von Anke Klaaßen, 12.12.2024
Sehnsucht nach echten Geschichten
«Unsichtbar» (6): Er war nominiert für Emmy und Oscar, 2019 erhielt er den Schweizer Filmpreis. Heute lebt der Kameramann Peter Indergand in Tägerwilen. Im Gespräch erzählt er von seinen langjährigen Erfahrungen als Kameramann in der ganzen Welt. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Eigentlich, so sagt es Peter Indergand, sei er vor allem so etwas wie ein „Advokat von Authentizität oder Glaubwürdigkeit“. Was er damit meint? Seinen Job als Kameramann bei Spiel- und Dokumentarfilm. So komme es bei Dreharbeiten immer wieder vor, dass er etwas zu künstlich findet und Alternativen vorschlägt.
Zum Beispiel, wenn die Landschaft samt Sonnenuntergang zwar wunderschön ist, aber überhaupt nicht zum Thema passt. „Das ist auch die Aufgabe von Kameraleuten, die Wirkung der Bilder zu überprüfen und dann, je nachdem das Bild zu ändern oder die Drehsituation soweit zu verändern dass das, was wir machen, die Aussage und die Stimmung transportiert, die passend ist zur Geschichte oder zu der Szene, die man gerade dreht.“
Plötzlich in Tägerwilen
In der Branche zählt Peter Indergands Wort. Er war für seine Arbeit sowohl für den Emmy als auch für den Oscar nominiert, 2019 hat er den Schweizer Filmpreis erhalten. Der 67-Jährige hat in den vergangenen Jahrzehnten viele erfolgreiche Produktionen mit seiner Arbeit hinter der Kamera geprägt. Was viele nicht wissen: Inzwischen lebt der Kameramann im thurgauischen Tägerwilen. Was ihn nach all den Jahren des Reisens ausgerechnet hierher gebracht habe? Zufall, meint Indergand. Und er habe schon immer gerne am Wasser wohnen wollen.
Geboren im französischen Crest, wuchs Indergand in Zürich auf, nach einer Zeit in Winterthur wohnte er seit 2008 in Frauenfeld. Als er damals ins Thurgau zog, sei er zunächst noch zürichorientiert gewesen. Schliesslich laufe dort am meisten im Filmbereich. „Aber mit den Jahren im Thurgau habe ich mich abgenabelt von Zürich“, erzählt er.
Stattdessen habe er seine Liebe zur Landschaft und zur Natur entdeckt: „Die Natur hat etwas Heilsames“, meint er. Vorher sei er eher „der urbane Typ“ gewesen. An Tägerwilen gefalle ihm neben dem Wasser auch die Grenzähe: „Hier hat es so eine Mischung zwischen dem Ländlichen und doch dieses Länderübergreifende, das führt auch zu einer gewissen Offenheit.“
Neuer Fokus auf Dokumentarfilme
Was zeichnet Peter Indergands Arbeit aus? Authentizität nimmt in seinem Schaffen jedenfalls eine grosse Bedeutung ein. Das ist mit ein Grund dafür, dass er inzwischen nur noch Dokumentarfilme dreht. Nach seinem letzten Spielfilm 2014 sei das eine bewusste Entscheidung gewesen. Durch all die organisatorischen Erfordernisse beim Spielfilmdreh gehe es bei der Kameraarbeit gar nicht so viel um den kreativen Teil, wie man sich vorstellt: „Es hängt ständig an Äusserlichkeiten.“
Indergands Begeisterung für die Bildgestaltung reicht bis in seine Kindheit: Als sein Grossvater ihn mit in seine Dunkelkammer nahm und ihm zeigte, wie man Schwarzweissbilder vergrössert, war die Faszination geweckt. Auf der Mittelschule konnte er Filmemachen als Freifach belegen und dank eines engagierten Lehrers, der mit viel Liebe und Enthusiasmus Filmwissen vermittelte, drehte er seine ersten Super-8-Filme: „Das war wie ein Virus, der übergesprungen ist. Ganz viele, die dort dabei waren, sind später zum Film gegangen.“
Studium in Zürich und Los Angeles
Nach der Schule, 1978, drehte er dann mit Mitschülern seinen ersten 16 mm-Film und der war so erfolgreich, dass er ohne Kameraassistenz direkt als Kameramann arbeiten konnte. Nach einem Studium in Zürich in Kunstgeschichte und Englisch ging er nach Los Angeles ans American Film Institute und machte dort einen Abschluss im Fachbereich Kamera. Seit 1989 arbeitet er als freischaffender Kameramann.
