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Gemeinsam am Lagerfeuer

Gemeinsam am Lagerfeuer
Dorothee Elmiger (links im Bild) bei den Weinfelder Buchtagen 2025 im Gespräch mit der Lektorin Larissa Waibel. Das Foto wurde mit einer KI-Software in diesen Comic-Stil verändert. | © Michael Lünstroth/Canva AI

Literatur ist Erzählen. Die Buchtage in Weinfelden haben das mit einem spektakulären Programm auf eindrucksvolle Weise bewiesen. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Es gibt Abende, da hat das warme Licht einer einfachen Wohnzimmer-Stehlampe die Kraft eines Lagerfeuers. Eines Lagerfeuers, an dem sich Menschen versammeln, um gemeinsam Geschichten zu hören. Und wo würden bessere Geschichten erzählt als in der Literatur? Eben. So sitzen an einem Samstagabend im November – draussen eher fieses Herbstwetter, drinnen heimelige Wohnzimmeratmosphäre – rund 130 Menschen im „Goldenen Dachs“ in Weinfelden und lauschen andächtig im Dunkeln, wie die zuletzt sehr gefeierte und mehrfach ausgezeichnete Autorin Dorothee Elmiger auf der von einer Wohnzimmer-Stehlampe erleuchteten Bühne Episoden aus ihrem eher düsteren Roman «Die Holländerinnen» liest.

Dass es solche Momente in Zeiten der kurzatmigen Instagrammisierung aller Winkel der Gesellschaft noch gibt, hat zum einen mit der Superpower der Literatur zu tun – kaum etwas vermag die Menschen so in einen Bann zu ziehen wie eine gute Geschichte. Es hat aber auch mit Menschen wie Katharina Alder und Dominik Anliker zu tun. 

Die beiden sind die Köpfe hinter den Buchtagen Weinfelden, und sie haben auch diesen wunderbaren Ort namens «Goldener Dachs» geschaffen, der inzwischen Heimat des in diesem Jahr aussergewöhnlich spektakulär besetzten Weinfelder Festivals ist. Fast die gesamte Shortlist des Schweizer Buchpreises (wird am 16. November vergeben) konnte man binnen weniger Tage hören. Ohne so engagierte Menschen wie Alder und Anliker wäre das nicht möglich.

Eine erstaunliche Bandbreite des literarischen Erzählens

Aber erstmal zurück ans Lagerfeuer. Und zum Erzählen. Selbst wenn man nur zwei Abende dieses sechstägigen Festivals besucht hatte, bekam man eine erstaunliche stilistische Breite serviert, wie zeitgenössisches Erzählen heute klingen kann. Man kann es mutig wie die Deutsche-Buchpreisträgerin Dorothee Elmiger wagen und einen ganzen Roman in indirekter Rede schreiben – und trotzdem direkt das Herz der Leser:innen treffen. Man kann aber auch eher barock und thomasmannhaft erzählen, wie es Nelio Biedermann in seinem fantastischen Roman über die Adelsfamilie Lázár gelingt.

Ebenso ein Ansatz: in langen, beinahe unendlich wirkenden Schachtelsätzen über das Verhältnis von Mensch und Maschine nachdenken, wie es Jonas Lüscher gewohnt klug in seinem neuen Roman meisterhaft macht. Oder man erzählt die persönliche wie berührende Geschichte einer Frau, die sich gegen das jahrelange eigene Schweigen stemmt – was die Arboner Autorin Andrea Gerster beispielhaft in ihrem Roman «Bleibender Schaden» vorführt.

Es sind allesamt sehr unterschiedliche Erzählhaltungen, und dass man all dies in nur einem Festival binnen sechs Tagen erleben kann, ist die grosse Stärke dieser Weinfelder Buchtage. Weil man als Besucher:in einen ziemlich guten Einblick in das zeitgenössische literarische Schaffen erhält.

 

Dorothee Elmiger liest aus ihrem Roman «Die Holländerinnen». Neben ihr im Bild - die Lektorin Larissa Waibel. Bild: Michael Lünstroth

Wie kommt man auf die Idee, einen ganzen Roman in indirekter Rede zu schreiben?

