Seite vorlesen

von Inka Grabowsky, 12.11.2024

Wann ist ein Mensch ein Mensch?

Wann ist ein Mensch ein Mensch?
Raphael Zürcher und Micha Stuhlmann haben gemeinsam Facetten des Menschseins auf Video gebannt | © Inka Grabowsky

Szenen des Alleinseins: Die Performerin Micha Stuhlmann und der Videokünstler Raphael Zürcher haben gemeinsam mit dem Open Place in Kreuzlingen eine vieldeutige Installation geschaffen.  (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Micha Stuhlmann und Raphael Zürcher arbeiten seit zwölf Jahren miteinander im «Laboratorium für Artenschutz». Das erklärte Ziel dieses Kunstprojekts ist es, «die Artenvielfalt des Menschseins zu erhalten, beziehungsweise zu verbessern.» Im Kreuzlinger «Open Place», einem Begegnungszentrum der evangelischen Kirchgemeinde, in dem sich seit 2014 Menschen treffen, um miteinander zu sprechen, zu essen, zu malen oder zu lernen, stiess Micha Stuhlmann auf eine wahre Schatztruhe an Diversität. 

Hier wie auch im «Laboratorium» wird jeder Mensch mit offenen Armen empfangen. «Unsere Werte zum Menschenbild lassen sich gut verbinden», sagt Pfarrer Damian Brot. Und so sagte er seine Unterstützung zu, als die Künstlerin nach Mitstreitern für eine filmische Installation suchte. 

Fünf Räume, fünf Kameras, fünf Bildschirme

Gemeinsam mit Raphael Zürcher arbeitete die Performerin eine Versuchsanordnung aus, die auf den Drehort im Kreuzlinger Veranstaltungszentrum Apollo zugeschnitten war. Dort stand zwischen zwei Ausstellungen ein Zeitfenster für die Dreharbeiten offen. «Die freien Räume boten uns die Chance, Simultanität dazuzustellen», sagt Raphael Zürcher. In der Kirche Kurzrickenbach ist nun auf fünf riesigen Bildschirmen zu sehen, was die elf Teilnehmenden binnen 45 Minuten im Apollo getan haben. 

Gemeinsam warten sie im ersten Raum. Miteinander sprechen dürfen sie nicht. Einer nach dem anderen verlässt das Zimmer, um über den Korridor in ein Vorzimmer zu gehen. Dort trägt sich jeder in eine Liste ein und wartet minutenlang auf ein Signal zum Aufbruch. Über den Korridor geht es schliesslich ins sogenannte «Behandlungszimmer.» Hier besteht die Aufgabe der Protagonisten darin, eineinhalb Minuten direkt in die Kamera zu schauen. Erst danach darf der Einzelne in die Lounge, wo er auf die andern trifft und sich auch mit ihnen austauschen kann. 

 

Fotos von den Dreharbeiten lassen die Atmosphäre nachempfinden. Bild: Inka Grabowsky

Projektion der eigenen Vorurteile

Fünf Kameras zeichnen diese Choreografie auf. «Wir haben sie bewusst einfach gehalten», erklärt Micha Stuhlmann. «Trotzdem ergeben sich durch kleine Missverständnisse spannende Situationen. Jemand geht nicht nach rechts, sondern nach links und öffnet die falsche Tür.  Das führt zu Begegnungen, deren Zeuge wir werden.» 

Unmittelbar und schon auf den ersten Blick beeindruckend sind die Bilder, die von der «Behandlungszimmer»-Kamera aufgenommen wurden. Überlebensgross schaut der Protagonist/die Protagonistin dem Betrachtenden in die Augen. Jede noch so kleine Veränderung in der Mimik nimmt man wahr. Unwillkürlich schätzt man die Person auf dem Monitor ein. Ein Augenzwinkern oder ein Kopfnicken wirkt, als sei es für das virtuelle Gegenüber persönlich bestimmt. «Diese Projektionen wollten wir fühlbar machen», beschreibt Stuhlmann. «Die Gefilmten treten quasi in einen Dialog mit den Betrachtenden.» 

Wer wartet wie

«Wir zeigen eine Dreivierstunde in Echtzeit und lückenlos», sagt Raphael Zürcher. «Nichts ist geschnitten, nichts ist geschönt oder gefiltert. Was zu sehen ist, ist wahr.» 

Zwei Durchläufe hat es gebraucht, bis alle auf den Punkt konzentriert waren. «Mich interessiert zu beobachten, was ein Mensch allein in einem Raum tut.» Einige laufen herum, andere sitzen da und gähnen. «Man sieht ihnen auch an, dass sie sich nicht sicher sind, was sie tun sollen.» 

 

Die Kirche Kurzrickenbach macht sich gut als Ausstellungsraum. Bild: Inka Grabowsky

Lebenseinstellungen zu hören

Eine leise Tonspur gibt es nur aus der Lounge, ansonsten sind die Besucher eingeladen, sich mittels kabelloser Kopfhörer zehnminütige Selbsteinschätzungen der Protagonisten zu ihrem Charakter und ihren Lebenseinstellungen anzuhören. «Wir verraten nicht, wer auf welchem Kopfhörer zu hören ist», erklärt Micha Stuhlmann. Auch sie selbst und Raphael Zürcher haben sich den Fragen gestellt, so dass nun 130 Minuten Audio-Material zur Verfügung stehen. 

