von Jürg Schoop (1934 - 2024), 29.07.2015
Gerechtigkeit an der Grenze
Etwas augenzwinkernd auf den Hype um den Ketzer Jan Hus und die kleine, eben husgerechte Galerie gerichtet, hat Johannes Dörflinger, - der hier vor allem durch die Tarot-Kunstgrenze zwischen Deutschland und der Schweiz bekannt geworden ist – einige Freunde zur Vernissage der Ausstellung "husgerecht" eingeladen. Beobachtungen und Gedanken.
Die Automobil-Schlangen der Einkaufstouristen kommen hier nicht vorbei. Da windet sich nur die Schlange der Gerechtigkeit in Form einer Bronzeskulptur des Galeristen und Ausstellers Johannes Dörflinger.
Die Besucherschar, die bis zum Trottoir hinaus reichte. (Fotos: Jürg Schoop)
Das Thema der im Untertitel angesprochenen «Gerechtigkeiten» ist wohl in einzelnen Arbeiten sichtbar, hält sich aber im Allgemeinen dezent zurück. Nebst der schon angesprochenen Bronze von Johannes Dörflinger, finden sich zwei stilvolle Assemblagen, Variationen zum Thema, von Steffi Hundertpfund.
In einem Struggle of Life versuchen die Menschen Boden zu gewinnen und einen gerechten, ihnen zustehenden Platz zu erringen. Soviel vom Stand der Dinge. Wie das gehen soll, bleibt den nachdenklichen Betrachtern überlassen. Als ungerecht, weil aus einer sehr einseitigen Sichtweise hervor gegangen, kann man auch die gewollte und ungewollte Vernichtung der Natur bezeichnen.
Links: Johannes Döfrlinger. Rechts: Steffi Hundertpfund.
Hundertpfund verdeutlicht das mit einer aktionsgeladenen Bildserie, deren bescheidenen Ausmasse der Bedeutung der Tatsachen eklatant widerspricht. Daneben nehmen sich die filigranen Zeichnungen der in Hamburg lebenden Koreanerin Hyun-Sook Song, wenngleich auch sie auf ihre Weise Geschichten erzählen, sehr zurückhaltend aus. Der Konstanzer Bildhauer Werner Schlotter hat sich mit der «Ziegenburg», einem Reduit, das dem Johannes Hus von einem böhmischen Landadligen als Schutz zur Verfügung gestellt worden sei, in raumgestalterischer Weise beschäftigt.
Eine ungeahnte Entdeckung war für mich der äusserst vielseitige Künstler Simon Dittrich, 1940 geboren, ein Studienfreund aus alter Zeit von Johannes Dörflinger. Ich frage mich, wieso uns immer solche Popanzen wie Richter und Baselitz aufgedrängt werden und es daneben Leute wie Dittrich und Dörflinger gibt, die in Kennerkreisen sehr wohl bekannt sind, die man ruhig zu den Arrivierten zählen kann, aber im Vergleich ihr Licht unter den Scheffel gestellt bekommen haben.
Dittrich verbindet mit Dörflinger, dass er stets von elementaren Dingen, wie Häuser, Berge, Pflanzen, Menschen ausgegangen ist und sich nie oder nur selten auf die Abstraktion verlassen hat. Dittrich war sich aber stets klar, dass es nicht die Themen sind, die zählen, dass es allein darauf ankommt, sie auf eigenwillige Weise gekonnt ins Bild zu übersetzen. (Da gibts z.B. «Haus mit eigenem Willen», ein «Sommerhaus im Winter» - doch handelt es sich gottseidank nicht um Illustrationen...)
An der Ausstellung zeigt Dittrich eine Reihe von Farbstift-Zeichnungen zum Thema Haus und ich musste mich belehren lassen, dass man gegebenenfalls auch mit Farbstiften etwas Vernünftiges machen kann – was ich schon in der Schule bestritten hatte. Der Künstler ist auch ein exzellenter Grafiker, seine Siebdrucke besitzen die Kraft japanischer Farbholzschnitte, und das will etwas heissen. (Leider nur im aufliegenden Kunstband und mittels Google zu sehen.)
