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von Brigitte Elsner-Heller, 12.03.2019

Über die Kunst hinaus denken

Über die Kunst hinaus denken
Erste Annäherung an die Kunst über eigene Bewegungen. | © Brigitte Elsner-Heller

Mit dem Frauen-Kunst-Club hat das Kunstmuseum des Kantons Thurgau ein Experiment gestartet. An einem Nachmittag geht es darum, sich vor Bildern zu bewegen. Eigentlich ein Tabubruch. Oder nicht?

Ein Gedankenexperiment zunächst: Sie gehen in ein Museum, in eine Ausstellung von Bildern. Der Raum hat vier Wände, sodass Sie nun Bilder vor und neben sich haben, auch in Ihrem Rücken. Die Augen wandern, während Sie vielleicht innerlich vor der Kunst respektvoll zurücktreten oder gar erstarren. Dabei könnte man die Sache einmal ganz anders „angehen“: die Kunst aus einem Raumgefühl heraus erfassen. 

Zum Beispiel so: In sehr, sehr langsamen Schritten nähern sich Besucherinnen des Museums jeweils einem der ausgestellten Bilder – und es spielt keine Rolle,ob es gerade dasjenige ist, das einen spontan am stärksten anspricht. Nach einiger Zeit ist (kann man noch sagen: wie von selbst?) der „richtige“ Punkt gefunden, um sich dem Bild und den Assoziationen zu stellen, die es weckt. Das Bild spricht, hat vielleicht sogar seine Sprache während des Prozesses der räumlichen Annäherung verändert. Und um die Kommunikation zu verstärken, soll es dem Körper nun sogar erlaubt sein, den gefühlten Rhythmus des Bildes aufzugreifen, ihn zu spiegeln.

Mut zur etwas anderen Kommunikation mit dem Bild. Bild: Brigitte Elsner-Heller

Ein Experiment unter „Aufsicht“

Das Experiment ist eines, das in den meisten Museen mit ziemlicher Sicherheit zu Nervosität beim Aufsichtspersonal führen würde. Gerade eben hat es aber stattgefunden, im Kunstmuseum des Kantons Thurgau in der Kartause Ittingen, als zweistündiges überschaubares Projekt im „Frauen-Kunst-Club“ – ein Experiment in Sachen Freiheit quasi unter Aufsicht. An vier Nachmittagen wurde oder wird Kunst hier in einem anderen Kontext erfahrbar gemacht, wobei Ausgangspunkt jeweils die aktuelle Retrospektive der Künstlerin Helen Dahm ist, die ein unkonventionelles Frauenleben nach ihren eigenen Vorstellungen lebte. Um in einem kleinen, intimen Rahmen verschiedene Fährten (von der Kunsttherapie über Theologie und Tanzpädagogik zur Kunst) zu verfolgen, lag es für das Museum nahe, sich mit diesem experimentell ausgerichteten Veranstaltungsformat speziell an Frauen zu wenden. Der Gedanke dahinter: Frauen seien offener für derlei neue Formate. Ein anderer Grund: Die vermutete Nachfrage schien bei der Zielgruppe grösser. Schliesslich stellen Frauen ohnehin die Mehrzahl des Publikums in Museen, wie die Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin Rebekka Ray sagt. Sie betreut den Frauen-Kunst-Club und hat für jeden der vier Nachmittage jeweils einen besonderen Gast eingeladen. Diesmal ist dies Bea Frei, Tanzpädagogin und Tai Ji-Lehrerin, eine Spezialistin der Bewegung also.

