von Jürg Schoop (1934 - 2024), 29.01.2018
Die Hierachie ist tot, es lebe das Kollektiv
Die Reihe "jazz:now" ist im Eisenwerk ins neue Jahr gestartet: Sechs vernetzte Musiker kommunizieren via Tablets und kreieren Echtzeitmusik voller Überraschungen.
Von Jürg Schoop
Veranstaltungen, zu denen weit weniger als fünfzig Besucher hinstreben, sind ein echter Gewinn, wenn auch kein Highlight für die Veranstalter. Mann und Frau sind dann versichert, keinem durchschnittlichen, routinierten Ereignis beiwohnen zu müssen. "Ich muss Neues, Ungewohntes sehen", hat am Schluss des Konzertes ein alter, jenseits des Rentenalters stehender Thurgauer kommentiert. (Ja, das gibt es, vielleicht an den Fingern abzählbar ...) Zu Gast im Eisenwerksaal in Frauenfeld, im Rahmen der Jazz-now-Konzerte, war ein vom St.Galler Bassisten und Komponisten Marc Jenny ins Leben gerufene 6-köpfige Ensemble, sinnigerweise alles Musiker mit Thurgauervergangenheit oder zumindest entsprechenen Wurzeln.
Der Initiator und Produzent Marc Jenny wollte mit dieser Yes, Don't Panic-Aufführung eine weitere Kostprobe seiner Idee eines Conduktin concepts for improvising musicians vermitteln. Physisch erfahrbar wird das Konzept durch eine Art Performance, bei der die durch Tablets untereinender vernetzten Musiker einzeln im Raum stehen und frei improvisieren. Vorgängig abgesprochene Themen und Anweisungen gibt es keine. Alle Mitwirkenden sind berechtigt, Anweisungen an Mitspieler zu vermitteln, wie diese dann umgesetzt werden, entzieht sich aber dem Anweisenden. Jenny hat die dazugehörende Software selbst programmiert. Wenn der bewegte Konzertbesucher auch mal einen Blick auf das Tablet erhascht, wird er so wenig klug daraus wie jener Neugierige im TV-Spot, der bei den drei Appenzellern sich nach dem Geheimnis des Appenzellerkäse-Rezepts erkundigt.
Man kann den Mitwirkenden aus nächster Nähe zuschauen
Die dargebotene improvisierte Musik selbst hat nichts geheimnisvolles an sich, wenn man von den Grundlagen ihrer Entstehung bei jedem der Einzelnen absieht: Man kann den Mitwirkenden ja aus nächster Nähe auf Finger, Hände und Mund schauen. Ob Rätus Flisch, der von Peter Rüedi einmal der Wunderbare genannt wurde, mit seinem Bogen sanft die Saiten streicht und zarte Töne entlockt oder ob er vehement rhythmisch darauf schlägt, es ist jederzeit einfühlsam und präzis, auch für das Auge eine Freude. Der Flötist Oliver Roth spielt sonst auch in Johannes Schleiermachers Woima Collective Texeta, auf Grundlagen vorab südafrikanischer Musik. Niculin Janett, hier ein Tenorist, der gewohnheitsmässig Altsaxophon spielt, gibt an, in Sulgen geboren zu sein, was kaum einen verheissungsvollen Start als Jazzmusiker garantiert. Das Interesse an den Klappen führte denn auch an die Zürcher Hochschule und zu einem längeren Studienaufenthalt in New York (Janett spielt übrigens am 24.Mai mit eigenem Quartett in der Esse-Bar, Winterthur). Noam Szyfer, der Gitarrist, spielt wie auch Janett bei den Sad Pumpkins, nennt sich selbst ein «Schweizer Taschenmesser», weil er mit so manchen Dingen umgehen kann. Seine Vorliebe für Elektronik trat bei diesem Konzert zu Tage, er brachte sich sehr leise ein. Auf die Idee, dass er bei der eher lauten Balkan-Band Suma Covjek mittut, kam man nicht. Maris Egli am Drumset - einer der Youngster - fügte sich gut in das Ensemble ein. Er ist in der Band von Peter Schärli letztes Jahr beim Alpentöne-Festival in Erscheinung getreten und ist im April in der Werkstatt für Improvisierte Musik, Zürich, im Trio zu hören.
