von Anabel Roque Rodríguez, 15.07.2021
Wie spielerisch kann man eine Grenze erfahren?
Kunstprojekte im öffentlichen Raum gehören zu den interessantesten Ausstellungen. Denn Kunst braucht Kontext und umso spannender ist es, wenn sich dieser Kontext durch Witterung und Jahreszeiten verändert und so auch die Kunst immer wieder neu wirken kann. Das Projekt «Orbit» von Werner Widmer und Jordanis Theodoridis ist ein Dialog mit der Natur und den unterschiedlichen Stationen am Grenzweg verschiedener Gemeinden.
Ausstellungen zu planen ist in der augenblicklichen Lage eine Herausforderung, immer wieder verändern sich die Schutzbestimmungen. Daher sind Projekte unter freiem Himmel zurzeit besonders dankbar und erlauben es, den Kopf in der Natur freizubekommen. Es muss also nicht «white cube» des Museums sein, sondern auch der Wald einer kleinen ländlichen Gemeinde kann sich zum Kunstschauplatz wandeln. An einem heissen Junitag zeigt eine Begehung vor Ort, wie man Grenzen von den Rändern her vielseitig betrachten kann.
Das Ausstellungsprojekt «Orbit» der Ausstellungsmacher Werner Widmer und Jordanis Theodoridis besteht aus 13 Kunstinstallationen verteilt auf einer Gesamtlänge von etwa 15 Kilometern. Die einzelnen Arbeiten befinden sich entlang besonderer Orte wie Aussichtspunkten, an Rastbänken oder Trinkbrunnen auf dem Grenzweg. Dieser Weg wurde vor mehr als 20 Jahren mit dem Zusammenschluss von Eschlikon, Wallenwil und Hurnen angelegt, um ein Gemeinschaftsgefühl für die neue Gemeinde zu schaffen. Im Kern des Projektes steht das Thema der Grenze. Dieses wurde von den Künstlerinnen und Künstlern vielseitig und – überraschend häufig – wesentlich spielerischer denn politisch interpretiert.
Grossprojekt im Team
Als die Ausstellungsmacher 2019 ihre Galerie in Eschlikon schlossen, wollten sie sich zukünftig weniger kommerziellen und stärker kuratorischen Projekten widmen. Dies haben sie in den vergangenen Jahren immer wieder mit ihren mutigen Ideen gezeigt.
«Ein solches Projekt lässt sich nur in so kurzer Zeit organisieren, weil wir mit Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet haben, die wir schon sehr lange kennen und auf die wir uns verlassen können.»
Werner Widmer, Ausstellungsmacher
Mit ihrer angesammelten Erfahrung schafften es Werner Widmer und Jordanis Theodoridis in gerade Mal einem halben Jahr, Künstlerinnen und Künstler aus der Region um Eschlikon für ihr Projekt «Orbit» zu akquirieren und weitestgehend neue, ortsspezifische Arbeiten in Auftrag zu geben. Besonders interessant machte das Projekt die Vielzahl an verschiedenen Projektpartnern – von der Gemeinde Eschlikon über Förster und Waldbesitzer, bis hin zu besonderen Herausforderungen beim Aufbau mit Kletterern und einer Firma für Strassenlaternen, erklärt Werner Widmer beim gemeinsamen Besuch.
«Ein solches Projekt lässt sich nur in so kurzer Zeit organisieren, weil wir mit Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet haben, die wir schon sehr lange kennen und auf die wir uns verlassen können.» Es ist auch bemerkenswert, dass es keine Probleme bei der «Vergabe» der Standorte gegeben habe, sondern die Künstlerinnen und Künstler sich ihre Orte selber ausgesucht hätten und dabei kein Ort doppelt beansprucht wurde.
Konzeptkunst: Mit realen Dingen Geschichten erzählen
Die Besucherinnen und Besucher können eine Wanderführung mitmachen, mit Start beim Bahnhof Eschlikon. Entlang der Kunstgrenze muss man ab und an neugierig suchen, wo sich die Kunstwerke in der Natur verstecken.
Am Bahnhof taucht die Arbeit von Stefan Kreier überraschend in der Krone der Dorflinde auf – in Form einer original Toi-Toi-Toilettenkabine. Das Thema zur Grenze scheint hier direkt über Provokation aufgebaut zu werden. Ein erfahrener Kunstbetrachtender fragt sich vermutlich, ob hier ein Bogen zu Duchamp mit seinem Pissoir geschlagen wird. Andere fragen wohl eher nach den Grenzen des «guten Geschmacks». Es ist die Arbeit, die für die meisten Kontroversen innerhalb des Projektes gesorgt hat. Sie soll gemäss dem Künstler zeigen, dass Kunst sich weder an Prinzipien oder Konsequenzen hält, sondern zum Nachdenken anregen soll. Laut der Erklärtafel zur Arbeit hat «das Museum ausgedient und der Diskurs [soll] direkt mit dem Publikum geführt [werden] und die Kunst als Reflektor und Aufzeiger von gesellschaftlichen Wucherungen dienen.» Es ist auf jeden Fall eine Arbeit, die für Gespräch sorgt und Grenzen innerhalb von Diskursen, Meinungen und Geschmäckern aufzeigt.
