von Barbara Camenzind, 14.10.2024
Was Musik kann
Das Musiktheater „Ohne X und ohne U“ erinnerte im Eisenwerk an die Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel (1936-1996). Eine Aufführung, die technisch faszinierte und menschlich berührte. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Die Erfindung des Radioapparates hat das Zuhören demokratisiert. Dort, wo so ein Gerät stand, gab es Musik für alle. War gut für Propaganda. Nicht nur für Politik, auch für Beethoven. In den kurzen, glasklaren Texten Adelheid Duvanels taucht es immer wieder auf, das Radio. Es liefert den Soundtrack für ihre kurzen, ultrapräzisen Geschichten, Alltagsdramen, Beschreibungen von Menschen, denen nicht gut zugehört wird, beziehungsweise wurde.
Weil deren Lebens-Komposition als zu dissonant zum gesellschaftlich etablierten Dur-Moll-„Normal“ empfunden wird, oder wurde. Das Mädchen im Erziehungsheim, das in Spiegelschrift schreibt. Der Hydrant namens Beethoven, der stets frisch eingekleidet wird. Oder die Frau, die mit einem Cello zusammenlebt, das sie atmen hört und beim Hausbrand mit sterben wird, ohne dass es jemand merkt. Die rahmengenähten Schuhe und einsamen Musikinstrumente eines übersehenen Genies. Das Zimmer mit bunten Fahnen. Und ein Lieblingssatz: «Meine Ironie ist flöten gegangen, das heißt, sie gibt heute Abend ihr Diplomkonzert in der hiesigen Musikakademie; nun übt sie zu Hause.»
Adelheid Duvanels genaue, feinhumorige Beschreibungen rücken „vermeintliche menschliche Randerscheinungen“ mitten ins Herz derjenigen, die ihr zuhören. Am vergangenen Freitag, exakt an dem Tag, als der Limmat Verlag ihren Lyrik-Band „Nah bei dir“ in den Verkauf schickte, war das Musiktheater „Ohne X und ohne U“ ganz nahe an der grossen, stillen Schweizer Poetin und ihren Protagonist:innen dran.
Musik und Text auf Augenhöhe
Bewegungs-Sensoren, die Klänge wie durch Zauberhand durch den Raum bewegen, selbstfahrende Mikrofone und der Raum, bestückt mit vielen grossen und kleinen historischen Radios - programmiert und konzipiert als Theremine. Die Komponistin Lara Stanić hat ihre ganze schöpferische Kraft wie grosse Antennen eingesetzt. Die Luft scheint ihr Element zu sein, ein Sinnesgenuss für Augen und Ohren.
Sinusklänge, ätherisches Jammern wie singende Sägen, Windgeräusche und Kugeln im Monochord. Dazwischen Chopins verlorene Walzerseligkeit. „Ohne X und ohne U“ ist ein hochspannender Abend von A bis Z.
Der ganze Musikzauber wirkt wie ein Verstärker für Duvanels Sprachkraft. Die szenischen Situationen, Regisseur Philip Bartels feine rhythmisierte Dramaturgie, strahlt durch Simone Kellers lyrisches Spiel an den Tasteninstrumenten, Stanićs tönende Teekannen und Roboter und verwandelt den ehemaligen SRF2-Moderator Andreas Müller-Crepon zum Komplizen der Autorin.
In unserer Serie "Mein Leben als Künstler:in" hat die Pianistin Simone Keller ausführlich über die Entstehung des Projektes rund um Adelheid Duvanel geschrieben. Im Text heisst es unter anderem:
«Als ich vor drei Jahren zum ersten Mal Texten der 1936 in Basel geborenen Autorin Adelheid Duvanel begegnete, war mir sofort klar, dass ich es mit einer aussergewöhnlichen Schriftstellerin zu tun hatte, deren Werk unbedingt eine grössere Verbreitung finden sollte. Ich legte meinem Co-Leiter und Regisseur von ox&öl einige ihrer Kurzgeschichten vor, in denen sie beispielsweise über das «Recht, lebensuntüchtig zu sein» schreibt, über diejenigen, die ausserhalb der Gesellschaft stehen, die Einsamen, Elenden und Verlorenen.
