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von Inka Grabowsky, 24.10.2023

Am seidenen Faden

Am seidenen Faden
Von Belgrad nach Frauenfeld: In einer verlassenen Fabrik in Belgrad nutzte Anna von Siebenthal weissen Faden und schuf so eine Installation, die an ein Spinnennetz erinnert. Das Prinzip ist nun auch in der Frauenfelder Ausstellung im Shed Eisenwerk zu beobachten. | © Anna von Siebenthal

Eintauchen in alte Fabriken: Im Shed in Frauenfeld sind bis zum 9. November Werke von Anna von Siebenthal und Clément Bedel zu sehen. Die beiden haben unabhängig voneinander in einer ehemaligen Textilfabrik in Belgrad gearbeitet. Die Kuratorin Zeren Oruc hat die Bilder und Installationen dort entdeckt und führt sie hier im ehemaligen Eisenwerk zusammen.  (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Das verlassene Belgrader Pamučni Kombinat hat die Thurgauerin Anna von Siebenthal, den Franzosen Clément Bedel und die Türkin Zeren Oruc zusammengebracht. «Ich war vor vier Jahren für Kunstprojekte nach Belgrad gezogen», erzählt die unabhängige Kuratorin

«Clément war damals schon als Gaststudent vor Ort und hatte die frühere Textilfabrik für sich als Inspirationsquelle entdeckt. Vor zwei Jahren war ich wieder einmal in der Ruine und sah dann Annas Rain-Paintings», erzählt die Kuratorin Zeren Oruc. «Ich fragte mich, wer die bunten Tücher geschaffen hat. Nun ist die Fabrik zwar ein sehr inspirierender Ort, aber es ist nicht ganz legal, dort zu arbeiten. Deshalb hatte Anna natürlich ihre Werke nicht signiert. Ich war froh, dass sie mich rund einen Monat später von sich aus kontaktierte, so dass ich sie kennenlernen konnte.» 

Am gleichen Ort, zu anderer Zeit

Zeren Oruc sah die Zusammenhänge zwischen den Werken von Anna von Siebenthal und Clément Bedel. «Sie haben sich zu unterschiedlichen Zeiten vom gleichen Ort inspirieren lassen, und die Inspiration ganz anders umgesetzt: Clément mit Ölgemälden, Anna mit Installationen aus vor Ort gefundenen Materialen. Das wollte ich kombinieren.» 

Anna von Siebenthal nahm die Gemälde Bedels erst vor Kurzem zur Kenntnis. «Zeren hebt die Verbindungen zwischen unseren Arbeiten gekonnt hervor», sagt sie. Die Thurgauerin erkennt in den organischen grünen Strukturen, die der Maler mit Spuren menschlicher Architektur mischt, Motive aus der Fabrik. «Die Natur erobert sich dort das Gelände zurück», beschreibt sie. 

Bedels Bilder entstanden ein paar Jahre vor Siebenthals Serbien-Aufenthalt, der im Frühling 2021 durch ein Atelierstipendium der Thurgauer Kunststiftung zustande gekommen war. «Als ich ankam, habe ich erstmal die ganze Stadt erkundet und bin dabei auf die Fabrik gestossen», so die 28-Jährige. «Der Komplex wirkte, als sei er gerade verlassen worden. Es lag immer noch viel Material herum, obwohl das Unternehmen schon 2001 Konkurs anmelden musste.» 

 

Anna von Siebenthal kehrt nach ihrem Atelierstipendium immer noch gern nach Belgrad zurück, um in die Kulturszene einzutauchen. Bild: Inka Grabowsky

Vom Regen gezeichnet

Die junge Thurgauerin war fasziniert. Sie begann, sich mit der Fabrik auseinanderzusetzen, sammelte Material, machte Filme und Fotos, recherchierte im Internet. Dann arbeitete sie vor Ort, geduldet von der Security, die darauf achtet, dass Metallsammler bei ihren illegalen Abrissarbeiten nicht das ganze Gebäude zum Einsturz bringen. 

Unter anderem legte sie Tücher aus, die sie gefunden hatte, und verteilte darauf Farbpigmente aus den Beständen der Fabrik. Der Regen, der durch das undichte Dach tropfte, liess bunte Flächen entstehen: die Rain-Paintings, die jetzt eine zentrale Rolle in der Frauenfelder Ausstellung spielen. 

Ein roter Faden von Belgrad nach Frauenfeld

Anderes hat Siebenthal extra für das Shed geschaffen – eine Installation aus rotem Faden etwa. «Sie nimmt Bezug auf ein Werk, das ich in Belgrad gemacht hatte», so die Künstlerin. «Dort hatte ich eine Spule mit weissem Faden entdeckt und ihn zwischen zwei Säulen aufgespannt. Es hat Tage gedauert, die über 13 Kilometer Faden zu verarbeiten. Doch der Effekt eines alten Spinnennetzes passte grossartig zur verlassenen Fabrik.» 

