von Anke Klaaßen, 31.07.2024
Vom Glück, Letzter zu sein
Die Serie „Unsichtbar“ stellt die Menschen hinter der Kamera vor. In dieser Folge geht es um den Bereich Schnitt. Der im toggenburgischen Nesslau aufgewachsene Jann Anderegg erzählt von den Herausforderungen als Editor für Kinofilme und sein aktuelles Dokumentarfilmprojekt „Traces of responsability“. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
„Editoren schneiden die schlechten Szenen raus“, das sei eine weitverbreitete Annahme, aber spiegele nicht die Aufgabe des Filmschnitts wider, so Jann Anderegg. Diese sieht er hingegen in zwei Dingen: „Das erste ist es, das Beste aus dem gedrehten Material herauszuholen.“ Das zweite sei es, die Vision der Regie umzusetzen.
Jann Anderegg fühlt sich dabei aber eher dem Material verpflichtet als der Regie: „Ich finde es schade, wenn man nicht das Potenzial des Materials ausschöpft oder wenn man irgendwas damit versucht zu machen, was es halt nicht ist. Natürlich sollte das immer einhergehen mit der Vision der Regie. Aber ich finde, oft gibt einem das Material Dinge vor.“
Es gehe vor allem darum, „die guten Momente herauszufinden“ und diese auch zu zelebrieren. Für alles andere müsse man Lösungen finden. „Das Material“ – der Stoff, mit dem Editor:innen arbeiten, ist all das, was beim Filmdreh gedreht wurde – und das können beim Spielfilm um die 40 bis 70 Stunden, beim Dokumentarfilm im Extremfall bis zu 300 Stunden sein.
„Oft gibt einem das Material Dinge vor“
Jann Anderegg, Editor
Seit seinem Abschluss an der Filmakademie Baden-Württemberg im Fach Filmschnitt arbeitet Anderegg als freischaffender Editor, ist also immer projektweise angestellt. Und seitdem schneidet er vor allem Kinofilme: „Ein grosses Privileg“, wie er erzählt. Normalerweise würden die meisten auch nach dem Studium noch längere Zeit Schnittassistenzen übernehmen, Werbung oder Fernsehen schneiden, er habe daher viel Glück gehabt.
Anderegg schneidet sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme, dabei sei die Herangehensweise an das Filmmaterial ganz unterschiedlich: Im Spielfilm könne er eine erste Schnittfassung quasi alleine vorbereiten mit dem Drehbuch als Grundlage. Beim Dokumentarfilm gehe das nicht, da sei er auf die Regie angewiesen, dass sie eine Art Vorauswahl aus dem Material treffe, weil es da mehr ein „Herausschälen der Essenz, des Themas oder der Protagonisten“ sei. Dadurch wirke der Editor beim Dokumentarfilm viel mehr wie eine Art Koautor, weil man wirklich auch die Geschichte auf eine Art mitentwickele.
Von Uhrwerken und Filmrollen
Aufgewachsen ist Anderegg im toggenburgischen Nesslau: „Dort, wo man vom Zug aufs Postauto umsteigen muss.“ Eigentlich war für ihn schon mit 12 Jahren klar, dass er zum Film wollte – was aber zunächst schwierig bis unmöglich erschien.
Der Berufsberater im Tal meinte nämlich, dass man das nicht lernen kann und wusste nicht, dass es so etwas wie Filmhochschulen überhaupt gibt. Er riet Anderegg zu einer kaufmännischen Ausbildung. Diesem Rat folgte der Toggenburger jedoch nicht, und auf der weiterführenden Schule in St. Gallen erfuhr er dann endlich, dass man Film doch lernen kann.
In St. Gallen machte er zunächst ein Praktikum bei einem Kameramann vom SRF. Für ihn hat er fünf Jahre gearbeitet, viele eigene Filme mit Freunden gedreht, und dabei habe sich dann immer mehr herauskristallisiert: „Schnitt ist das, was ich am liebsten mache und was ich immer mache, nie gross darüber nachdenke und es einfach mache.“
Als ihm dann ein Freund erzählte, dass man im Ausland, an der Filmakademie Baden-Württemberg, tatsächlich Filmschnitt studieren kann, bewarb er sich – und 2008 wurde er angenommen.
Schneiden – geht auch aus dem Hotelzimmer
Anderegg kommt aus einer Familie, die über fünf Generationen das Uhrmacherhandwerk pflegte. Diese Tradition zu übernehmen, davon hatten Mutter und Grossvater aufgrund der Zukunftsaussichten jedoch abgeraten. Dennoch ist Anderegg beeinflusst von dieser filigranen Arbeit aufgewachsen und sieht dabei auch Parallelen zum Filmschnitt: Beides sieht er als eine enorme „Geduldsarbeit“, so lange an einer Sache zu sitzen, ein Problem zu lösen.