Diese relativ laute Arbeit steht in krassem Kontrast zur Arbeit von Almira Medaric «From the Earth». Ihre Arbeit bildet eine quadratische Umgrenzung aus getrockneten Lehmziegeln. Das Werk bezieht sich auf die Ziegelei Eschlikon, die ab 1898 mit Lehm aus den zwei Dorfweihern ihre Ziegel produzierte. Das Thema zur Grenze taucht hier verständlicher in Form von Architektur auf, die abgrenzt und gleichzeitig durchlässig ist. Wer oder was darf hindurch passieren? Was wird begrenzt?
Der Verhältnis von Mensch und Natur
Ein guter Schwerpunkt der Arbeiten setzt sich mit dem Verhältnis von Mensch und Natur auseinander. Die Arbeit von Elisabeth Nembrini ist zwar nicht in unmittelbarer Nähe von Almira Medaric, die Werke teilen sich allerdings ihre Referenz zum Ziegelweiher. Ihre Installation «Optimist» besteht aus 57 Windanzeigern. Der Name bezieht sich auf das Material, die kleinen roten Segeltücher stammen von sogenannten Standern, Windanzeigern bei kleinen Segeljollen oder Optimisten. Die kleinen Fahnen nehmen jede Windbewegung sofort auf und erinnern an einen Schwarm Vögel. Es ist eine meditative Arbeit, überhaupt ist die ganze Kulisse am Weiher mit dem alten brüchigen Steg idyllisch und verwischt die Grenze von Kunst und Natur oder baut eine Brücke zwischen den beiden, so wie es die Künstlerin mit ihren Arbeiten an der Schnittstelle zwischen Mensch und Tier immer wieder zeigt.
Ursula Pallas Werk «welcome to the jungle» setzt sich in ähnlicher Weise mit der Frage von Artifiziellem und Natürlichem auseinander. Es gibt heute kaum noch natürliche Wälder, die nicht forstwirtschaftlich genutzt oder vom Menschen kultiviert werden, auch Dschungel werden immer stärker gerodet. Der Schriftzug der Künstlerin markiert eine Grenze: Wo hört die Natur auf, wo beginnen die Spuren der Kultivation? Wie sieht unser Begriff von Natur im Anthropozän, dem Menschenzeitalter, aus? Es ist ein politisches Verständnis von Natur, das in Zeiten von Klimawandel und Ressourcenknappheit wichtige Fragen aufwirft.
Victorine Müllers Arbeit «Le mouvement végétatif 4» sprengt herkömmliche Ideen von Natur und Mensch. Die knapp drei Meter hohe, transparente, mit Luft gefüllte Hülle birgt ein eine organische Form in sich, die etwas an ein Embryo erinnert. Die Entstehung von Leben? Es ist ein Spiel mit der Grenze von Innen und Aussen sowie Schutz und Hilflosigkeit. Deutungsversuche lassen einen etwas ratlos zurück und doch erinnert es an die Voraussetzungen jeglichen Lebens: Transformation und Adaption, ganz im Kontrast zu den von Menschen geschaffenen starren Grenzen.
Auch das Werk von Guido von Stürler ist eine Art Mischwesen allerdings in popartiger Verkleidung und fällt zwischen den anderen Installationen etwas durch. «W.A.S.P» ist ein Haken, der vielleicht noch in seiner sehr bunten Anmutung an etwas giftiges aus dem Tierreich erinnern könnte, dort tauchen besonders farbige Tiere als Warnsignal für potenzielle Feinde auf. In Referenz an die Grenze, die vor Gefahr schützt.
Bilderstrecke: Einblicke ins Ausstellungsprojekt «Orbit» (Bilder: Anabel Roque Rodriguez/Werner Widmer)
Poetische Erkundungen von Grenzen
Auch Sonja Rüeggs Arbeit markiert eine Grenze zwischen Mensch und Natur. Die Arbeit entstand als Reaktion darauf, dass der Grenzweg motiviert davon entstand, in der Bevölkerung ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu entwickeln. Wie aber sorgt man für Gemeinschaft durch die Markierung einer Grenze? In der Geschichte der Territorialität geht es erst um die Beanspruchung von Land und dann erst um den Austausch. Man fragt sich, ob das Bedürfnis nach Grenzen je überwunden werden kann. In die Sprache der Kunst übersetzt die Künstlerin ihre poetischen Gedanken in ein etwa 800 Meter geknüpftes Hanfseil aus dem sie eine Art Traumfänger schafft. Ihre Knoten werden zu einer Art Metapher für die Verbindungen von Menschen und für unterschiedliche Beziehungen, sie werden zu «Schicksalsknoten» und «Gordischen Knoten». Es ist aber auch ein starkes Bild für ein fragiles Ökosystem in dem Mensch und Natur untrennbar miteinander verbunden sind.