An Dorothee Elmiger kommt man da dieser Tage nicht vorbei. Deutscher Buchpreis, Bayerischer Buchpreis, bald vielleicht auch noch der Schweizer Buchpreis – die aus Wetzikon stammende und heute in New York lebende Autorin räumt mit ihrem Roman «Die Holländerinnen» gerade viele renommierte Literaturpreise ab. Im Kern geht es dabei um das Experiment eines Theatermachers, der die wahre Geschichte von zwei Holländerinnen, die im südamerikanischen Dschungel verschwinden, nacherzählen will. In Weinfelden liest Elmiger drei Passagen aus ihrem Roman, die die beklemmende Atmosphäre der Geschichte gut transportieren.

Das Ungewöhnliche an Elmigers Roman: Er ist beinahe ausschliesslich in indirekter Rede erzählt. Das hebt ihn künstlerisch heraus, macht ihn aber auch schwerer zugänglich. Interessant: Die teilweise absurde Komik in den Zeilen sowie die Absurdität des ganzen Vorhabens treten im Vortrag der Autorin noch deutlicher zutage als beim stillen Für-sich-selbst-Lesen.

Im Gespräch mit Larissa Waibel, Lektorin beim Zürcher Limmatverlag, erklärt Dorothee Elmiger, weshalb sie sich für diese Erzählweise entschieden hat. «Ich wollte eine Distanz schaffen zwischen der Erzählerin im Buch und mir als Autorin», sagt Elmiger. Ausserdem habe sie sich in ihrem bisherigen Schaffen immer auch mit den Problemen des Erzählens beschäftigt, oft habe sie damit gehadert. «Das Erzählen im Konjunktiv jetzt ist deshalb auch ein Nachdenken über das Erzählen. Es wird ständig mitreflektiert, dass Erzählen immer eine Künstlichkeit hat», so die 40-Jährige.

 

«Ich bin manchmal selbst erschrocken vor der Dunkelheit meines Textes.»

Dorothee Elmiger, Autorin

Sie sprach auch von ihrer Vor-Ort-Recherche für den Roman im Regenwald zwischen Costa Rica und Panama. Das sei fast eine spirituelle Erfahrung gewesen, die ihr einen neuen Blick auf uns Menschen und was wir so treiben, verschafft hätte. Das in Worte zu fassen, sei nicht immer leicht gewesen. «Ich dachte irgendwann beim Schreiben: Ich will da wieder raus aus diesem Dschungel und Dickicht.» Manchmal sei sie selbst erschrocken gewesen über die Dunkelheit ihres Textes.

Bemerkenswert ehrlich gab die Schriftstellerin noch einen Einblick in ihren schreiberischen Prozess. Der Stoff um die im Dschungel verschwundenen Holländerinnen habe sie schon länger beschäftigt. «Ich habe drei oder vier Jahre versucht, ein Buch dazu zu schreiben. Ich habe es aber immer wieder nach 30 Seiten verworfen, weil ich das Gefühl hatte, es ist nicht gut genug.» Erst als sie ihre persönliche Haltung zum Stoff gefunden habe und die indirekte Erzählweise klar war, sei es besser vorangegangen.

 

Nelio Biedermann bei den Weinfelder Buchtagen 2025 im Gespräch mit Luzia Stettler. Bild: Michael Lünstroth

Warum es manchmal dauert, bis Literatur entsteht

Dass Literatur manchmal Jahre braucht und sich nicht erzwingen lässt, diese Erfahrung teilt Dorothee Elmiger mit dem ebenfalls für den Schweizer Buchpreis nominierten Nelio Biedermann. Der 23-Jährige hatte in Weinfelden am Samstag vor Elmiger gelesen und im Gespräch mit der ehemaligen SRF-Literatur-Redaktorin Luzia Stettler bekannt, dass der jetzt erschienene Roman «Lázár» der fünfte Versuch gewesen sei, die Geschichte seiner Familie literarisch zu erzählen. «Weil es eine sehr persönliche Geschichte ist, wollte ich es richtig erzählen. Ich brauchte eine Weile, bis ich den richtigen Ton gefunden hatte», sagte Biedermann in Weinfelden.