Ob Uhr oder Film – es sei notwendig, „dass man das dann auch so anordnet, dass es ineinandergreift, sodass es irgendwie läuft.“ Mit dem Studium verliess Anderegg Nesslau, inzwischen pendelt er für seine Arbeit zwischen Zürich und Berlin. Den Wegzug aus dem Dörflichen in das Offene, Städtische hat er als sehr positiv und befreiend erlebt.
Meistens schneidet er zuhause, manchmal auch an einem Schnittplatz. Letztes Jahr hat er auch schon während der Dreharbeiten eines Spielfilms in Hotels in der Nähe der Drehorte geschnitten: „Das war dann eher improvisiert, also manchmal hat kaum noch so ein zweiter Monitor auf den Tisch gepasst“, schmunzelt Anderegg. Der Film, der dabei entstanden ist, war „Die Theorie von allem“, ein Thriller von Regisseur Timm Kröger über einen Physik-Kongress in den Schweizer Alpen.
Sein neues Projekt: ein Film zum Mitentscheiden
Jann Andereggs aktueller Film heisst „Traces of Responsibility“ und ist für ihn im doppelten Sinne besonders. Einerseits hat er hier zusammen mit der Regisseurin Anja Reiss ausnahmsweise Co-Regie geführt, andererseits haben die beiden für dieses Projekt eine besondere Erzählform gewählt, die auch für den Schnitt dann aussergewöhnlich war: Es ist ein interaktiver Dokumentarfilm. Diese experimentelle Erzählweise ist Anderegg schon vertraut von seiner Arbeit als Editor bei „Late Shift“ (Regie: Tobias Weber), dem weltweit ersten interaktiven Kinofilm und BAFTA-Gewinner 2018.
„Wir folgen den Spuren eines ehemaligen Ministers in Ruanda, der auch vom internationalen Strafgerichtshof verurteilt wurde, der aber in der Schweiz studiert hat“, erzählt Anderegg. In der Form eines Roadmovies gibt „Traces of Responsibility“ einen Einblick ins heutige Ruanda. An interaktiven Entscheidungspunkten können die Zuschauer selbst entscheiden, welche Aspekte der Geschichte sie weiter erforschen und wie tief sie in das Thema eintauchen möchten.
Video: Trailer zu „Late Shift“ (Regie: Tobias Weber)
Ganz viele Perspektiven auf ein Thema
Der Film nehme die Zuschauer in eine Mitverantwortung, meint Anderegg: „Gleichzeitig stärkt es auch das Gefühl nochmal dafür, dass man nur einen kleinen Teil der Aspekte gesehen hat“. Dass es eben ganz viele Perspektiven auf ein Thema gibt. Anhand von Archivmaterial, Gerichtsakten, Regierungsdokumenten und Zeugenaussagen gewinne der Zuschauer ein tieferes Verständnis für die dunkle Geschichte Ruandas und die heutigen Versöhnungsbemühungen.
Inzwischen hat das Regieduo den Film den Protagonist:innen in Ruanda gezeigt, was Jann Anderegg ein grosses Anliegen war, und der Film startet seine Festivalauswertung. Bei Kinovorführungen gibt es dann eine „Kiste“, die Zuschauer:innen können sich eine App auf ihrem Smartphone installieren und so wären sie dann auf einer Art „demokratischer Reise“.
Alle Visionen des Films ergeben eine Dauer von 420 Minuten
Bisher war das Feedback sehr gut, sowohl bei den Protagonist:innen als auch bei den Zuschauer:innen. Später wird es dann auch noch online eine Streamingversion geben, bei der man sich allein auf die Reise durch Ruanda begeben kann.
Anderegg musste im Schnitt alle möglichen Versionen des Films mitdenken – dafür entstanden 100 kleine Blöcke, aus denen sich der Film ergeben kann. Würde man alle Sequenzen am Stück gucken, hätte er eine Länge von 420 Minuten.
Video: Trailer zu „Traces of Responsibility“
Das Handwerk hinter dem Job
Geprägt hat den Filmemacher in seiner Ausbildung an der Filmakademie Baden-Württemberg auch das Schneiden am legendären Steenbeck – an ihm schnitten Editor*innen früher analog ihre Filme, was mit der Digitalisierung komplett aus dem Alltag verschwunden ist, aber noch zur Ausbildung an Filmhochschulen gehört.