«Eine tiefgründige Frage zur eigenen Persönlichkeit in nur zwei Minuten zu beantworten ist gar nicht so einfach», sagt eine Teilnehmerin. Sie habe es aber faszinierend gefunden, sie für einmal selbst darzustellen und sich auszuprobieren. «Das Projekt hat unterschiedliche Menschen zusammengebracht», bilanziert ein Teilnehmer, «das war schön.» 

Pfarrer Damian Brot freut sich, dass zum zehnjährigen Bestehen ein Querschnitt der Gäste und Mitarbeitenden des Open Place portraitiert ist. «Ich habe mitgemacht, weil es mir unfair erschien, andere in das Abenteuer zu schicken, ohne mich dem Erlebnis selbst zu stellen», sagt er. Das Filmen habe ihm dann wenig ausgemacht. «Nur mich auf dem Monitor zu sehen, ist seltsam. Aber es ist weniger schlimm als befürchtet.» 

Kollegiales Lob 

Die Künstlerin, Philosophin und Physikerin Hoa Luo ist von der Installation fasziniert. «Wir erleben hier, dass wir durch die Bildschirme gleichzeitig in mehreren Räumen sein können, doch aus dem Gerüst der Zeit können wir Menschen nicht ausbrechen.» In ihrer Laudatio empfiehlt sie, sich ganz auf die Installation einzulassen. «Das ehemalige Kino ist jetzt in der Kirche. Beide Räume entführen uns in eine andere Welt.» 

Das gäbe Gelegenheit kurz innezuhalten und in Dialog mit dem zu treten, was uns umgebe. «Hier können wir reflektieren, was uns ausmacht.» Insbesondere weist sie darauf hin, dass wir dazu neigen, Mitmenschen oft innerhalb von Sekunden in Schubladen zu stecken. Die bewegten Bilder und die Interviews luden nun ein, die Schubladen zu öffnen und neu zu sortieren. »Unsere Muster können durch das Erleben der Installation neu justiert werden, wenn wir es wagen, uns von ihr berühren zu lassen» 

 

Besucher:innen bei der Premiere in Kreuzlingen. Bild: Inka Grabowsky

 

Die Ausstellung & Performance

«Mensch sein» in der Kirche Kurzrickenbach
bis 8. Dezember 2024 sonntags von 14 bis 17 Uhr und 
wochentags zu den Öffnungszeiten des Open Place https://www.open-place.ch/

 

Rahmenprogramm:
Sonntag, 1.12.2024, 10.30 bis 12.30 Uhr
Workshop «Fünf Fragen zum MENSCH*SEIN»
begleitet von Raphael Zürcher und Micha Stuhlmann
(Bitte anmelden: micha.stuhlmann@gmx.ch)

 

Sonntag, 8.12.2024, 13 bis 14.45 Uhr
Workshop «Begegnung im MENSCH*SEIN»
Speak-Dating mit anschliessender Finissage ab 15 Uhr
(Um Anmeldung per Mail wird gebeten: micha.stuhlmann@gmx.ch)

 

 

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kunst

Kommt vor in diesen Interessen

  • Kritik

Werbung

Fünf Dinge, die den Kulturjournalismus besser machen!

Unser Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus.

Unsere neue Serie: «Wie wir arbeiten»

Unsere Autor:innen erklären nach welchen Grundsätzen und Kriterien sie arbeiten!

#Kultursplitter im Dezember/Januar

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

15 Jahre Kulturkompass

Jubiläumsstimmen und Informationen rund um unseren Geburtstag.

Wir suchen Verstärkung!

Wir suchen eine/n SocialMedia-Redaktor:in in einem Pensum von cirka 20 Prozent. Weitere Informationen hier...

"Movie Day": jetzt für 2025 bewerben!

Filme für das 12. Jugendfilm Festival können ab sofort angemeldet werden. Einsendeschluss der Kurzfilme für beide Kategorien ist der 31.01.2025

21. Adolf-Dietrich-Preis 2025

Bewerbungsschluss: 28. Februar 2025

Ähnliche Beiträge

Kunst

Die Welt hinter dem Vorhang

Im Kunstraum Kreuzlingen gibt es gerade Seltenes zu bestaunen: Die Verschmelzung verschiedener Kunstformen zu einem grossen Ereignis. mehr

Kunst

Heimspiel für 75 Kunstschaffende

Am 13. Dezember startet das grenzüberschreitende Ausstellungsformat. In fünf verschiedenen Orten wird zeitgenössische Kunst aus der Region bis zum 2. März gezeigt. mehr

Kunst

Alte Mauern, neue Gedanken

Beim grenzüberschreitenden Festival „Heimspiel“ wird ab 15. Dezember die Arboner Webmaschinenhalle erstmals als Kunstort bespielt. Wie gut kann das funktionieren? Ein Baustellenbesuch. mehr