Offiziell ist Indergand nun seit zwei Jahren in Rente. „Das war witzig, in dem Monat, in dem ich 65 geworden bin, hat mich mein Rücken eingeholt“, erzählt er schmunzelnd. Rückenprobleme – eine klassische Kameraleutekrankheit, weil für die Drehs Unmengen an Material geschleppt werden muss: Viele Kilos Kamera, Licht, Stative und einiges mehr. Nun sei er kürzergetreten mit Drehs. Bei einzelnen Projekten arbeite er aber immer noch mit: „Aber nicht mehr in dieser physischen Intensität“. In den letzten beiden Jahren hat er unter anderem beim neuen Dokumentarfilm von Regisseur Christian Frei Kamera geführt.
Mit ihm verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit, gemeinsam drehten sie zahlreiche Filme, unter anderem „War photographer“, der 2002 als erster Schweizer Film eine Oscar-Nominierung als bester Dokumentarfilm bekam und für den Peter Indergand mit einer Emmy-Nominierung ausgezeichnet wurde. Der Film begleitet den Kriegsfotografen James Nachtwey zwei Jahre lang bei seiner Arbeit in Krisenregionen dieser Erde.
Video: Trailer zu „War photographer“
Ausserdem sei er weiterhin in der Lehre tätig am Institut für Multimedia Productions der Fachhochschule Chur, gäbe Seminare in Zürich und Bern.
Naivität als Schlüssel zum Authentischen
Trotz der jahrzehntelangen Erfahrung als Kameramann: Indergand ist es wichtig, eine gewisse Naivität zu bewahren: „Es lohnt sich ab und zu zurückzudenken an erste Erfahrungen, die man ohne professionelle Ahnung gemacht hat.“ Ein ganz besonderer Zustand der Kreativität: „Du kennst die Fehler noch nicht und bist total frei“, meint Indergand. Bei den nächsten Filmen sei man dann immer mehr damit beschäftigt, Fehler zu vermeiden, die man schon mal gemacht hat.
Indergand versucht deshalb in Drehsituationen so hineinzugehen, als wäre er das erste Mal in dieser Situation. „Wenn man mit einem vorgefertigten Bild in eine Situation reingeht, dann verstellt dieses Bild auch den Blick auf das, was tatsächlich da ist.“ Die Routine hingegen würde er sich für technische Dinge aufsparen.
Die Kunst der Unsichtbarkeit
Oftmals sagt jemand nach dem Dreh zu Indergand: „Das war jetzt faszinierend - ich habe gar nicht gemerkt, dass du da bist.“ Und das sei eigentlich auch das Ziel des Kameramanns: „Man geht in eine Situation rein mit Menschen. Die sehen mich vielleicht das erste Mal überhaupt und ich habe dazu noch eine Kamera dabei. Trotzdem sollen sie mich nach zehn Minuten vergessen“, so Indergand.
Das bedeute nicht, dass er sich in eine Ecke stelle und verstecke, sondern er gehe auch herum, nah dran und trotzdem sollen sich die Protagonisten nicht gestört fühlen. Das habe viel mit Ausstrahlung zu tun: „Wenn ich will, dass die mich nicht als störend empfinden, dann passiert das auch.“
Beim Drehen schon an den Schnitt denken
Wenn es im Filmteam Unruhe gäbe, könne das eine Situation schnell kaputtmachen. Bei manchen Drehs bleibe sogar der Regisseur draussen: „Wir haben auch schon mit Videofunk einfach das Bild ins Treppenhaus geschickt und waren allein mit den Protagonisten in einer Wohnung.“ Dieses „Eintauchen und Mitgehen“ sei natürlich ein ganz anderes Arbeiten als beim Spielfilm.
