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Wo Tradition auf Gegenwart trifft

Wo Tradition auf Gegenwart trifft
Christian Brühwiler und Jürg Schoop (v.l.) im Gespräch | © Sascha Erni

Jürg Schoop, bildender Künstler, ist angetan vom bunten, auch hohen Ansprüchen genügenden musikalischen Bilderbogen im Romanshorer KLANGREICH des Musikers Christian Brühwiler. Im folgenden zum Zehnjahres-Jubiläum ein Gespräch unter Freunden.

Text und Bilder: Jürg Schoop

Jürg Schoop: 1963 wurde eine paritätische Kommission gebildet, die den Auftrag hatte, die Renovation der alten Kirche in Romanshorn an die Hand zu nehmen. Vermutlich gab es dann eine Abstimmung über die Kosten. Ich wurde auch, wie manche andere, gebeten ein positives Votum für die Zeitung zu verfassen. Schon damals wurde ausdrücklich erwähnt, dass in dieser Kirche auch kulturelle Anlässe stattfinden dürften. Ich war zwar etwas misstrauisch, was dies betraf, wollte aber eine Renovation - schon der Fresken wegen - nur unterstützen. Ich war damals (1964) 30 Jahre alt, in welchem Alter standest Du?

Christian Brühwiler: Da war ich ein Erstklässler.

Ist es nicht etwas verwunderlich, dass die Einweihung erst 1969 stattfand? Hing das von der Renovierung der Fresken ab?

Die Denkmalpflege hat den ganzen Komplex eingehend untersucht, die Restaurierung der Wandmalereien war eine aufwendige Sache.

2007 stand zu lesen, dass die Gesellschaft für Literatur und Musik und Kunst in Romanshorn seit mehreren Jahren in der Alten Kirche besondere Konzerte veranstaltet. Wann haben diese Konzerte begonnen und in welchem Jahr wurde „klangreich“ - nomen est omen - ins Leben gerufen, und warst du von allem Anfang an bei der Gründung hauptbeteiligt?

Ich war noch ein Schuljunge, als ich zu den ersten Konzerten in der alten Kirche mitgenommen wurde. Ich erinnere mich noch an den Geiger Hans Heinz Schneeberger und an die Harfenistin Ursula Holliger. Eine Gruppe um Christian Bötschi, Christian Fischbacher und Paul Engeli organisierte nach der Renovation die Schlossbergkonzerte. Später führte das Musikkollegium unter der Leitung von Martin Gantenbein die Konzerte weiter. Als der Elan nachliess, übernahm die Gesellschaft für Literatur, Musik und Kunst Romanshorn (GLM) unter der Leitung von Martin Böller diese Aufgabe. Im Jahr 2000 übernahm ich die verantwortliche Progammierung dieser Konzerte. Im nächsten Jahr werden es 10 Jahre sein, seit denen sie unter dem Begriff klangreichsegeln.

Hat Dich ein kundiges Publikum von allem Anfang an unterstützt und Deine Bemühungen honoriert?

Im Grossen und Ganzen schon. 2002 war mir aufgefallen, dass bei unseren Konzerten in der alten Kirche keine einzige Frau aufgetreten war. Ich nahm mir vor, mal etwas anderes zu versuchen und stellte in der Folge ein Programm zum Thema „Musik von Frauen“ zusammen. Da gab‘s dann Musik aus oberitalienischen Frauenklöstern, Streichquartette von Fanny Hensel-Mendelssohn und ein Konzert mit Irène Schweizer und Co Streiff zu hören. Seither versuche ich, die Veranstaltungen thematisch lose zu verklammern und in den Themen auch Überraschendes und Gegensätzliches zu verpacken.

Das Barockensemble mummum-consort am 29. Mai in der Alten Kirche Romanshorn

 

Die Titulierung „klangreich“ weist einmal darauf hin, dass es ein Reich des Klanges gibt, mit dem wir Musikliebhaber bestens vertraut sind, aber man kann das Wort ebensogut als Eigenschaftswort hinnehmen. Und ich meine, wenn in der Kommunikations- und Werbebranche jemals ein Slogan seine Versprechen zu 100 Prozent erfüllt hat, so ist es dieser. Klangreich allemal, wenn man sich durch das Archiv der überaus hervorragenden Webseite hangelt, Resultat deiner mehr als zehnjährigen unnachahmlichen Arbeit. Man ist beinahe erschlagen von der Fülle hochstehender Interpreten, abwechslungsreicher Formationen, von Solo und Duo bis Chor, der klassischen und zeitgenössischen Art, doch auch dem Jazz und der freien Improvisation verpflichtet. Ein bunter, artenreicher, musikalischer Bilderbogen, der auch hohen Ansprüchen gerecht wird, tut sich auf. Abgesehen davon, dass diese Programmierung eine Menge Arbeit bedeutet, die ein Einzelner kaum leisten kann, wie kommst Du an alle diese verschiedenen professionellen Musikanbieter heran? Recherchierst du, gibt es eine von Mund zu Mund-Empfehlung? Sind Deine Verbindungen als Musiker, du spielst Posaune, hilfreich?