Filmschnitt war damals ein wirkliches, physisches Abtrennen des Filmstreifens an der gewünschten Stelle – was aber auch heisst, dass ein Schnitt wohlüberlegt sein wollte, weil er nicht einfach rückgängig gemacht werden kann: „Es ist extrem aufwändig, du musst diese Klebestellen wieder aufmachen, es verliert an Qualität, wenn du dann je nachdem zwei oder drei Frames wieder reintun musst und dann ist halt das ganze Ding nur eine Klebestelle“, erzählt Anderegg. „Ich fand’s extrem cool, weil man sich dann wirklich überlegen musste, was man eben tut.“
„Wenn man das Gefühl hat, man weiss jetzt, wie’s geht, dann sollte man wahrscheinlich damit aufhören.“
Jann Anderegg, Editor (Bild: Roman Kutzowitz)
Das Gefühl zu erspüren, wann Material interessant ist und wann nicht mehr – das hat Anderegg aus dieser Erfahrung mitgenommen. Und „dass Dinge manchmal auch schön sind dadurch, dass sie etwas Spontanes, Rohes haben und dass man gewisse Dinge auch zu Tode schneiden kann.“ Gleichzeitig sei es aber auch wichtig, Dinge, die stören, sofort anzugehen, weil man sich sonst daran gewöhne und sie nicht mehr wahrnimmt.
Sein Motto: „Im Zweifel eher weglassen“
Offenheit und Neugierde prägen Andereggs Zugang zu Projekten und dadurch auch seinen Stil: „Wenn man das Gefühl hat, man weiss jetzt, wie’s geht, dann sollte man wahrscheinlich damit aufhören.“ Aber genau das schätzt der Editor auch an seinem Beruf: Dass jeder Film völlig anders sei.
Seine Herangehensweise ist erst einmal „im Zweifel eher weglassen, lieber weniger, dafür nur die Sachen, die gut sind“. Er versuche, Radikalität hineinzubringen für mutige Entscheidungen, „damit man nicht an Sachen festhält, die halt nicht so richtig funktionieren, wenn man sie nicht braucht“. Er nehme im ersten Schnitt oft eher zu wenig rein und baut darauf auf.
Dabei arbeite er eher aus dem Bauch heraus, als mit Kärtchen an der Wand. Er bevorzugt Bilder statt Text zur Visualisierung oder färbe Sequenzen direkt im Schnittprogramm ein, sodass zusammengehörige Blöcke eine gemeinsame Farbe haben, um Übersicht zu schaffen.
Filmmenschen sind zumeist Herdentiere – sie sammeln sich in Zentren: Zürich, Berlin, bei Filmfestivals. Das scheint schon in der Natur der Sache zu liegen, weil beim Film ja viele Kulturschaffende beteiligt sind. Und doch gibt es sie auch hier, im und um und aus dem Thurgau. Schnell zu finden sind dabei die Vertreter:innen der Berufe, die im Rampenlicht stehen: Schauspieler:innen und Regisseur:innen. Doch Filme als Leistung einer Künstler:innengruppe bilden ein Mosaik aus den unterschiedlichsten, teils eher wenig wahrgenommenen Gewerken: Kamera, Drehbuch, Animation, Licht, Ton. Eben jene „unsichtbaren“ Filmschaffenden jenseits der Schlagzeilen nimmt diese Serie in den Fokus.
Zuerst kommt das Buch – darum habe ich als Anfang der Serie mit dem seit 2020 in Rorschach lebenden Schweizer Drehbuchautor Dominik Bernet gesprochen. Der zweite Beitrag drehte sich um den 3D-Animator Dominic Lutz. Alle Beiträge der Serie werden im zugehörigen Themendossier «Unsichtbar» gebündelt.
Die Emotionalität in jeder Szene
„Jede Szene hat ja auch eine Emotion, es geht ja immer über den Inhalt hinaus. Deswegen finde ich, man kann etwas nicht nur nach dem Inhalt strukturieren, weil das dann meistens nicht funktioniert. Weil dann der Übergang zwar intellektuell Sinn macht, aber emotional überhaupt nicht.“
Kreative Lösungen kommen ihm häufig, wenn er gar nicht darüber nachdenkt: „Oft ist es ja auch so, dass es nach Feierabend erst anfängt, der Prozess, und plötzlich hat man dann abends um 11 die Idee.“
„Unsere Arbeit verändert niemand mehr.“
Jann Anderegg, Editor
Anderegg mag es, dass die Editor:innen die letzten sind, die an einem Film arbeiten: „Unsere Arbeit verändert niemand mehr, das ist auch irgendwie ganz schön. Ich fühle mich immer sehr verantwortlich oder mitverantwortlich für das Endprodukt“. Das sei schon sehr anders als beispielsweise beim Drehbuch, da müsse man viel mehr loslassen.
Ein Wunsch: mehr Zeit!
Was er sich wünschen würde für seinen Berufsstand, wäre mehr Wertschätzung hinsichtlich der Schnittzeit. Diese werde oftmals sehr knapp kalkuliert und eine längere Schnittzeit von Förderungen nicht akzeptiert. Bei vielen Projekten sei es aber einfach ein längerer Prozess, meint Anderegg. Zu kurze Schnittzeit würde unnötig viel Druck auf die Editor:innen ausüben.
Was er sonst gerne mal noch schneiden würde? Einen grossen epischen Hollywoodfilm oder einen kleinen, beobachtenden Dokumentarfilm, überlegt er: „Ich bin einfach gespannt, was sich ergibt und was noch so kommt in Zukunft.“
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