von Ute Klein, 18.11.2024
Warum Räume für Kultur so wichtig sind
Schwerpunkt Räume: «Kultur braucht Raum, um zu entstehen, aber vor allem auch um ein Ort des Austauschs zu sein», findet die Malerin Ute Klein. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Kultur gehört zur Gemeinschaft, bildet Gemeinschaft, formt und verändert Gemeinschaft, stellt Wahrnehmung in Frage, wechselt die Perspektive, bringt Neues ein oder beharrt auf wertvollem Alten. Dafür braucht es Austauschorte, Begegnungsorte, Orte, wo sich unterschiedliche Weltsichten, politische Färbungen, verschiedenste Lebenserfahrungen und Freundschaften mischen. Orte, wo unser Blick auf die Tagesaktualität und unser Erleben geweitet wird, so dass wir darüber lachen oder dazu tanzen können, dass unsere Träume angeregt werden. Gemeinschaft braucht Räume, wo Kunst zu sehen ist, die vielleicht mal schön ist, vielleicht aber auch Blicke in dunkle Ecken ermöglicht, unsere Sicht auf die Umwelt und unser Zutun zeigt.
Dafür braucht es Kultur- und Kunst-Räume.
Atelierräume, Treffpunkte, Ausstellungsräume.
Atelierräume gibt es im Thurgau, aber sie sind im ländlichen Raum und daher oft weit voneinander entfernt, was gemeinschaftliches Arbeiten zwar nicht ausschliesst, aber auch nicht anregt.
In den kommenden Wochen beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema Räume. In mehreren Beiträgen beleuchten wir im Magazin verschiedene Aspekte des Themas. Alle Texte werden wir in einem Dossier bündeln. Aber dabei bleibt es nicht. Wir wollen darüber auch diskutieren. Dazu haben wir ein neues Veranstaltungsformat entwickelt. Es heisst „Kultur trifft Politik!. Wir sind überzeugt: Probleme kann man nur lösen, wenn man miteinander im Gespräch bleibt.
Deshalb nutzen wir das Thema „Räume“ um Kulturschaffende und Politiker:innen in den Dialog zu bringen. Was sind die Herausforderungen auf Seiten der Künstler:innen? Woran mangelt es aus ihrer Sicht? Welche Möglichkeiten haben Politiker:innen überhaupt auf diesen Mangel zu reagieren? Wo genau könnten sie ansetzen, um die Situation zu verändern? Und wo sind vielleicht auch Politiker:innen die Hände gebunden?
Darüber wollen wir reden. Am Mittwoch, 27. November, ab 18:30 Uhr, im Apollo Kreuzlingen. Wir diskutieren darüber mit Isabelle Krieg (bildende Künstlerin), Christoph Luchsinger (Musiker), Gino Rusch (KAFF Frauenfeld), Samuel Svec (IG Probelokal Amriswil), Stephan Tobler (SVP-Kantonsrat), Petra Stoios (Stadträtin für Kultur Amriswil), Andreas Netzle (Ex-Stadtpräsident Kreuzlingen und heute Präsident der Jugendmusik Kreuzlingen sowie Peter Surber (IG Kultur Ost).
„Kultur trifft Politik!“ ist aber keine klassische Podiumsdiskussion. Du kannst dich aktiv einbringen. In Workshops arbeiten Kulturschaffende, Politiker:innen und Publikum gemeinsam an Lösungen für die drängenden Raumprobleme. Ziel des Abends ist es, konstruktive Ideen zu entwickeln, die zu einer Verbesserung der Raumnot beitragen. Hast du auch Lust mitzudenken? Dann melde dich jetzt an. Die Veranstaltung ist kostenlos, aber deine Anmeldung hilft uns dabei, den Abend besser planen zu können.
Ich habe früher in einem Gemeinschaftsatelier gearbeitet und war mehrfach in Residencies, wo viele Kunstschaffende nebeneinander Ateliers hatten. Mir gefiel zu sehen, wie unterschiedlich die Arbeits- Rhythmen waren, habe es geliebt, wenn sich in der Kaffeepause oder beim gemeinsamen z'Nacht oder noch eher beim Kochen, Abwaschen oder auf der Türschwelle Gespräche ergaben, unmittelbar aus dem Arbeiten, in die Tiefe gehend, praktisch weiterführend oder mitfühlend über einen Frust hinwegtröstend.
