codes gesehen.
Diese Verbindung wird gerade auch in einer feministischen Lesart von Geschichte immer wieder neu aufgegriffen. In der Arbeit von Sarah Lehnerer taucht so auch zum Beispiel die historische Person Ada Lovelace auf. Eine britische Mathematikerin, die häufig auch als erste Programmiererin gilt. Neben der Bildtafel zeigt Sarah Lehnerer die Keramikarbeiten «Spaceships», die auch auf eine feministische Lesart von Geschichte hinweisen könnten, denn viele Codes, die für die Raumfahrt eingesetzt werden, wurden von Frauen geschrieben.
Geld regiert oder regiert man mit Geld?
Robert Müller geht in seinen Überlegungen auf die Tradition ein, in der Herrscher auf Münzen abgebildet wurden. Ihn interessiert dabei auch besonders der Moment der Kehrung, wie das Porträt eingesetzt und Geld zu einem Bildträger wurde.
Es ist auch eine Auseinandersetzung mit Machtrepräsentation. Daneben findet man ein Porträt von Marquis de Sade. Müller arbeitet seit einiger Zeit an einer Serie, in der er Kinderportraits von historisch relevanten Personen anfertigt.
Im Nebeneinander entstehen neue Assoziationen
Julia Dubsky setzt sich mit Körpern in Bewegung in Landschaft auseinander. Die Bilder bekommen durch ihre Präsentation auf einem Screen eine Art von Virtualität und damit eine interessante Zeitlichkeit.
Sie präsentiert Malerei aus der klassischen Moderne neben Tarotkarten und ist dabei in dieser Geste Aby Warburg sehr nahe, denn auch dieser ist nicht zuletzt auch dafür bekannt, dass er nicht zwischen vermeintlicher Hochkultur und Spiritualität unterschieden hat.
Gewalt und Körper
Im Schaufenster und in der Galerie hängen vergrösserte Fotografien von Inka Meißner. Sie zeigen eingeschlagene Scheiben, die sie in Berlin aufgenommen hat und die der Serie entstammen, die im Zusammenhang mit Randalen beim G7 Treffen entstanden ist.
Die Künstlerin interessiert sich dafür, wie die Schaufenster repariert wurden, in diesem Fall mit einer Art Silikonabdichtung, und so selbst etwas Malerisches erhalten. Gewalt und Fragilität kommen hier zusammen, einen Gedanken den die Künstlerin auf die Geschichte der Malerei und das Verhältnis von weiblichem Körper und Gewalt anwendet.
Konstellationen haben was Politisches
Das Künstlerduo Tobias Hohn & Stanton Taylor stellt in seiner Arbeit «Babys+Animals» menschliche Babies unterschiedlicher Ethnien mit Tieren in einen Kontext. Die Arbeit bringt einen erst zum Lächeln, da eine solche Anordnung etwas Witziges hat, jedoch im zweiten Moment verwirrt diese Auswahl.
Meine persönliche erste Lesart war, dass Menschen und Tiere selten in einer dieser Gegenüberstellung gezeigt werden, es sei denn es geht um perfide rassistische, historische, und leider auch heute noch genutzte Gedankenbilder. Gerade das Babygesicht in Blackfacing neben einem Affen mit weissem Gesicht verstärkte diese Gedanken.
Eine Übung im Denken
Die zweite Lesart ist weitaus versöhnlicher, denn diese Genealogie ermöglicht es Konstellationen innerhalb eines gleichen Ökosystems zu zeigen. Zu dieser Arbeit gehört auch noch eine Gegenüberstellung von Galeriemitarbeitern mit Tierbabys.
Es gibt weitaus mehr in den Arbeiten der Ausstellung zu entdecken. «Constellations in a Bubble» ist eine Übung im Denken, die hinterfragt, wie wir Dinge in Beziehung setzen und damit den Kern unserer heutigen Zeit trifft. Die Ausstellung läuft noch bis zum 9. Januar 2022.
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