Das Kollektiv Karl Steffen und Heidi Schöni, kurz steffenschöni, zeigt die Grenze in Form eines Nicht-Ortes. Wie stellt man etwas visuell dar, das nur in der Gedankenwelt von Menschen existiert und selten räumlich fassbar ist? Herausgekommen ist eine minimale Arbeit auf der Plattform des alten Wasserreservoirs. Das Werk «Zone» markiert den Raum, den die Künstler minutiös gereinigt und mit weissem Marmorpulver überdeckt haben. Die Grenze als Nicht-Ort wird nur aktiviert, wenn Menschen zusammenkommen. Auch in der Zone des Künstlerkollektivs soll Austausch erfolgen und so geben sie die Zone frei, um künstlerische Interventionen stattfinden zu lassen und haben die Tänzerin Naomi Schwarz und den Musiker Tobias Preisig eingeladen, diese Bühne für kurze Zeit zu beleben.
Geometrie und Perspektive
Grenzen haben auch immer etwas mit Perspektive und dem eigenen Standpunkt zu tun. Christoph Rütimanns Arbeit liegen verschiedene mathematische Berechnungen für die Formung von geometrischen Körpern zugrunde. Je nach Standpunkt verändert sich die Form der Linie von Tetraeder zur Kugel.
Das Kollektiv ckö setzt sich ebenfalls mit Perspektive auseinander. Wie verändert sich unser Eindruck von etwas durch eine visuelle Begrenzung? In Zeiten, in denen wir Raum und Landschaft häufig durch den Blick durch ein Smartphone prägen, ist ein Ausschnitt essentiell für unsere Wahrnehmung. Für «Orbit» hat das Kollektiv drei farbige Metallrahmen aufgestellt, die wie Bilderrahmen für die Landschaft funktionieren.
Joëlle Allets Arbeiten beziehen häufig Elemente der Natur ein, sei es die Windkraft oder, wie in ihrem Werk «Aurum», die goldene Sonne. Jeder kennt wohl das Phänomen der scheinenden Sonne zwischen Bäumen. Dieses Erlebnis hält die Künstlerin in Gold fest, aber ähnlich wie bei dem Naturphänomen muss der Betrachtende den richtigen Standort einnehmen, um in den Genuss zu kommen.
Der tiefe Wald und die Märchen
Märchen behandeln immer wieder Grenzen in Form vom dunklen Wald, von den Schranken der Gesellschaft oder jungen Frauen, die zu ihrem vermeintlichem Schutz eingeschlossen werden. Die Arbeit von Nicolas Vionnet greift dies auf wunderbare Weise auf. In Anlehnung an das Märchen «Rapunzel» der Gebrüder Grimm, bei der Rapunzel zum Schutz vor der Zauberin in einem Turm eingesperrt wird. Über die Jahre wächst ihr Haar in der Isolation, bis es einem Prinzen gelingt, an ihrem Haar hinaufzuklettern. Die Arbeit von Nicolas Vionnet verweist aber auch auf die in der Region bekannte Legende der Idda von Toggenburg. Der Legende nach wurde diese von ihrem Gemahl der Untreue bezichtigt und im Zorn von der Burgzinne der Toggenburg in den Tod gestossen. Sie überlebte laut Überlieferung mit der Hilfe Gottes, was als Zeichen ihrer Keuschheit gedeutet wurde. Als Jahre später Idda und der Graf sich begegneten, liess er ihr reumütig in der Nähe des Klosters Fischingen eine Klause bauen. Frauen in Isolation und ihre Grenzen in der Gesellschaft.
Werner Widmer, einer der beiden Kuratoren von «Orbit», taucht in Doppelfunktion auch als Künstler auf. Seine Arbeit ist ebenfalls eine Referenz zum Märchen. Auf verschiedenen Stationen des Grenzweges finden sich drei Glücks-Haselnüsse aus Eichenholz in Anlehnung an «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel». Grenzen werden hier durch Wünsche und ein bisschen Magie überwunden – getreu dem Motto: Die Gedanken sind frei.
Alles in Allem überrascht die Vielfalt der künstlerischen Arbeiten im «Orbit» im Hinblick auf das Thema, das doch so eng gefasst scheint. Kunst schafft es eben selbst am besten, Grenzen zu überwinden und neue Blickwinkel zu ermöglichen.
«Orbit»
Das Ausstellungsprojekt «Orbit» läuft noch bis zum 3. Oktober 2021 und wird von einem Rahmenprogramm in Form von Wanderführungen und weiteren Performances begleitet.
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