Das habe ich im Thurgau leider nicht. Wobei Gemeinschaftsateliers auch Nachteile haben wie WGs: wenn Diskussionen um Grundregeln anderes überwiegen, braucht es äusseren Druck (zum Beispiel: keine Alternative) oder viel Kraft. Neben den Kindern und allem übrigen wollte ich meine Energien nicht weiter verzetteln, so passte mein dezentraler Arbeitsort.
Ein Atelier ist ein Ort des Wachstums
Ein Atelier ist für mich ein Ort, wo etwas wachsen kann. Etwas, das anfangs noch unsicher und fragil ist, was erst seine Form finden muss, das Zeit braucht. Das kann je nach Kunstschaffen anders sein, aber ich arbeite oft am Boden, breite mich über die ganze Fläche aus und lasse liegend trocknen. Es ist für mich wertvoll, dann nichts zusammenschieben zu müssen, um jemand anderem Platz zu machen, geschweige wenn jemand dann staubend im Raum arbeiten würde.... Zeit spielt in meiner Malerei eine grosse Rolle, um mich einzulassen auf Farbwirkung, Raum und Kräfte, für Umwege und um trocknen zu lassen, weiterzusehen und -zudenken. Modelle wie co-working, wo Arbeitsplätze für Stunden oder Halbtage vermietet werden, wären für mich allerhöchstens in einem Spezialfall für eine Umsetzung eines Projekts eine Option.
Ein eigener Raum, mit einer gemeinsam genutzten Küche als Treffpunkt, wäre meine Wunschvorstellung. Versuche Treffen unter Kolleginnen 'auszulagern', wurden nie regelmässig. Zu so einem Treffen muss ich anreisen. Anreise besagt, dass ich eben nicht einfach in die Küche gehe, sondern mich umziehe, mich extra auf den Weg mache, mit dem Zug quer durch den Kanton fahre, vorher vielleicht andere Termine schiebe. Das alles geht weit über eine Pause hinaus, man trifft sich nicht in den Arbeitsklamotten unmittelbar auftauchend aus der Arbeit. Schade. Anders.
Was der Verlust von Ausstellungsräumen bedeutet
Was zunehmend im Thurgau/ in der Ostschweiz verloren geht, sind aber vor allem Ausstellungsräume. Ohne Ausstellungsräume, wo auch gezeigt wird, was im Kanton entsteht, wo überregionales UND lokal geschaffenes zur Diskussion gestellt wird, wo sich Kunstschaffende und Kunstinteressierte treffen, wird etwas ganz Wichtiges fehlen. Kunstschaffende locken zu Eröffnungen immer auch ihren Freundeskreis an: wenn Lokale beteiligt sind, hat es auch mehr Befreundete von hier: es gibt Mischungen und Austausch und nicht nur die Verschiebung von Splittern der Zürcher oder Basler Szene.
Es werden genau die Orte fehlen, wo der Gemeinschaft gezeigt wird, was in den Ateliers geschieht, wo sichtbar wird, was brennt. Es werden Räume fehlen, wo Vermittlungsarbeit geleistet wird. Galerien sterben aus.
Ich komme gerade von einem Besuch der Biennale: neben einigen aussergewöhnlichen Arbeiten hat mich einmal mehr beeindruckt wie viele junge Menschen dort waren, nicht nur Künstler(?)-Familien oder junge Künstler:innen, sondern auch viele Schulklassen. Auch in Frankreich sind viele Schulklassen in den Museen, scheint Kunstvermittlung etwas Lebendiges, Lustvolles und Wichtiges zu sein. In Venedig waren auch viele Grosseltern mit Enkelkindern: eine bunt gemischte, riesige Menge, die sich für elitäre Kunst interessierte, denn nichts anderes ist die Biennale. Massen, die ihren Spass an aktueller Kunst hatten, sie diskutierten, sie kritisierten, sie (wert)schätzten, sie besuchten und bedachten, weinten und lachten.