Simon Dittrich, Hyun-Sook Song, Johannes Dörflinger (von links).
Wenn man sein Werk im Gesamten betrachtet, wird einem klar, was für ein grossartiger Fabulierer Dittrich ist. Und für Fabulierer hat es keinen Platz in den obersten Rängen des Rankings, ausser sie sind schon einige Zeit tot oder weisen andersgeartete Deformationen aus. Wir benötigen keine Kunstgeschichte von dem Markt nachbetenden Kunstgeschichtlern verfasst, sondern eine auf den Punkt gebrachte Soziologie der Kunst von psychoanalytisch geschulten Kulturwissenschaftlern. Dann würde man schon mal begreifen, warum die grössten Leinwände bevorzugt werden und die allergeräumigsten Kunststätten en vogue sind und wie das alles zusammenhängt.
Was von Dörflinger zu sehen ist, stellt nur einen kleinen Ausschnitt seines umfangreichen Werkes, das von verschiedenen Materialien und Techniken genährt ist. Ein langer Weg ist's von den frühen, dem Informel nahen Abstraktionen aus den 60-er Jahren, in denen auch der Einfluss seiner Anreger wie Morandi zu sehen ist, bis zu den grossen Eisenskulpturen der Kunstgrenze. Der Künstler hat es auch gern im Kleinen, in einer Vitrine sind mehrere kleine Skulpturen zu besichtigen, - sehr witzig und auch gekonnt: die Summe aller Tarot-Symbole auf einem Stamm.
Manche der Dinge gefallen sehr in ihrer Eleganz und funktionellen Eindeutigkeit, manches kommt auch etwas gar verspielt daher. Ich hätte noch lieber die bearbeiteten Polaroids gesehen, - da spielt Johannes Dörflinger in der obersten Liga mit.
Den Schweizern ist jedenfalls vorzuschlagen, die Einkaufstour auf die südliche Konstanzer Vorstadt auszudehnen, damit die Gerechtigkeit zwischen Bereicherungswillen und geistiger Erholung hergestellt werden kann!
Husgerecht - «Gerechtigkeit» in Werken von Johannes Dörflinger, Simon Dittrich, Steffi Hundertpfund, Hyun-Sook Song, Werner Schlotter
Galerie KunstGrenze, Kreuzlingerstrasse 56, 78462 Konstanz
Vom 25. Juli bis 15. September 2015
Öffnungszeiten: Freitag 14-18 Uhr, Samstags 10-14 Uhr
oder nach Vereinbarung
info@kunstgrenze.org
***
Mehr zum Thema
"the artist, as an old man" - thurgaukultur.ch vom 10.04.2013
Weitere Beiträge von Jürg Schoop (1934 - 2024)
- «Jazz ist die beste Form der Demokratie» (13.05.2020)
- Die Hierachie ist tot, es lebe das Kollektiv (29.01.2018)
- Auf dem Weg zum Dreamteam (05.12.2017)
- Wo Tradition auf Gegenwart trifft (23.06.2016)
- Jazz im SIX - ein Geheimtipp (01.06.2016)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Kunst
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Bildende Kunst
Ähnliche Beiträge
Zwischen Zugehörigkeit und Fremdsein
Die im Thurgau aufgewachsene Künstlerin Thi My Lien Nguyen richtet ihr Augenmerk im Kunstmuseum St. Gallen auf die Ambivalenz postmigrantischer Realitäten. mehr
Warum Räume für Kultur so wichtig sind
Schwerpunkt Räume: «Kultur braucht Raum, um zu entstehen, aber vor allem auch um ein Ort des Austauschs zu sein», findet die Malerin Ute Klein. mehr
Wann ist ein Mensch ein Mensch?
Szenen des Alleinseins: Die Performerin Micha Stuhlmann und der Videokünstler Raphael Zürcher haben gemeinsam mit dem Open Place in Kreuzlingen eine vieldeutige Installation geschaffen. mehr