Adelheid Duvanels Literatur entwickelt auf allerkleinstem Raum eine immense sprachliche Wucht. Die Verkleinerung, das Diminutiv, und der Euphemismus sind die Grundformen ihres Schreibens. Ein ausgegrenztes Mädchen wird «Häslein» genannt, das heimliche Trinken als «Operatiönchen» bezeichnet.
In einer Geschichte, in der sich der Vater der neunjährigen Therese erschiesst und ihre Mutter in die Psychiatrie eingeliefert wird, wünscht sich das Mädchen ein «Zwerglein» als Spielkameraden und möchte schliesslich selbst so «klein und leicht wie ein Tröpfchen Tinte» werden, als ob sie durch die Selbst-Verkleinerung in die Schrift und in die Literatur hineinschlüpfen möchte.
Das gesamte literarische Schaffen Duvanels ist dem «Kleinsein» gewidmet und zeigt die gesellschaftlich Marginalisierten: die Versehrten und Übersehenen, Misshandelten und Verstossenen, die Eigenbrötler und Aussenseiterinnen.»
Den ganzen Text von Simone Keller findest du bei uns im Magazin.
Auch eine Hommage an 100 Jahre Radiokultur
Sie, die über die Unerhörten schrieb, ist der grosse Bezugspunkt in diesem Stück und lebt durch ihre Figuren, die sich in dieser Musik manifestieren. Musikgestalten in den Zuhörenden. Eigentlich das, was Schubert mit den Gedichten Goethes machte, vor zweihundert Jahren. Als der Klavierpart den Worten plötzlich auf Augenhöhe begegnete. Oder kann noch jemand den Erlkönig lesen, ohne sich dabei an den wilden Tastenritt der Komposition zu erinnern, wenn er ihn einmal hörte? Dem Dichterfürsten war so viel Inklusion damals zu viel, er lehnte Schuberts Ebenbürtigkeit ab.
Bei ox&öl begegnen sich Musik und Text auch wie selbstverständlich gleichberechtigt. Die Autorin wäre sicher fasziniert gewesen, hätte sie das noch erlebt. Dieses Musiktheater, sensibel ausgeleuchtet von Markus Brunn und durch die Tontechnik von Philip Tschiemer und der Robotik von Ljubo Majstorović professionell abgestimmt, ist gleichzeitig auch eine grosse Hommage an die 100-jährige Radiokultur der Schweiz.
Als Musik allen zugänglicher wurde. Als man solcher Musik zuhören musste, die gerade gespielt wurde, Klangfetzen wie beiläufig aufnahm, sei es das Schwyzerörgeli oder das Sinfoniekonzert. Als Menschen essen mussten, was auf den Tisch kam und hören mussten was gesendet wurde. Auch das begann zu schmecken oder wurde zumindest interessant. Im Radio bekamen die leisen Stimmen einen Sendeplatz.
Einfach mal wieder zuhören
Der Pianistin und Klangkünstlerin Simone Keller (unter anderem Schweizer Musikpreis 2022, Thurgauer Kulturpreis 2022) und ihrer Produktionsfirma ox&öl, die sie zusammen mit Philip Bartels betreibt, ist es eine Herzensangelegenheit, als Sendeplatz für die zu agieren, die sonst überhört werden.
Ein schönes Beispiel dafür, für was und wie Musik der Gegenwart für Menschen einstehen kann: Einfach mal wieder zuhören. Den Programmheft-Text selbstverständlich auch in leichter Sprache publizieren. Wahrnehmen, wer da ist, da sein könnte um alle, wirklich alle Menschen mit einzubeziehen. Das ist Musik.
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