Mein Umfeld an Musikern ist ziemlich gross, ich habe viele Direktkontakte, höre mir auch viel Musik an. Dass man viele Musiker kennt, ist nicht immer nur hilfreich, sondern auch eine Last. Wenn ich meinem näheren Umfeld gerecht werden müsste, würden die Hörer nur Blechbläserensembles vorgesetzt bekommen, das wäre ja nicht auszuhalten (lacht). Als Veranstalter muss man unglaublich oft nein sagen, was gerade gegenüber Bekannten schwierig ist. Ich sage dann jeweils, dass ich selbst auch nur sehr selten in meiner Veranstaltungsreihe auftrete. Es gehört zu meiner Strategie, alte und zeitgenössische Musik, verschiedenste Instrumente, weibliche und männliche, junge und ältere Interpreten nebeneinander auftreten zu lassen. Auch Gegensätze werden ganz gezielt programmiert. So stiess ich etwas bei der Suche zum Thema Saiten auf den ausgefallenen Gitarristen Uwe Kropinski, der in Jazzkreisen kein Unbekannter ist.

Ja, das ist der, der ein 8/8-tel -Stück auf 7/8-tel reduziert hat ...

Du hast dir auf unserer Website den Konzertausschnitt angehört? Uwe Kropinski sagt ja seine Zugabe an, den Jazz-Standard „All the Things you are“, und meint dazu lakonisch, dass dieser Standard nun schon seit den Dreissiger Jahren von den Musikern gespielt werde und es schwierig sei, dem noch etwas hinzuzufügen, also nehme er ihm 1/8-tel weg. Man stelle sich vor, wenn das Schule machen würde: Der Rockmusik 1/8-tel wegnehmen, dem Jazzer mal den Dominatseptakkord entziehen? In gewissem Sinne versuche ich auch, als Veranstalter dem Publikum das Gewohnte wegzunehmen, dadurch entsteht Raum für Neues. Es ist auch ein amüsantes Beispiel für die Reduktion als aesthetisches Prinzip. Weniger ist mehr, im Fall von Uwe Kropinski auch noch extrem unterhaltsam.

Mir ist aufgefallen, dass viele der auftretenden Musiker die Schola Cantorumin Basel durchlaufen haben. Trifft das auch für dich zu?

Nein. Ich habe zuerst an der Universität Zürich Sozialwissenschaften studiert und im Sozialbereich gearbeitet. Parallel dazu habe ich das Instrumentaldiplom beim Schweizerischen Musikpädagogischen Verband erworben. Ich bin also eine Art Quereinsteiger, ich habe immer gern sehr breitgefächert Musik gehört. Die Kontakte zur Schola Cantorum ergeben sich durch mein Mitwirken in diversen Orchestern und Ensembles wie beispielsweise im Orchester der Bachstiftung St. Gallen oder dem Capriccio Barockorchester.

Auch die für die neue Saison im Herbst angesagte Harfenistin Giovanna Pessi kommt von dort. Nebst ihrer eigentlichen Domäne, der Barockmusik und davor, ist sie auch in zeitgenössischen Ensembles aufgetreten, wie zum Beispiel bei Christian Wallumrød, dem norwegischen Keyboarder.

Giovanna Pessi hat aus dieser Zeit spannende Kontakte zur regen norwegischen Szene. Sie erarbeitete mit dem bekannten Pianisten Andreas Ulvo ein Duoprogramm mit der Absicht, dieses zum Trio zu erweitern. Ein anderes Duoprogramm entstand mit dem Musiker Baptiste Romain, der als Improvisator und Mittelalter-Spezialist zurzeit äusserst gefragt ist. Diese beiden Duos verschmelzen nun zum Trio und werden in der alten Kirche im Advent dieses Jahres wohl als Premiere zu hören sein.

Ein 5-Sterne-Hotel mit durchgehender Bedienung suchen wahrscheinlich Musiker und Musikerinnen, denen es hauptsächlich um Musik geht, nicht. Aber gibt es auch Engagierte, mit denen das Verhandeln nicht gar so leicht ist?

Damit habe ich nie Probleme gehabt, schliesslich erscheinen keine grossen Stars in der alten Kirche. Die Leute sind echt unkompliziert. Dass Louis Sclavis darauf bestanden hat, mit einem 1.Klass-Billett hierher zu fahren, gehört kaum in die Abteilung grosse Probleme.

Klangreich hat manche Sponsoren im Hintergrund, ohne das geht es nicht. Heisst das auch, dass du eine einigermassen freie Hand hast, wenn bei Engagements das Honorar zur Sprache kommt?

Ich kann es mir leisten, anständige Honorare zu zahlen. Ich mache für jede Saison ein Budget im üblichen Rahmen. Der Vorstand der GLM segnet das ab, Sponsoren mischen sich da nicht ein. Gelegentlich trifft auch eine positive Rückmeldung von dieser Seite ein.

Du hast als klassischer Posaunist, wie ich feststellte, zweimal aktiv an Musikveranstaltungen teilgenommen. War das reine Routine für Dich, oder war es doch etwas besonders, einmal auf der andern Seite der heimischen Szene zu sitzen?

