von Inka Grabowsky, 22.04.2024
1300 Jahre Kulturzentrum am Bodensee
Im Jahr 724 wurde das Kloster auf der Insel Reichenau gegründet. Es entstand ein gigantisches Wissens- und Beziehungsnetzwerk. Zwei Ausstellungen erinnern mit fulminanten Schätzen daran. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
«Welterbe des Mittelalters» - bescheiden ist er nicht, der Titel der Grossen Landesausstellung im Archäologischen Landesmuseum (ALM) in Konstanz. Aber die Kuratoren treten auf 900 Quadratmetern und zwei Stockwerken den Beweis an, dass der Einfluss der Benediktiner-Abtei auf die Welt tatsächlich nicht zu unterschätzen ist.
Die Mönche dort schufen im Skriptorium Bücher, die Reiche und Mächtige aus ganz Europa bei ihnen in Auftrag gaben. Hier lebten Wissenschaftler wie Abt Walahfrid Strabo, der mit seinem Gedicht «Hortulus» aller Welt klarmachte, was in einen Garten gehört und wozu es dient. Als Hofdichter in Aachen (829 -839) hatte er Einfluss auf die Kaiserfamilie.
Auf der Reichenau entstand um 820 der St. Galler Klosterplan, bei dem sich die Gestalter überlegt haben, wie ein ideales Kloster auszusehen hätte. Und hier lebte und forschte bis 1054 Hermann der Lahme, der Wissen aus der arabischen Welt über Mathematik und Astronomie übersetze und damit für Europa zugänglich machte.
Riesiges Beziehungsnetzwerk
«Die Reichenau war keinesfalls so abgeschieden, wie man annehmen könnte», erklärt Olaf Siart, der Wissenschaftliche Projektleiter. «Sie liegt an wichtigen Verkehrsadern wie dem Rhein und den Alpenpässen. Und auch die Mönche lebten nicht alle weltabgewandt in Klausur. Das Verbrüderungsbuch, das wir in der Ausstellung zeigen, umfasst rund 38.000 Namen – es ist quasi das Internet des Mittelalters.»
Jeder Mensch, der hier aufgeführt wird, stand in Beziehung zum Kloster. Seiner wurde in Gebeten gedacht. In der Ausstellung wird das durch eine Tonspur vergegenwärtigt. Die Namen werden einmal mehr verlesen.
Kostbare Originale zusammengesucht
Die Geschichte der Wirkung der Reichenau wird in Konstanz anhand von 250 Exponaten erzählt. Leihgeber aus ganz Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz haben sie zur Verfügung gestellt. Prominentes Beispiel aus dem Thurgau ist die gläserne Frauenfelder Stadtscheibe, die die Gründungsgeschichte in Bildern erzählt. Der Abt der Reichenau spielt dabei als Heiratsvermittler eine herausragende Rolle. «Es ist eine schöne Legende, die wir hier kennengelernt haben», sagt Olaf Siart.
Doch gegenüber anderen Leihgaben nimmt sich der Thurgauer Beitrag plötzlich bescheiden aus. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen unbezahlbare Bücher – Sakramentare, Codices, Evangelistare und Evangeliare. Eines ist spektakulärer als das andere. Fünf Handschriften gehören zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.
Echte Fälschungen
Prachteinbände und kunstvolle Buchmalereien beeindrucken, doch es sind mitunter ganz farblose Exponate, die am meisten Aufschluss über die Welt des Mittelalters geben. Zentral für eine Jubiläumsausstellung ist naturgemäss die Gründungsurkunde des Klosters. Und tatsächlich kann man sie in einem der Säle bewundern. «Es ist eine Fälschung», sagt Professor Wolfgang Zimmermann provokant. Der Abteilungsleiter des Landesarchivs Baden-Württemberg hatte den Vorsitz im wissenschaftlichen Beirat des Ausstellungsprojekts inne.
Professor Eckart Köhne, der Ausstellungsdirektor und Gesamtleiter, präzisiert die Aussage: «Mitte des 12. Jahrhunderts haben Mönche die Aktenlage rekonstruiert und das fiktive Datum 25. April 724 zugefügt.» Es dürfte damals Besitzstreitigkeiten gegeben haben. Und weil es nach 400 Jahren kein Original mehr gab, hat man eben eines geschaffen, um althergebrachte Rechte weiter zu legitimieren. Erfreulicherweise belegen noch andere Quellen, dass 724 das Gründungsjahr war.
Verabschieden muss man sich auch von der Idee, dass der Wanderbischof Pirmin eine wilde und unbewohnte Insel in Besitz nahm, als er übersetzte. Das entsprechende Bild ist im Reichenauer Münster zu bewundern. Archäologische Funde belegen aber, dass es bereits zuvor steinerne Häuser gab. «724 war nicht die Stunde Null», so Zimmermann.
Die Reichenau hat sich herausgeputzt
Nur zehn Kilometer vom ALM entfernt ist das eigentliche Original zu finden, wie Wolfgang Zoll, der Bürgermeister der Gemeinde betont. 5500 Einwohner hat sie, davon allerdings 2000 in der Waldsiedlung und in Lindenbühl auf dem Festland. Etwas über vier Quadratkilometer gross ist das Eiland. Gerade wurde es durch den neuen Inselbus bequemer, sich dort ohne Auto zu bewegen.