Video (von Jürg Schoop & Gerti Wülser): So klang der Abend im Eisenwerk
Die Vokalistin Rahel Kraft braucht man den eingefleischten Kulturbeflissenen kaum vorzustellen, sie hat 2015 einen Thurgauer Förderbeitrag erhalten. Unzweifelhaft gut angebrachtes Geld möchte man meinen. Ich kenne das Vokabular, um eine gute Stimme fachgerecht zu umschreiben, leider zu wenig. Nur soviel: Sie könnte auch einen Standart wie "Summertime" derart interpretieren, dass die Idee nicht weitab läge, Ella hätte da einen ganz besonderen Tag gehabt. Kraft lediglich als Sängerin zu bezeichnen, wäre zu kurz gegriffen, sie interessiert sich nicht nur für alles, was mit stimmlichen und klangmässigen Ausdruck zu tun hat, performatorischer Rahmen ist ebenso ihr Ding. Ihr Interesse für Elektronik zeigt sich im Zusammenwirken mit Valeria Zangger, als Duo 2Henning (in dieser Konstellation sind sie am 22. Februar im Moods, Zürich, zu hören) und dem Berliner Composer/Sounddesigner-Talent Erhan Erel.
Manches von der beabsichtigten Magie kam rüber
Klar wurde, dass es Marc Jenny, der eine Carte blanche für einige Konzerte erhalten hat, nicht nur darum ging, einigen Thurgauer Musikern einen etwas provozierenden Auftritt zu verschaffen. Er hat Musiker und Musikerin verständlicherweise auch nach musikalischem Können und der Fähigkeit, einen solchen Auftritt mitzugestalten, ausgewählt. Nach seiner Miene zu schliessen, war er mit den Einsätzen sehr zufrieden, das spärliche Publikum spendete dankbaren Applaus. Manches von der beabsichtigten Magie kam rüber. Einleuchtend ist auch, dass die Ergebnisse eines derartigen Konzepts stets hinterfragt und verbessert werden können.
Diese Improvisationsgesellschaft musste aus Mitwirkenden bestehen, die ein Gehör für das Ausmass, die Gestalt einer freien kollektiven Improvisation haben, die ein feines Gespür dafür besitzen was andere tun, was sie im Sinn haben. Ein Gehör dafür, wann der eigene Beitrag gefragt, eine neue Stimmenfarbe in welcher Dosierung einzusetzen ist. Ein Gefühl dafür, wie mit eventuell vorhandener eigener Aggressivität umzugehen ist. Ein Stück weit mögen solche Fähigkeiten bei jedem Jazzmusiker vorhanden sein, doch Jenny möchte da weiter gehen, neue Rahmenbedingungen schaffen, wie er sagt, in denen sich Musiker auf inspirierende Weise begegnen können.
Die erstmals zusammen spielenden Thurgauer Mitglieder des Don't Panic-Ensembles haben sich für ihren Auftritt gestärkt. Bild: Jürg Schoop
Ich denke, dass solche Bestrebungen auch in einem grösseren sozio-kulturellen Rahmen gedeutet werden können. Die Verbannung des hierarchischen Aufbaus, die Idee einer grenzüberschreitenden Mitsprache, Toleranz gegenüber Andersartigem und so weiter sind ja Postulate einer fortschreitenden, aufgeklärten Gesellschaft allgemein. Wenn Jenny von einer vielseitigen und überraschenden Performance spricht, die allen Spass macht, taucht am Horizont auch der oft zitierte Begriff «Spassgesellschaft» auf. An diesem Punkt angekommen müssen wir vermutlich darüber befinden, wie weit physische und psychische Präsenz, wie rituelle Bedürfnisse und anderes in eine verbindliche Ästhetik eingeplant werden sollen. Die Besucher von Rockkonzerten und volkstümelnden Anlässen haben damit keine Probleme. Marc Jennys' Yes,Don't Panic! könnte man noch das Wort des Alt-Hippies Jerry Rubin dazu setzen: Do it!
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