Ich bin es ja gewohnt, öffentlich aufzutreten. Der Debussy-Abend mit den Fêtes Galantes, an dem auch frei improvisiert wurde, war aber schon eine besondere Erfahrung.

Bekommst Du auch Rückmeldungen von den Musikern und Musikerinnen, die in der Reihe Klangreich aufgetreten sind?

Ja, das gibt's schon auch. Ich nehme ja auch viele Konzerte auf und dokumentiere sie in Zusammenarbeit mit den Musikern ausführlich. Diese Form der Nachbereitung wird von vielen geschätzt. Schliesslich geht es auch darum, dass jedes Konzert etwas Einmaliges, Besonderes sein soll.

Gibt es ein Wunschensemble, das Du noch nicht angefragt hast oder das zu bekommen ausserordentlich schwierig ist?

Nik Bärtsch mit akustischem Ensemble war beispielsweise eine Wunschformation. Es gibt natürlich viele Ensembles und Künstler, die zu gross, zu teuer, zu bekannt für unseren doch recht intimen Rahmen sind. Mein grösster unerfüllbarer Wunsch wäre ein Konzert mit dem norwegischen Gitarristen und Komponisten Terje Rypdal.

Halten alle hier Auftretenden einen Übungstermin in der Kirche ab, oder ist das eher die Ausnahme?

Klassische Musiker halten eigentlich immer eine Vorprobe ab.

Kennst du jemanden, der unzufrieden mit Deiner Programmierung ist?

Ich mache kein Dorfprogramm im üblichen Sinne. Es soll ein aktuelles Programm sein, das die Auseinandersetzung mit der Tradition und der Gegenwart auf originelle Weise pflegt. Die Zuhörer wissen dabei oft nicht so genau, was sie erwartet. Da gibt es schon Menschen, die gelegentlich irritiert sind oder eine Veranstaltung elitär finden.

Ist dir auch etwas Lustiges in Erinnerung geblieben?

Damals in Düsseldorf, als der Akkordeonist Jean Louis Matinier für die Akkordeon-Tage eingeladen war, soll dieser höchst verwundert und irritiert gewesen sein, als ihm Marco Ambrosini den Fahrplan zeigte, der auf dem Weg nach Romanshorn eine Schifffahrt auswies. Aber gefallen hat es ihm am Bodensee!

 

*****

 

 

Das Video kann dieses im Interview beschriebene komplexe und reichhaltig orchestrierte Programm der Veranstaltungsreihe klangreich nicht widerspiegeln. Zwei Beispiele sollen für den Spannungsbogen stehen, unter dem die Programmierung stehen kann und auch einen Eindruck von der vielfältigen Musik vermitteln.

Zu Beginn sehen wir in den Duo-Auftritt des Bassklarinettisten Louis Sclavis zusammen mit der Bassistin und Sängerin Elise Dabrowski. Sclavis ist zumindest in Frankreich ein Star, wurde zum Beispiel 1988 zum besten französischen Jazzmusiker gewählt. Als Junge war er - noch als Saxofonist - überaus von Sidney Bechet begeistert. In seiner Entwicklung nahm aber bald das Interesse an zeitgenössischer, vorab improvisierter Musik überhand. Peter Rüedi hat ihn einen Luftgeist genannt, wahrscheinlich, weil sich Sclavis mit Leichtigkeit auf verschiedenen Wegen gekonnt bewegt, so auch zu einem der Protagonisten der Folklore Imaginaire, die ihren Ausgangspunkt in Lyon hatte. Für Sckavis steht die Gruppen-Improvisation an erster Stelle, die Wurzeln seiner expressiven Ausdrucksweise kann man beim Grandfather der Bassklarinette, Eric Dolphy, finden.

Ruhe und Besinnlichkeit kehrt ein, wenn wir den Klängen des Barockensembles mummum-consort lauschen. Wir nehmen an der Nachmittagsprobe teil, die auch infolge klimatischer Verhältnisse nicht zuletzt auch für das Stimmen der Instrumente notwendig war. So bastelte der Organist mehr als eine Stunde lang an der, sonst in der Evangelischen Kirche beheimateten Hausorgel herum. Der Ton der im Barock gebräuchlichen Darmsaiten bei den Streichern ist grundsätzlich anfälliger als bei den heute gebräuchlichen Instrumenten. Die glockenhelle Stimme der Sängerin und der satte Klang der ventillosen Trompete waren davon nicht betroffen.

Dass es schon in Urzeiten in Musikerkreisen Sexskandale gab, gibt uns die Flucht von Johann Rosenmüller nach Venedig - von dem unter anderem zwei Sonaten zur Aufführung gelangten - zu verstehen. Nach ein paar Jahren durfte er, nachdem einiges Gras darüber gewachsen war, wieder nach Deutschland zurückkehren. (Jürg Schoop)

 

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Mehr zur Person von Christian Brühwiler

Mehr zu KLANGREICH auf thurgaukultur:

„Veranstalten ist gestalten“
Klangreich Debussy

 

 

 

www.klangreich.ch

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