In «Lázár» verknüpft Nelio Biedermann famos das Schicksal seiner Adelsfamilie mit den Irrungen und Wirrungen des 20. Jahrhunderts. Es geht um den Untergang der Habsburger-Dynastie, die beiden Weltkriege und darum, wie sich persönliche Lebenswege mit dem grossen Zeitenlauf verknüpfen lassen beziehungsweise davon beeinflusst werden. Wer «Lázár» liest, muss unweigerlich an Thomas Manns «Die Buddenbrooks» denken. Auch da ging es um Aufstieg und Fall einer Familie. Was in Lübeck die Kaufmannsfamilie war, ist in der ungarisch-österreichischen Version von Nelio Biedermann die Adelsfamilie. Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Figuren sind offensichtlich: Spuren von Hanno Buddenbrook finden sich sowohl in Lajos als auch in Pista von Lázár.

 

Volles Haus im Goldenden Dachs: Die Lesung von Nelio Biedermann wollten mehr als 130 Besucher:innen hören. Bild: Michael Lünstroth

Wie Nelio Biedermann für «Lázár» recherchiert hat

Biedermanns Roman hat sprachlich und erzählerisch eine ungeheure Wucht, der Sog der Geschichte macht «Lázár» zu einem echten Pageturner. In Weinfelden gab sich der Autor bescheiden und reflektiert. «Ich habe nicht die Expertise, das Jahrhundert politisch auseinanderzunehmen – das haben andere längst besser gemacht. Aber ich kann mich in die Figuren einfühlen und das Persönliche und Private synchronisieren mit dem Historischen», so Biedermann. Bei der Recherche habe ihm einerseits sein Grossonkel sehr geholfen, der das Familienarchiv öffnete. Andererseits habe er viel Literatur aus der Zeit gelesen, über die er geschrieben hat: «Literatur ist da wie eine Zeitkapsel, ich habe sehr viel gelernt», erklärte der 23-Jährige.

Überhaupt muss man sagen, dass die sehr konzentrierte Form aus Lesung und Gespräch bei den Buchtagen gut funktioniert hat. Die Literatur konnte für sich stehen; in den Gesprächen ging es oft auch darum, die Tür zur Schreibwerkstatt ein Stück weit zu öffnen und all die oft mühsamen Prozesse vor der Buchwerdung zu veranschaulichen. Das ist auch Festivalchefin Katharina Alder in ihrem Gespräch mit Jonas Lüscher gut gelungen. Der bereits mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete (2017) und jetzt wieder für diesen Preis nominierte Autor hatte eine Passage aus seinem Episodenroman «Verzauberte Vorbestimmung» gelesen, aber das eigentliche Highlight dieses Auftritts war das anschliessende Gespräch zwischen Lüscher und Alder.

Eine kleine Sternstunde Philosophie mit Jonas Lüscher

Darin ging es einerseits um seine sehr persönliche Verbundenheit mit Maschinen, seit sie ihm das Überleben einer Corona-Infektion ermöglichten («17 Kabel und Schläuche haben mich damals mit den Maschinen verbunden», erinnerte sich Lüscher), aber auch um all das, was da damoklesschwertähnlich unter dem Stichwort KI über uns schwebt. Es wurde ein bisschen «Sternstunde Philosophie» – und das ist ausdrücklich positiv gemeint.

Der Satz des Abends fiel dann, als sich Jonas Lüscher zur Verwendung von KI-Chatbots zur Erstellung von Texten äusserte: «Klar, könnte ich das nutzen, um schneller fertig zu werden. Aber ich schreibe keine Bücher, um fertig zu werden. Wichtig ist für mich der Prozess des Schreibens, weil er eine besondere Form des Nachdenkens ist, ohne die meine Bücher nicht vorstellbar sind.»

