von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 23.01.2020
Die Kunst in meinem Bett
Wer heute eine Ausstellung macht, braucht nicht nur spannende Objekte, sondern auch eine Idee, wie man ein Thema inszenieren kann. Das Winterthurer Projekt „Kunstzimmer“ zeigt, wie das gehen kann.
Die Zeiten, in denen Kunst nur innerhalb von Museumsmauern stattfand, sind lange vorbei. Heute kann Kunst überall lauern - und sie tut das auch. Ausstellungen im öffentlichen Raum sind längst üblich, auch ungewöhnliche Orte haben Kunstschaffende schon für sich erobert: Wälder, Kaufhäuser, Schwimmbäder, Baustellen. Selbst der Meeresboden ist nicht mehr sicher vor der Kunst: Wer die Kunst des britischen Bildhauers Jason deCaires Taylor sehen möchte, muss tauchen gehen. Denn seine Ausstellungen sind nicht im Museum, sondern auf dem Meeresboden.
Von Winterthur aus gesehen ist das Meer ziemlich weit weg. Und so mussten sich die beiden Kuratorinnen Lucia Angela Cavegn und Anita Bättig vom Verein für Kultur im öffentlichen Raum etwas anderes einfallen lassen, als sie vor zwei Jahren eine Ausstellungsreihe auf die Beine stellen wollten, die dem üblichen Museumsbetrieb entflieht. „Entstanden ist das aus Gesprächen mit dem früheren Besitzer des Hotel Wartmann am Winterthurer Bahnhof“, erzählt Cavegn im Gespräch mit thurgaukultur.ch Dieser habe selbst eine kleine Kunstsammlung gehabt und so ergab sich über mehrere Treffen irgendwann das Konzept für die Reihe, die heute „Kunstzimmer“ heisst. Am 25. und 26. Januar 2020 findet sie zum dritten Mal in Winterthur statt.
Handelsreisende in Sachen Kunst
Die Idee dahinter: Rund 30 Künstlerinnen und Künstler beziehen ein Wochenende lang ein Hotel. Sie tauschen sich aus, entwickeln Ideen und zeigen ihre Arbeiten dann zwei Tage lang in ihrem Hotelzimmer. „Das ist für die Besucherinnen und Besucher ein bisschen wie ein grosser Adventskalender: Hinter jedem Türchen verbirgt sich etwas anderes“, erklärt Lucia Angela Cavegn. Die Künstlerinnen und Künstler seien an diesem Wochenende so etwas wie „Handelsreisende in Sachen Kunst“. Ihre Arbeiten sollten in einen Koffer passen und dürfen das Hotelzimmer nicht dauerhaft verändern: „Alles muss reversibel sein, das Hotel ist ein temporärer Ausstellungsort“, sagt die Kuratorin.
Für das originellste eingerichtete Zimmer gibt es am Ende einen Preis - den „Goldenen Schlüssel“, gestaltet vom Winterthurer Künstlerduo Labüsch. Vergeben wird er von einer Fachjury am Samstagabend.
Das Motto in diesem Jahr: Heimat-Orte
In jedem Jahr gibt es auch ein Motto, diesmal lautet es „Heimat-Orte“. Das Thema dient als roter Faden für das gesamte Projekt und will sich dem grossen Thema Heimat annähern: „Wo ist man eigentlich daheim? Und was bedeutet Heimat überhaupt?“, erklärt Cavegn. Dazu passend gibt es neben der Kunst am Sonntag, 26. Januar, auch eine Lesung aus dem Buch „Unsere Schweiz - Ein Heimatbuch für Weltoffene“ (Zytglogge-Verlag). Mehr Literatur und Poesie gibt es schon einen Tag zuvor: Beim Spoken-Word-Programm in der Hotellounge.
Die Hotelzimmer-Ausstellungen sind am Samstag (15 bis 20 Uhr) und Sontag (10 bis 14 Uhr) zu sehen. Besucherinnen und Besucher können sich frei durch die Flure bewegen und mal hier, mal dort reinschauen. Der Rahmen ist speziell: Jeder, der Hotelzimmer kennt, weiss, dass da in der Regel nicht so furchtbar viel Platz ist. Das bedeutet in der Konsequenz vor allem: Nähe und Intimität der Ausstellungen. Gespräche mit den Künstlerinnen und Künstlern sind jederzeit möglich, der Kunst auszuweichen dürfte schwerer fallen als im weiten Museumsraum.
«Kunst darf sich nicht darauf verlassen, dass schon genug Leute ins Museum gehen werden. Sie muss vielmehr zu den Menschen gehen.»
Lucia Angela Cavegn, Kuratorin
Das sei bewusst so gewählt, sagt Kuratorin Cavegn: „Kunst muss heute andere Wege suchen und darf sich nicht darauf verlassen, dass schon genug Leute ins Museum gehen werden. Sie muss vielmehr zu den Menschen gehen.“ Ein Hotel sei da ein passender Ort, findet die Kunsthistorikerin.
Auch einige Thurgauer Künstler sind dabei
Neben Cavegn, die selbst oft im Thurgau arbeitet, beziehen auch einige Thurgauer Künstlerinnen und Künstler in diesem Jahr ein Kunstzimmer im Hotel Wartmann: Christine Aebischer aus Kreuzlingen, Mark Staff Brandl aus Trogen, Alex Meszmer und Reto Müller aus Pfyn und Dieter Langhart aus Frauenfeld, den die meisten wahrscheinlich als Kulturjournalisten der Thurgauer Zeitung kennen, der aber auch ein gutes Auge für die Fotografie hat.