Während beim Spielfilm die Einstellungen in der Regel schon durchgeplant sind, müsse man im Dokumentarischen viele Entscheidungen spontan treffen: „Was ist jetzt das richtige Bild? Gehe ich jetzt mit oder bleibe ich zurück?“ Und auch der Gedanke an den Schnitt: „Lässt sich das schneiden? Was muss ich machen, damit es sich schneiden lässt? Braucht es noch andere Perspektiven, braucht es andere Grössen in der Bildkomposition?“ Das sei ein Prozess, der während des Drehs die ganze Zeit im Hinterkopf laufe: „Das ist einerseits sehr intensiv natürlich, aber auch spannend.“
Vertrauen ohne Sprache
Indergand meint, dass er diese Arbeitsweise auch auf andere Bereiche übertrage, zum Beispiel auf die Auswahl der Ausrüstung: „Ich möchte einfach, dass es möglich ist in allen Situationen zu drehen. Um so nah dran sein zu können, wie irgendwie geht.“ Es sei ihm wichtig, dass die Menschen, die sie filmen, sie als Filmteam aufnehmen, akzeptieren und spüren, dass man mit ihnen unterwegs ist und nicht gegen sie. „Das Vertrauen ist wahnsinnig wichtig und Vertrauen ist meiner Meinung nach nicht etwas, bei dem man zu den Leuten geht und sagt „Du kannst mir vertrauen“. Sondern die müssen das spüren, das ist viel wichtiger.“
Indergand hat viel in Ländern gedreht, in denen er sich nicht wirklich unterhalten konnten mit den Menschen vor der Kamera. „Du kommst in ein Dorf, vielleicht ist gar kein Übersetzer dabei.“ Und trotzdem kann die Begegnung mit den Menschen dort gelingen: „Man versteht sich ohne Worte und ich glaube, dort entsteht das Vertrauen. Das richtige Vertrauen.“
„Man hat es mit echten Menschen und echten Situationen zu tun, die sich nicht wiederholen lassen.“
Peter Indergand, Kameramann, über den Unterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilm
Indergands Zugangsweise an einen Film ist dabei immer anders: „Ich gehe grundsätzlich an jedes Thema so ran, wie ich das Gefühl habe, dass es dem Thema, der Geschichte und der Umsetzung der Geschichte in Szenen und Bilder am besten entspricht.“ Wichtig sei ihm in erster Linie die Machbarkeit: Im Zweifel drehe er lieber mit einer kleineren Kamera statt mit einer grossen, um nichts kaputtzumachen. „Das kommt sehr stark von der Arbeit im Nonfiktionalen. Weil du da eher gezwungen bist, dich der Situation anzupassen. Man hat es mit echten Menschen und echten Situationen zu tun, die sich nicht wiederholen lassen.“
Vom Glück, der erste Zuschauer zu sein
„Manchmal habe ich das Gefühl beim Drehen: Genau das ist ein Moment, das wird im Film sein.“ Und das ist dann auch so. Als Kameramann wisse er ja, worum es in der Geschichte geht und sieht, wenn sich der Kern der Geschichte und das Thema in einem Moment zeigt. Das empfinde er als ein Privileg: „Ich bin ja eigentlich wie der erste Zuschauer, der das sieht. Später werden das dann noch viel mehr Menschen sehen aber dann in der geschnittenen, in der verarbeiteten Version. Ich sehe es jetzt in echt und ungeschnitten.“
Indergand habe als Kameramann seine Position gefunden in dem Gefüge der Filmproduktion: „Mein Ort ist ganz klar ziemlich weit vorne. Dort, wo kreative Entscheidungen gefällt werden, wo man Einfluss nehmen kann, wie der Film sein wird am Ende. Aber nicht so weit vorne, dass ich die ganze Zeit im Scheinwerferlicht stehe.“
Filme, bei denen es um etwas geht
Welche Filme Indergand gerne dreht, das habe sich im Laufe der Zeit verändert. Früher hatte die Anerkennung für die Qualität des Filmes noch mehr Bedeutung für ihn. „Inzwischen ist es mir eigentlich wichtiger, Filme zu machen, bei denen es um etwas geht“.
Zum Beispiel „Eldorado“, ein Film von Regisseur Markus Imhoof zum Thema Geflüchtete, bei dem Indergand 2015 die Kameraposition inne hatte, zu der Zeit, als europaweit viele Menschen auf der Flucht waren. Neben zahlreichen weiteren Preisen schickte die Schweiz den Film damals ins Rennen um eine Oscar-Nominierung und Indergand bekam beim Schweizer Filmpreis 2019 den Preis für die beste Kamera.
Video: Trailer zu „Eldorado“
Was Indergand an einem Thema anspricht, kann ein menschlicher Aspekt oder politischer Aspekt sein oder eine ungewohnte Perspektive auf ein Thema: „Aber wenn möglich, sollte es um etwas gehen, hinter dem ich stehen kann.“
Die Serie «Unsichtbar»
Filmmenschen sind zumeist Herdentiere – sie sammeln sich in Zentren: Zürich, Berlin, bei Filmfestivals. Das scheint schon in der Natur der Sache zu liegen, weil beim Film ja viele Kulturschaffende beteiligt sind. Und doch gibt es sie auch hier, im und um und aus dem Thurgau. Schnell zu finden sind dabei die Vertreter:innen der Berufe, die im Rampenlicht stehen: Schauspieler:innen und Regisseur:innen. Doch Filme als Leistung einer Künstler:innengruppe bilden ein Mosaik aus den unterschiedlichsten, teils eher wenig wahrgenommenen Gewerken: Kamera, Drehbuch, Animation, Licht, Ton. Eben jene „unsichtbaren“ Filmschaffenden jenseits der Schlagzeilen nimmt diese Serie in den Fokus.
Zuerst kommt das Buch – darum habe ich als Anfang der Serie mit dem seit 2020 in Rorschach lebenden Schweizer Drehbuchautor Dominik Bernet gesprochen. Der zweite Beitrag drehte sich um den 3D-Animator Dominic Lutz. Es folgten der Editor Jann Anderegg und die Produzentin Katrin Renz. Alle Beiträge der Serie werden im zugehörigen Themendossier «Unsichtbar» gebündelt.
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