 

Jonas Lüscher im Gespräch mit der Festivalchefin Katharina Alder. Bild: Michael Lünstroth

Andrea Gerster erzählt die Geschichte einer Zerrissenen

Nicht von der grossen gesellschaftlichen Schicksalsfrage, sondern von einem sehr persönlichen Schicksal erzählt die Arboner Autorin Andrea Gerster in «Bleibender Schaden». Es ist die Geschichte einer Frau, die vor einem Trümmerhaufen steht. Angesichts des plötzlichen Schlaganfalls ihres Mannes sieht sie ihr Leben an sich vorbeiziehen – und was sie da sieht, ist nicht gut. Verletzungen, Rückweisungen, Enttäuschungen, häusliche Gewalt. Anda, so der Name der Hauptfigur, hat viel mitgemacht in ihrem Leben. Aber alles immer irgendwie für sich behalten.

«Sie ist eine Zerrissene», beschreibt die Autorin ihre Protagonistin. Im Roman sei ihr wichtig gewesen, «dass sie zu sich kommt auf ihre Weise», so Gerster im Gespräch mit Katharina Alder. Mental load, die gerechte Verteilung von Care-Arbeit innerhalb einer Familie, Gleichberechtigung – Andrea Gerster behandelt in ihrem Roman durchaus grosse Themen. «Wer nicht gleichberechtigt ist, kann unterdrückt werden», sagt Gerster. Auch deshalb stehe sie so vehement für Gleichberechtigung ein. Den Begriff «häusliche Gewalt» findet sie verharmlosend. «Das tönt so brav, wir sollten es eher Beziehungsterror nennen», schlägt die Autorin vor.

Uneindeutigkeiten eröffnen auch Chancen

Und dann war man dann doch wieder im Grossen und Ganzen. Natürlich durchlebt Anda ein persönliches Schicksal, aber dass das so passiert, hat ja durchaus mit gesellschaftlichen Strukturen zu tun. «Mit einem Roman kann ich das grundsätzliche Problem nicht lösen», räumte Gerster ein, «aber darauf aufmerksam machen kann ich schon.»

So kam bei den Weinfelder Buchtagen am Ende alles zusammen: das Grosse und das Kleine, das Familiäre und das Politische, die Schicksale und die Strukturen, die Schrecken und die Schönheit, die Utopie und die Dystopie, die Superkraft der Literatur und ihre gleichzeitige Begrenzung angesichts all der Herausforderungen, die uns umgeben. Trotzdem verlässt man die Lesungen der Buchtage nicht frustriert, sondern bereichert. Weil Uneindeutigkeiten immer auch die Chance auf das Gute lassen.

 

Lesung in heimeliger Atmosphäre: Andrea Gerster bei den Weinfelder Buchtagen. Neben ihr: Festivalleiterin Katharina Alder. Bild: Michael Lünstroth

Ein starkes Festival an einem wunderbaren Ort

Was bleibt also von diesen Buchtagen? Natürlich ist auch ein bisschen Glück dabei, ein so preisverdächtiges Line-up vorweisen zu können. Aber dieses Glück erschliesst sich in vielen Fällen eben nur jenem, der vorher schon auch ein Gespür dafür hat, wie viel literarische Wucht in welchen aktuellen Romanen liegt. Die Buchhändlerin Katharina Alder hat da in den vergangenen Jahren ein ziemlich gutes Händchen bewiesen.

Mit dem Kulturlokal «Goldener Dachs» hat Dominik Anliker den perfekten Rahmen dafür geschaffen. Wie es zu dem Namen kam, auch das ist übrigens eine gute Geschichte: «Beim Namen haben wir lange überlegt. Dann fiel uns auf, dass es in der Schweizer Gastronomie lauter grosse Tiere gibt: Löwen, Hirschen, Ochsen … Und die bekommen auch immer einen goldenen Anstrich. Der Dachs ist nicht so pompös. Aber er baut Höhlen, die andere Tiere später mitnutzen können. Das passt zu uns. Deshalb heisst das Lokal ›Goldener Dachs‹. Und wir sind der einzige Dachs weit und breit», sagt Dominik Anliker.

Die Idee dazu ist so gut, sie müsste sich eigentlich verbreiten. Überall.

 

Dominik Anliker, vielseitig engagiert für Kultur und auch Gründer des Kulturlokales Goldener Dachs in Weinfelden. Bild: Michael Lünstroth

 

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