Die Auswahl der Künstler läuft beim „Kunstzimmer“ vor allem über die Kontakte der Kuratorinnen, eine echte Ausschreibung gibt es nicht, mögliche Teilnehmer werden gezielt zu Bewerbungen eingeladen: „Zuerst schauen wir, ob die Künstlerinnen und Künstler mit ihrem Schaffen zum aktuellen Thema passen. Dann ist uns auch wichtig, dass wir eine abwechslungsreiche Auswahl zusammenstellen und nicht nur Künstlerinnen und Künstler aus Winterthur berücksichtigen“, erklärt Lucia Angela Cavegn.
Der Eintritt für die Besucher ist frei
Interessant an dem Projekt auch: Der normale Hotelbetrieb wird nicht eingestellt. Während die Künstlerinnen und Künstler die unteren beiden Etagen des Hotels beziehen, werden ganz normale Gäste darüber wohnen. Das heisst, die Kunst sucht sich nicht einen neuen Ort und schliesst sich dann dort ein, sondern bleibt an diesem neuen Ort offen für Begegnungen und Auseinandersetzungen.
Der Eintritt für Besucherinnen und Besucher zum „Kunstzimmer“ ist übrigens frei. Die Veranstaltung finanziert sich über andere Wege: Das Hotel stellt die Zimmer zur Verfügung, die Künstler zahlen einen festen Betrag für ihre Übernachtungen, dieses Geld fliesst dann in die Organisation der Veranstaltung. Zudem nehmen die Organisatoren 30 Prozent bei möglichen Verkäufen der gezeigten Arbeiten. Auch die Stadt Winterthur und weitere Sponsoren unterstützen das Projekt.
Auch das Hotel profitiert von dem Projekt
Dass es das „Kunstzimmer“ nach zwei Auflagen weiterhin geben würde, war lange offen. Nach dem Verkauf des Hotels an die Candrian-Gruppe war nicht klar, ob es weitergehen würde. Die beiden Kuratorinnen konnten die Geschäftsleute aber von ihrem Konzept überzeugen. Die Aufmerksamkeit, die das Hotel durch das Projekt bekommt, dürfte dabei geholfen haben.
Zudem: Bevor die Zimmer im tristen Januar leer stehen, kann man sich auch Künstlerinnen und Künstler einladen. Lucia Angela Cavegn jedenfalls ist froh über die gefundene Lösung: „Wir sind glücklich darüber, dass sie als neue Hotelbesitzer uns Gastrecht gewähren und uns die Weiterführung unseres Projektes nicht nur erlauben, sondern auch wohlwollend unterstützen.“
Warum nicht auch im Thurgau?
Über eine Ausweitung des Konzeptes „Kunstzimmer“ haben die Kuratorinnen bislang noch nicht nachgedacht. „Man könnte das sicher auch an anderen Orten machen, es müsste aber angepasst auf den jeweiligen Ort entstehen. Eine 1:1-Kopie würde nicht funktionieren“, ist Lucia Angela Cavegn überzeugt. Aber kunstsinnige Thurgauer Hoteliers, die das Projekt spannend finden, dürften sich sicher gerne bei den Initiatorinnen melden.
Das gibt's auch anderswo: Weitere ungewöhnliche Kunst-Vermittlungsformate in und um den Thurgau
Vivala Jubiläumsweg Weinfelden: Zum 125. Geburtstag leistete sich die Stiftung Vivala (früher: Friedheim) einen eigenen Kunstweg. Mit Arbeiten von Roman Signer, Rahel Müller, Bildstein/Glatz, Joëlle Allet und anderen. Die Idee: Zwischen dem evangelischen Kirchengemeindehaus (dem Gründungsort des Friedheims) und dem aktuellen Standort Vivalas entspannte sich für ein halbes Jahr ein mehrschichtiger Jubiläumsweg. Dieser vereinte ein ganzes Knäuel an unterschiedlichen Aufgaben: Einerseits sollte der Thurgauer Bevölkerung ein Zugang zu zeitgenössischer Kunst ermöglicht werden (für umsonst!), andererseits war der circa zwei Kilometer lange Weg mit Informationen zum Thema „Menschen mit Beeinträchtigungen" gesäumt, die die wichtige Arbeit der Vivala-Mitarbeiter bekannter machen sollte.
Visite: Im Sommer 2018 bespielten mehr als 100 Künstlerinnen und Künstler ein abbruchreifes Krankenhaus in Konstanz. Initiiert wurde das Projekt „Visite“ von den Konstanzern Friedrich Haupt, Bert Binnig, Tim und Magdalene Schaefer (künstlerische Leitung).
Baustelle: Unter dem Titel „Das Richtfest“ hatte der Künstler und Journalist Jeremias Heppeler im Juli 2018 auf eine Gross-Baustelle nach Radolfzell geladen. Auch einige Thurgauer Künstlerinnen und Künstler hatten sich damals beteiligt.
Frauen-Kunst-Club: Seit mehr als einem Jahr bietet das Kunstmuseum Thurgau diesen Club an. Es versteht sich als „experimentell ausgerichteten Veranstaltungsformat“, bei dem man auch mal ungewöhnliche Wege geht und zum Beispiel vor Bildern tanzt. Kunst soll ganzheitlich erfahren werden. Die Reihe erfreut sich grosser Beliebtheit.
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