Im Laufe der Zeit löste sich die Installation auf, erhalten blieb die Aufnahme des Schaffensprozesses auf Video. «Es ist eine Langzeit-Performance. Es ging mir auch darum, die repetitive Arbeit in einer Fabrik zu zeigen.» 

 

Im Shed im Eisenwerk liegen die Rainpaintings auf dem Boden - im Vordergrund die Installation aus rotem Faden. Bild: Inka Grabowsky

Vergänglichkeit fragiler Wirtschaftssysteme

Die Aufnahme ist im Shed zu sehen. Ausserdem erklären Audio-Stücke die Geschichte der Fabrik. Zeren Oruc blickt nicht ohne Wehmut auf das Beogradski Pamučni Kombinat. Es stehe zwar eigentlich unter Denkmalschutz, meint sie, aber es werde dem Verfall anheimgegeben. «Ich vermute, der riesige Fabrikkomplex mit seinen 36.500 Quadratmetern wird demnächst abgerissen und durch moderne Wohnanlagen ersetzt.» 

Die Erinnerung an die hundertjährige Industriegeschichte wird verblassen. Deshalb stellt sie ihre Ausstellung auch unter das Motto «Hanging by a Thread» - «Am seidenen Faden». «Wir verwandeln das Eisenwerk metaphorisch in die verlassene Textilfabrik und schaffen hier eine Atmosphäre, wie sie dort herrscht. So kann man über die Vergänglichkeit unserer fragilen Wirtschaftssysteme nachdenken.» 

 

Pflanzen erobern Bauwerke.  Mit dem Wissen um die Inspirationsquelle drängt sich die Interpretation von Bedels Gemälde auf. Bild: Inka Grabowsky

Zum ersten Mal in Kombination

Um die Atmosphäre des Belgrader Industriedenkmals in die Schweiz zu übertragen, suchten 

die Kunstschaffenden für eine Ausstellung in der Schweiz gezielt nach einer ehemaligen Industriehalle. Das Shed passte perfekt. «Es ist quasi der dritte Künstler, der zum Gesamteindruck beiträgt», so Zeren Oruc. «Und meine Interpretationen der Arbeit von Anna und Clément ist der vierte Teil.» 

Anna von Siebenthal kannte die Räume im Eisenwerk, weil sie nur zwanzig Kilometer von ihrem Heimatort Wagenhausen entfernt sind. «Als ich anfing Kunst zu studieren, habe ich unzählige Ausstellungen besucht, natürlich auch hier.» Die Kuratorinnen des Sheds waren sofort begeistert, die Werke zum ersten Mal zusammen zu zeigen. 

 

Kuratorin Zeren Oruc sah die Zusammenhänge in Bedels und von Siebensthals Arbeiten. Bild: Inka Grabowsky

Was die Schweiz von Serbien unterscheidet

Zeren Oruc, die gerade nach Berlin gezogen ist, bezeichnet Belgrad als einen derzeit noch freien Spielraum für Kunstschaffende. «Man konnte dort vieles ausprobieren, weil die Regeln der Kunstwelt noch nicht gesetzt sind. Hier in der Schweiz ist die Infrastruktur viel besser, dafür ist alles reglementiert und kompliziert. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Man hat die Wahl zwischen Freiheit oder Unterstützung.» 

Anna von Siebenthal sieht das ähnlich. «In der Schweiz kann man sich als Kulturschaffende über Wasser halten. Das Fördersystem hat Vorteile. In Serbien jedoch ist trotz mangelnder öffentlicher Gelder die Szene sehr lebendig. Die Künstler arbeiten schnell zusammen. Das gibt eine Menge Energie.» 

Ein Beispiel einer Kooperation wird bei der Finissage am 9. November zu erleben sein. Anna von Siebenthal zeigt eine Performance, zu der der Serbe Miloš Dimitrijevic den Sound beigesteuert hat.

 

Termine der Ausstellung

«Hanging by a Thread» im Shed des Eisenwerks in Frauenfeld bis vom 19. Oktober (Vernissage ab 19 Uhr) bis zum 9. November zu sehen, jeweils donnerstags und freitags von 19 bis 21 Uhr, samstags 16 bis 20 Uhr 

Finissage
Donnerstag, 9.11.2023, 19 bis 21 Uhr Performance Anna von Siebenthal, Miloš Dimitrijevic (Sound)

 

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