Auseinandersetzung mit Wahrnehmung lebenslang fördern
Im Sport fördern wir unsere Spitzenkönner:innen und wissen längst um die gute Wirkung von den Erfolgen 'unserer' Held:innen auf den Breitensport und die Volksgesundheit.
Wo blieb das Wissen, dass nicht nur im Sport elitäre Spitzenleistungen ein Fest sind, einen Zusammenhalt erzeugen und die Bewunderung ihrer Fähigkeiten uns Normalos anregt? Oft wird argumentiert, dass Odermatts oder Kambundjis Fähigkeiten direkter fassbar seien, was eine krasse Unterschätzung ihrer Leistungen und dem jahrelangen Aufwand von ihnen und ihrem Umfeld ist, Aber die Biennale zeigt auch, dass offensichtlich Kunst auch Massen begeistern kann. Anders als beim Sport sind die Besten nicht einfach mit Stoppuhr oder Messband feststellbar, sondern für die einen tieftraurig, betroffen machende, für andere ästhetisch und konzeptuell brillant und nachhaltig umgesetzte, für die nächsten aufarbeitende, bewusstmachende Arbeiten.
Eine Biennale braucht es im Thurgau nicht, genauso wie wir kein Weltcuprennen veranstalten wollen, aber so wie alle Spitzensportler:innen klein anfangen, so beginnt die Auseinandersetzung mit Wahrnehmung ganz früh und will lebenslang gefördert und gefordert werden, damit wir menschlich miteinander und mit der Umwelt umgehen, damit wir uns verstehen und uns mitteilen können. Und dafür sind Kunsträume mit Austausch sehr wichtig.
Wenn die Galerien verschwinden, braucht es andere Ausstellungsformate.
Kultur kann Räume ganz neu beleben
Im Thurgau gibt es noch leere Räume, einige eignen sich für Ausstellungen bildender Kunst. Von leerstehenden Wohnungen über leere Fabrikhallen, ungenutzte Scheunen oder Zwischennutzungen vor Abbruch. Hier braucht es Türöffner: Menschen, die den Kunstschaffenden das Vertrauen entgegenbringen und Neues ermöglichen. Wenn Räume zum Ausstellungsort werden, können sowohl situationsspezifische Arbeiten entstehen als auch Arbeiten aus dem Atelier gezeigt werden.
Und bei einer gemeinsamen Ausstellung in speziellen Räumen, habe ich noch jedes Mal sehr viel gelernt, in der Zusammenarbeit mit anderen Kunstschaffenden habe ich einmalige Ereignisse miterschaffen und miterleben dürfen: sei es fürs forum andere Musik in den ehemaligen Raichle-Fabrikationshallen oder in der KVA Weinfelden, für visarte bei der Organistation von 'übersee' in den Lagerhallen Romanshorn (vor ihrer Renovation!) als Künstlerin im Bergpark Wilhelmshöhe in Kassel, im geilen Block Arbon oder diesen September in der KunstbaustelleSG oder als Besucherin im Tankkeller Egnach.
Den Schritt ins Unbekannte wagen
Zum Veranstalten war das immer sehr aufwändig, da viel Ausstellungs-Infrastruktur fehlt, und das Publikum muss sich jedes Mal auf neue Räume einlassen, selbst den Schritt ins Unbekannte suchen und wagen, aber anstelle von nichts, wäre es eine super Alternative! Und eine einmalige Gelegenheit für Immobilienbesitzer:innen ihren Besitz zu beleben.
Die Überraschung meiner Biennale-Tage war der abendliche Besuch des abgelegenen estnischen Beitrags von Edith Karlson in einer ehemaligen Kirche an einem wenig frequentierten Seitenkanal. Obwohl ich vorher Bilder ihrer Skulpturen gesehen hatte, stockte mir der Atem beim Eintreten in den kerzenlichtdunklen kleinen, verfallenden Kirchenraum. Fast hätte ich aufgeschrien; erschreckend, wunderbar und einmalig!
Die Realität ist weit mehr als ein Abbild, wir brauchen als Menschen Räume und den direkten Kontakt miteinander und mit Kunst um zu erleben.
Von Ute Klein
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