Die Reichenau ist zwar seit 2000 UNESCO-Welterbe, aber kein Freilichtmuseum. Das Münster, St. Georg und St. Peter-und-Paul sind immer noch Pfarrkirchen. Die Kopie des Markusschreins mit den Reliquien des Evangelisten und die Heilig-Blut Reliquie werden immer noch bei Prozessionen über die Insel getragen. Der Wein mag zwar von den Mönchen auf die Insel gebracht worden sein, aber er wird von Winzern angebaut, um ihn zu verkaufen.
Ausserdem fanden nicht nur die Mönche die klimatischen Bedingungen mitten im See günstig. Die Reichenau ist auch die «Gemüseinsel». Die gläsernen Treibhäuser prägen das Landschaftsbild. Einst zogen die Reliquien Pilger an, was wirtschaftlich interessant war, heute reisen Touristen auf die Insel, was wirtschaftlich interessant ist. Und selbstverständlich stellt man sich auf viele Besucher zum Jubiläum ein.
Anekdotisch statt bierernst
Das Museum der Reichenau in Mittelzell hat sich zum Jubiläum eine neue Ausstellung geschenkt. Sie will Inselgäste bewusst niederschwellig mit dem Mittelalter bekannt machen, wie Kuratorin Cristina Negele erklärt: «Das Mittelalter war gar nicht so dunkel und schmutzig, wie man gemeinhin annimmt. Auf dem St. Galler Klosterplan sind sieben Toilettenanlagen und Bäder eingezeichnet.» Offenkundig legte man also schon von 1200 Jahren Wert auf Körperpflege.
Der nächste populäre Irrtum betrifft die Schreibfedern, mit denen die Mönche arbeiteten. «In jedem Film sieht man die Kiele mit allen Härchen. Dabei wurde die abgeschnitten, weil sie beim Schreiben stören.» Im Museum lernt man auch, dass der Spruch «Halt die Klappe» auf Mönche zurückgeht. Ihre Klappsitze in der Kirche konnten viel Lärm verursachen, wenn man sie nicht festhielt. «Die Klappe halten» heisst also: leise sein und die Andacht nicht stören.
Schatzkammer entstaubt
Wenige Meter vom Museum entfernt befindet sich mit dem Münster «St Maria und Markus» der Ort, von dem alles ausging. Die Schatzkammer, die noch heute genutzte Sakristei, ist für das Jubiläum umgestaltet worden. «Der Satz ‹Alles erstrahlt in neuem Glanz› ist für uns Restauratoren eine Horrorvorstellung», sagt Katrin Hubert.
Dennoch hat sie sieben Monate in der engen und ungeheizten Kammer verbracht, um den alten Glanz der Reliquiare dort wieder sichtbar zu machen. «Wir haben vor allem die Oberflächen gereinigt. Der Markus-Schrein beispielsweise war von einem Gipsschleier von einer Abformung überzogen. Und das ist nicht ungefährlich, weil auf dem Schmutz Schimmel wächst.»
Garten neu gestaltet
Uwe Anker, ehrenamtlicher Gästeführer auf der Reichenau, freut sich besonders über die Neugestaltung des Gartens hinter dem Münster. «Er wirkte vorher geradezu lieblos. Nun ist der Kreuzgang, der wohl im 17. Jahrhundert abgerissen wurde, als man den neuen Konvent baute, durch Linden nachempfunden. Und im Kräutergarten sind alle 24 Küchen- und Heilpflanzen zu sehen, die Walafrid Strabo im Hortulus erwähnt.»
Anker erklärt auch, warum ein Teil des Gartens eine schlichte Streuobstwiese ist. Hier war der Friedhof des Klosters. Es liegen möglicherweise immer noch Gebeine aus tausend Jahren Klostergeschichte im Boden.
Die Ausstellungsdaten und digitale Angebote
Die Informationsflut, die auf der Reichenau und in der Grossen Landesausstellung auf die Besuchenden einprasselt, ist immens. Damit sie sich leichter zurechtfinden, haben die Ausstellungsmacher eine App programmieren lassen. Auf der Insel sagen Geolokalisationsdaten einem, wo man sich befindet und was es dort zu sehen gibt. Texte, Videos, Bilder und Audiospuren helfen sowohl in der Ausstellung als auch auf der Reichenau weiter. Die App gibt es zum Download hier.
Ausserdem verantwortet Marvin Gedigk, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Badischen Landesmuseum, den Podcast «Mönchsgeflüster». Seit Ende November 2023 gibt es jeweils Montagmorgen eine neue Folge mit Experten-Interviews. Wer Pushnachrichten erlaubt, bekommt zudem Updates des fiktiven Mönchs Grimalt. Der Podcast ist ebenfalls zugänglich über die Website zur Ausstellung.
Die Ausstellung «Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau» im Archäologischen Landesmuseum Konstanz ist Dienstag bis Sonntag jeweils von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Eintritt 14 Euro. Sie endet am 20. Oktober 2024
Das Museum auf der Reichenau ist täglich geöffnet von 10.30 bis 17.30 Uhr
Die Schatzkammer im Münster ist täglich (ausser von 12 – 15 Uhr) zu besichtigen. Das Jubiläumsticket für beides kostet 12 Euro. Ein Kombiticket (Reichenau und Konstanz) kostet 23 Euro.
Von Inka Grabowsky
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