von Maria Schorpp, 10.02.2020
Wenn Sprachlosigkeit ausgrenzt
Das Theater Bilitz hat das Thema Depression bei Jugendlichen als Forumtheater auf die Bühne das Theaterhauses Thurgau gebracht. Manchmal etwas zu pädagogisch, bietet das Stück aber doch Szenen auf, die unter die Haut gehen.
Da steht sie mit ihrem Hoody. Sie sieht aus wie die meisten 15-Jährigen heute aussehen: Hoody, Slim Jeans, Sneakers. Sie will dazugehören. Wie sie allerdings mit den Fäusten in den Taschen das Shirt nach unten beult, und wie sie herumdruckst, den Blicken der anderen ausweicht, daran lässt sich unschwer erkennen, dass Lorena sich in Gegenwart der anderen ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut fühlt. Es sieht so aus, als wollte sie sich am liebsten in eine Ecke verkriechen, um nichts mehr sehen und hören zu müssen.
Alle wollen nur helfen
Das Theater Bilitz hat sich dem Thema Depression bei Jugendlichen angenommen. Sonia Diaz spielt Lorena, die offensichtlich an dieser grausamen Krankheit leidet und auf fundamentales Unvermögen ihrer Umwelt trifft. Wobei: So offensichtlich ist das nicht. Woher sollen die anderen auch wissen, was in Lorenas Innerem los ist. Könnte einfach ein Stimmungstief sein, schlechte Laune, Null Bock auf gar nichts.
Wer von ihnen kann sich schon das graue Gefühl von endloser Sinnlosigkeit vorstellen. Alle wollen nur helfen: der Vater (Roland Lötscher), der sie zum gemeinsamen Kochen animieren möchte, die Hockeytrainerin (Christina Benz), die sie zu der früheren Leistungsbereitschaft motivieren möchte, der Mitschüler (Michael Fuchs), der sie mit einer Party aus sich rauslocken möchte. Vermutlich möchten sie damit auch etwas für sich selbst tun: Sie wollen, dass Lorena wieder die alte ist, auch damit sie selbst sich nicht mehr so hilflos fühlen.
Es wäre ein harter Theaterabend, wenn es sich um die klassische Form von Theater handeln würde, in der das Theater Bilitz sein Stück „S.O.S.“ auf die Bühne bringt. Sonia Diaz spielt die Lorena so minimalistisch treffsicher, dass es fast schon wehtut. Der Druck ihrer Umwelt, die unsichtbare Wand zwischen ihr und der Aussenwelt, an der alle abprallen, die sich ihr nähern wollen – es geht nahe. Tatsächlich handelt es sich im Theaterhaus Thurgau jedoch um interaktives Theater, sogenanntes Forumtheater, das zum Mitmachen auffordert.
Wer will, kann mitmachen
Wem bei dem Gedanken der Schreck in die Glieder fährt, darf sich wieder beruhigen. Niemand wird überrumpelt. Wer will, kann die einzelnen Spielszenen kommentieren. Mehr noch: Die eine oder der andere wird gefragt, ob sie aus ihrer Sicht der Dinge einzelne Sequenzen noch einmal in Szene setzen möchten. Kein passives Zugucken also, sondern die Erfahrung, den Lauf der Dinge aktiv beeinflussen zu können. Das Theater Bilitz hat sichtlich Erfahrung mit diesem Format.
Das Setting ist so gestaltet, dass Spiel und Wirklichkeit auf natürliche Weise ineinandergreifen. „S.O.S.“ ist als Live-Talk inszeniert. Vater, Trainerin, Mitschüler Jonas und Lorena sitzen auf einem Podium und diskutieren über Lorenas Depression, die zu diesem Zeitpunkt bereits überwunden ist.
Eine Moderatorin, von Agnes Caduff souverän in ihrer Funktion als Schauspielerin und tatsächlicher Moderatorin gemeistert, lässt Szenen aus der Vergangenheit spielen, Stationen von Lorenas Erkrankung, und sorgt dafür, dass jeweils nach einer Szene das Publikum zum Zug kommt. Das war bei der Uraufführung im Theaterhaus Thurgau in Weinfelden überwiegend junges Publikum, das aufmerksam bei der Sache war. Sicher auch ein Verdienst von Agnes Carduff, die von vornherein ganz selbstverständlich eine Verbindung zwischen Bühne und Publikum herstellte.
Niemand wird vorgeführt
Am Ende waren sich alle einig, dass die Menschen um Lorena herum viel zu spät gehandelt haben. Was aber in den Publikumsreihen so klar aussehen kann, muss es für diejenigen, die mittendrin stecken, noch lange nicht sein. Mit der Eigenproduktion des Theaters Bilitz soll niemand vorgeführt werden. Die Kunst der Inszenierung, in der es keine ausgewiesene Person für die Regie gibt, besteht zunächst darin, die Hilflosigkeit aller Beteiligten und ihre Angst, darüber zu sprechen, nachvollziehbar darzustellen.
Schon der Charakter ihrer Ratschläge zeugen von grundlegendem Nicht-Verstehen: Mach doch, reiss dich zusammen, es wird schon, du musst nur. Stattdessen könnten sie Lorena auch raten, sich in die Luft zu erheben. Besonders bedrückend ist die Szene, in der Jonas zu ihr nach Hause kommt, als sie schon nicht mehr zur Schule gehen kann. Wie der Mitschüler, der Kumpel, der Freund nichts anderes will als einfach wieder weg. Und wie Lorena dasitzt und zu weinen beginnt. Sprachlosigkeit grenzt aus, ob man will oder nicht.
Das Ensemble überzeugt durch seine unprätentiöse Darstellung
Die Inszenierung setzt auf Aufklärung. Das macht sie auch über Video-Clips, in denen zum Beispiel Gabor Nemeth als ein gewisser Dr. Nussbaumer Depression erklärt. Zu den physiologischen Ursachen der Krankheit gibt es ein Erklärvideo. Wie es jedoch bei solchen Veranstaltungen ist: Das Mitmachen ist ein Abenteuer, für diejenigen, die zuschauen, kann es stellenweise etwas pädagogisch werden.
Auch waren bei der Premiere nicht alle Spiel- und Diskussionsbeiträge für die Hinterbänkler gut zu verstehen. Für diejenigen, die Forumtheater bislang nicht kennen, ist es aber auf jeden Fall eine neue Erfahrung. Das Ensemble des Theaters Bilitz überzeugt ohnehin mit seiner unprätentiösen Menschendarstellung.
Weitere Aufführungen: Das Theater Bilitz geht mit „S.O.S." auf Tournee. Vorstellungen können unter www.bilitz.ch gebucht werden.
Von Maria Schorpp
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