Die vier Nachmittage waren schnell ausgebucht, und auch jetzt sind etwa 15 Frauen in einem der Ausstellungsräume mit Werken von Helen Dahm anwesend. An den Wänden Arbeiten auf Papier, Holz- oder Linolschnitte bewegter Körper in klarer Linienführung. Was um 1915 die Befreiung des Körpers bewirken sollte, zeigt sich auch in der Kunst Helen Dahms. Wie dann in der Kunst war auch im Tanz seit der Jahrhundertwende viel passiert, vom klassischen Ballett weg zum Ausdruckstanz, der auch ein neues Körperbewusstsein widerspiegelt. Während Rebekka Ray einige Anmerkungen in Richtung Kunstsoziologie macht, ist die Tanzpädagogin Bea Frei schon dabei, die Gruppe der anwesenden Frauen wortwörtlich in Bewegung zu bringen – was in jeder Hinsicht auflockert. Erinnert wird dabei auch an den Tanzpädagogen Rudolf von Laban, der auf dem Monte Verità bei Ascona auch zum Begründer der Tanztherapie wurde. Im Ausstellungsraum finden sich die Frauen schnell in einem vorgestellten Ikosaeder wieder, über den sie ihr eigenes Raumgefühl verstärken können. Aus den Bewegungen entsteht eine spontane Choreografie, und Rebecca Ray stellt die Verbindung zur Kunst erneut und wieder anders her: „Die Reduktion auf Grundformen wie Zylinder, Würfel oder Quader war eine Grundidee der Moderne.“

Bilderstrecke: Bewegung im Werk von Helen Dahm 

Und dann plötzlich das Heute

„Tanz ist immer flüchtig, bleibt immer ohne Produkt am Ende“, streut Bea Frei ein. Doch er weckt auch an diesem Nachmittag Gedanken und Emotionen. Die Frage nach Ritualen und Religiosität wird aufgeworfen, die Tatsache erwähnt, dass Ideologien in der Kunst auch immer eine Rolle gespielt haben. Dass beim so genannten Gesellschaftstanz der Mann die Frau führt – und auch eine Militärparade letztlich eine Choreografie ist. Gegenwart bricht sich Bahn mit dem wieder erstarkten Körperkult, in der der Leistungsdruck Einzug gehalten hat. Aus Yoga wurde Power-Yoga, und „Achtsamkeit“ wird gerade zur Leistungsdroge.

In einer Zeit, in der man in jedem Alter jung sein muss, wie Bea Frei formuliert, kommt auch Helen Dahm mit ihrer diesbezüglichen Verweigerung wieder in den Blick. Dabei macht es nicht den Eindruck, dass sich die Frauen, die hier sind, gerne so präsentieren würden. Gut macht sich jetzt eine Übung, in der die Hände mit grösstmöglichem Druck aneinander gepresst werden, um sich dann wieder langsam zu lösen. Rebecca Rays Satz „Die Befreiung des Körpers geht einher mit geistiger Freiheit“ passt anschliessend gut.

Tanzpädagogin Bea Frei beobachtet, wie sich die Teilnehmerinnen die Bilder „körperlich zu eigen“ machen. Bild: Brigitte Elsner-Heller

Urteile fällen? Aber wie?

Auf nun zur Krönung der Zeremonie, zur räumlichen Annäherung und bewegten Erfahrung dynamisch strukturierter Bilder. Die sehr langsame Annäherung an gegenstandslose Bilder, das Testen unterschiedlicher Perspektiven, die eigene Bewegung. Das realisierte Gedankenexperiment, das in allen Teilnehmerinnen etwas auslöst, das sie wohl in einem Museum so noch nicht erlebt haben. „Es war ein wunderschöner Nachmittag“ ist danach zu hören. Oder „Ich bin so ruhig geworden“. Dann „Ich habe gelernt, mich zu konzentrieren“. Erlebt wurde auch die Fähigkeit, ohne Urteile oder Vorurteile ein Bild zu betrachten, es für sich sprechen zu lassen, verschiedene Schichten zu entdecken.

Schliesslich auch der Satz: „Schade, dass man in den nächsten Kurstag nicht mehr reinkommt.“ Das Experiment, das am kommenden Donnerstag mit der Frage „Ist Kunst von Frauen anders“ (Dorothee Messmer ist als Expertin eingeladen) vorerst abschliesst, soll wegen der grossen Nachfrage allerdings fortgesetzt werden. Im Herbst wird die 82-jährige Basler Künstlerin Germaine Winterberg im Fokus stehen, im Zusammenhang mit der Ausstellung „L’univers de Germaine“, einem dreiteiligen Videoprojekt von Muda Mathis, Sus Zwick und Hipp Mathis, die im Mai eröffnet wird. Termine für den neuen Frauen-Kunst-Club stehen im Moment noch nicht fest.

Dahm abstrakt: Ein Wirbel, der sich irgendwann und unvorhergesehen auch als Ruhepol darstellen kann. Bild: Kunstmuseum Thurgau

 

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