von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 06.07.2018
Die Entdeckung des Ichs
Das Museum Rosenegg zeigt Selbstporträts aus der Sammlung von Jürg Ganz. Eine Ausstellung, die Einblicke gibt, aber den Brückenschlag in die Gegenwart verpasst.
Was den Menschen auf der ganzen Welt immer noch am meisten interessiert sind: andere Menschen. Ihre Leben, ihre Schicksale, ihre Geschichten. Er will wissen, was diese anderen bewegt, was sie tun, warum sie es tun und ob sich daraus vielleicht auch etwas für das eigene Leben lernen liesse. Weil das so ist, sind in der Menschheitsgeschichte schon immer auch die Bildnisse von Menschen die beliebtesten Bilder gewesen. Erst recht, wenn sie nicht nur etwas über den Dargestellten erzählen, sondern auch über den Darstellenden. Wenn also die Art der Darstellung auch etwas über die Beziehung der beiden Personen sagt. Besonders interessant wird das dann in der Kategorie „Selbstporträt“: Wie sieht sich ein Mensch? Wie will er gesehen werden? Diese unterschiedlichen Dimensionen lassen sich in solchen Arbeiten sehr schön beobachten.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es Kunst-Ausstellungen zu diesem Thema wie Sand am Meer gibt. 2017 gewährte das Kunstmuseum Thurgau unter dem Titel „Menschenbilder“ Einblicke in seine famose Sammlung, das Rosgartenmuseum in Konstanz zeigt aktuell „Charakterköpfe“ und auch das Kreuzlinger Museum Rosenegg hat nun eine eigene Schau dazu auf die Beine gestellt. Sie heisst „Künstlerische Selbstbilder“ und kann aus dem grossen Fundus der Sammlung von Jürg Ganz schöpfen. Der ehemalige Denkmalpfleger des Kantons Thurgau interessiert sich seit Jahrzehnten für das Genre. „Mit jedem Selbstporträt lerne ich einen neuen Menschen mit Leib und Seele kennen: In jedem Bild ist eine Biografie verdichtet dargestellt, ein Moment aus einem Lebensfluss ausgeschnitten und festgehalten, seine momentane Befindlichkeit gezeigt, vielleicht sogar seine Sicht auf die Welt angedeutet“, erklärt der Sammler sein Faible.
Bilderstrecke: Einblicke in die Ausstellung
Künstler zu den Fotografien aus der Bilderstrecke (Reihenfolge wie in der Bilderstrecke): Hans Krüsi (Werk aus dem Jahr: ohne Angabe), Otto Tschumi (1957), Aleks Weber (1984), Otto Dix (1965), Hans Witschi (1991), Claudia Eichenberger (1991), Henri Victor Gabriel Lefalconnier (1939), Cuno Amiet (1956), Helen Dahm (1945), Jürg Schoop (1971/2003) und Fred Stauffer (1974) .
Das Museum Rosenegg versammelt nun auf zwei Ebenen in seinen Räumen 97 Werke von 85 verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern. Die Zahl verrät bereits einen Clou der Ausstellung: Bei einigen Künstlern stellt sie Selbstporträts aus jungen Jahren neben jene aus späteren Zeiten und lädt so ein zu philosophischen Gedankenspielen: „Bin ich im Alter noch der, der ich in jungen Jahren war?“ Ein spannendes Experiment, weil man doch viel über Selbstwahrnehmung und Lebenswandel darin lernen kann. „Ein Ziel war es auch, verschiedene Dialogsituationen in der Ausstellung zu schaffen“, erklärt die Winterthurer Kunsthistorikerin Lucia Angela Cavegn, die die Schau für das Museum Rosenegg kuratiert hat.
Bekannte Künstler hängen neben weniger bekannten Künstlern
Zu sehen sind nun Werke aus ganz verschiedenen Epochen: vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Aus dieser Zusammenschau kann man auch Moden der verschiedenen Zeiten in den Selbstbildnissen entdecken: „Der jeweilige Zeitgeist spielte immer mit rein, das kann man in den Werken klar erkennen“, sagt Lucia Angela Cavegn. Vertreten sind unter anderem Otto Dix (1891-1970), Hans Krüsi (1920-1995), Helen Dahm (1878-1968), Cuno Amiet (1868-1961), Hans Witschi (*1954), Claudia Eichenberger (*1958) und Otto Tschumi (1904-1985). Bekannte Künstler sollten auf weniger bekannte Künstler treffen, die vielleicht nicht national aber doch regional relevanten Persönlichkeiten sollten auch eine Bühne bekommen.
Der Weg vom Selbstbildnis zum heute allgegenwärtigen Selfie ist so weit nicht. Kuratorin Lucia Angela Cavegn grenzt sich davon aber bewusst ab: „Anders als spontan geschossene und in den sozialen Netzwerken veröffentlichte „Selfies“ entstehen künstlerische Selbstbildnisse während eines bestimmten Zeitraumes und besitzen meistens einen intimen Charakter. Ein gutes Selbstbildnis ist mehr als nur eine Momentaufnahme; es beinhaltet eine Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Befindlichkeit“, sagt die Kunsthistorikerin.
Ein Blick Richtung Instagram & Co. hätte der Ausstellung gut getan
Vielleicht ist das das Einzige, was man der Ausstellung vorwerfen kann: Dass es ihr in diesem Aspekt nicht gelingt, den Kopf über den eigenen Horizont zu erheben. Denn: So richtig der Hinweis auf die Verschiedenheit von Selbstporträts und Selfies ist - gerade das wäre ja auch ein Grund für eine Gegenüberstellung der Bilderwelten von damals und heute gewesen. Wer inszeniert sich wie? Wie nutzen zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler soziale Medien als Gestaltungsmittel heute? Und gibt es nicht vielleicht doch auch Parallelen zwischen einem im Atelier entstanden Selbstporträt und einem sorgsam gepflegten Instagram-Profil? Ein Blick in diese Richtung hätte der Ausstellung zudem eine Brücke in die Gegenwart und das Leben der Menschen heute bauen können. Man habe bewusst darauf verzichtet, sagt Kuratorin Cavegn. Die Sammlung von Jürg Ganz sollte im Mittelpunkt stehen. Aus der Perspektive der Kulturvermittlung war das vielleicht nicht die klügste Entscheidung in einer sonst durchaus sehenswerten Ausstellung.
Termine: Die Ausstellung ist bis zum 16. September im Museum Rosenegg zu sehen. Führungen durch die Ausstellung gibt es am 11. Juli, 15. August und 5. September, jeweils um 17 Uhr. Die Öffnungszeiten des Museum Rosenegg: Freitag & Sonntag: 14 bis 17 Uhr sowie Mittwoch: 17 bis 19 Uhr. Eintritt: 8 Franken. Jeden ersten Mittwoch im Monat ist der Eintritt frei.
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