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von Maria Schorpp, 16.09.2019

Über Grenzen schreiten

Über Grenzen schreiten
Phänomen und Poetry-Slam-Wunder: Christian Uetz | © Caroline Minjolle

Die 15. Frauenfelder Lyriktage boten Autorinnen und Autoren auf, die die Grenzen der Lyrik mit anderen Künsten aufbrechen. Eine Performance von Nicole Bachmann stellte einen der Höhepunkte der dreitägigen Veranstaltung im Eisenwerk dar.

Immer wollen sich die Menschen irgendwo festhalten, wenn sie den Fluss des Lebens spüren. Dann erfinden sie Kategorien, grenzen das eine vom anderen ab und schaffen so Ordnung, indem sie das eine da unterstellen, das andere dort. Lyrik und Prosa, Gedicht und Roman sind solche Ordnungseinheiten, die nun schon seit einiger Zeit von Autorinnen und Autoren auch als Kreativitätshemmnis wahrgenommen werden. Und noch viele andere mehr. Ganz zum Genuss ihres Publikums.

Klassisches und Transdisziplinäres

Nicht dass bei den 15. Frauenfelder Lyriktagen die Lyrik als solche nicht mehr zu erkennen gewesen wäre. Das Samstagsprogramm im Eisenwerk bot Klassisches und Transdisziplinäres, manchmal auch in einer Person vertreten. Anja Kampmanns Verse zu einzelnen Erinnerungsorten beispielsweise fliessen dahin in verführerischem Rhythmus und scheinen sagen zu wollen: Komm mit, lass dich auf mich ein. Auch experimentiert sie derzeit in Leipzig mit dem Zusammenklang von Lyrik und Neuer Musik, das sei ein ganz anderes Hören, sagte sie. Da war auch Jürg Halter, der als einer der Pioniere der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung gilt und der längst Musik und Performance in seine Lyrik einbezogen hat. In Frauenfeld war er als Performer zu erleben. Mit seinem Sprechversuchen gab er einen Eindruck davon, wie sich Selbstreflektionen über das eigene Tun, über die eigenen Ambitionen, mit rappigem Sprechsound unterlegt, anfühlen.

Das Phänomen Christian Uetz war zu bestaunen, dieses Poetry Slam-Wunder, das seine so komplexen wie leicht klingenden Textstrecken als Sprinter zurücklegt. Sepp Malls hinter- und abgründige Lyrik beweist hingegen, dass der modernen Erweiterung des poetischen Betätigungsfeldes zum Trotz die Beschränkung auf pure rhythmisierte Sprache nach wie vor grosse Überzeugungskraft hat. Alle da in der Runde schreiben sie auch Prosa, Romane. Erstaunlich war, dass sie bei all der zuvor bewiesenen Freude an der Aufhebung von Grenzen der Aufforderung von Moderatorin Anna Kulp, die Linie zwischen Lyrik und Roman aufzuzeigen, gewissenhaft nachgingen. Grenzüberschreitungen, so konnte man das verstehen, sind nicht Selbstzweck, sondern sollen neue Räume öffnen. Geht aber auch ohne. Jeder Definitionsversuch wurde bald wieder kassiert.

Die Dichterin Anja Kampmann auf dem Podium der Lyriktage 2019. Bild: Caroline Minjolle

Andere Art der Sinnschaffung

Jürg Halter wollte ohnehin lieber über die vermeintliche Abwesenheit des Politischen in der deutschsprachigen Lyrik sprechen und damit eine Kontroverse anzetteln, was ihm jedoch nicht richtig gelang. Eine neue Ebene erreichte das Gespräch nach der Performance „Into the soft parts“ von Nicole Bachmann, die sie eigens für die Frauenfelder Lyriktage erarbeitet hat. Zwei Performerinnen arbeiten sich in einem Gemisch aus Lauten, Wort- und Satzfetzen raumgreifend und kraftraubend an sich und der Umgebung ab. Die Künstlerin, die in Zürich und London zu Hause ist, erklärte es als alternative, verdichtete Art zu sprechen und eine andere Art der Sinnschaffung, hier über gesellschaftliche Normen und wie wir uns darin bewegen.

Dass am Gespräch jetzt auch Zsuzsanna Gahse teilnahm, die diesjährige Trägerin des Schweizer Grand Prix Literatur und unablässige absichtsvolle Verweigerin von Grenzziehungen in der Kunst, schuf weiteren Raum für Überlegungen. Derzeit konzentriert sie eigene Geschichten auf Texte von maximal 320 Zeichen, kaum mehr als bei Twitter erlaubt. Ausserdem läuft aktuell eine Ausstellung von ihr mit Schriftbildern im Kunstraum Kreuzlingen. Es folgte in der Runde ein Erkunden, was mit was zusammengeht, ein Austausch dessen, was gerade im Gang ist. Jürg Halter arbeitet mit einem japanischen Keramikkünstler und einem Zürcher Maler auf der Basis eines gemeinsam geschauten Films zusammen.

Zählte zu den Höhepunkten der diesjährigen Lyriktage: Performance von Nicole Bachmann, die Grenzen auflöste und hinterfragte. Bild: Caroline Minjolle

Bemühen um mehr Internationalität

Das Bemühen der Lyriktage, die mit ihrer 15. Ausgabe ein kleines Jubiläum feierten, wieder internationaler zu werden, trat, neben der Deutschen Anja Kampmann und dem Italiener Sepp Mall aus dem Vinschgau, insbesondere durch Marina Skalova und dem Schotten John Burnside zutage. Letzterer gehört zu den eher puren Lyrikern (und Romanciers). Er erzählt von Alltagssituationen, die das Unheimliche, Unkontrollierbare in sich tragen. Marina Skalova hat ihre Mehrsprachigkeit zu einer eigenen Kunstfertigkeit verarbeitet. In Moskau geboren und in Deutschland und Frankreich aufgewachsen, lebt sie mittlerweile in Genf. Wie sie gerade in ihren deutsch-französischen Textexperimenten, etwa in ihrem Lyrikband „Atemnot (Souffle court)“,immer wieder die beiden Sprachen aneinander reiben lässt, ist vor allem auch ein sprachliches Hörerlebnis.

Was nun die Grenzlinie zwischen Lyrik und Prosa ausmacht, die alles andere als an diesem Abend beantwortete Eingangsfrage zum Thema Grenzüberschreitungen: Es gab Aufregenderes an diesem Samstagnachmittag zu besprechen. Mit dieser Runde können Autor und Verleger Beat Brechbühl, der gemeinsam mit Elke Bergmann und Jochen Kelter 1991 die Frauenfelder Lyriktage geschaffen hat und der bei der 15. Ausgabe für seine Verdienste gewürdigt wurde, zufrieden sein. Kuratiert haben sie die Literaturvermittlerin Anna Kulp und Gioia Dal Molin, die Beauftragte der wie immer die Lyriktage unterstützenden Kulturstiftung des Kantons Thurgau.

Der schottische Dichter John Burnside. Bild: Caroline Minjolle

 

Zsuzsanna Gahse im Gespräch mit Kuratorin Anna Kulp (rechts) und Nicole Bachmann. Bild: Caroline Minjolle

 

Jürg Halter vermisst das Politische in der deutschsprachigen Lyrik. Bild: Caroline Minjolle

 

Festival-Kuratorin Anna Kulp bei den Lyriktagen 2019. Bild: Caroline Minjolle

 

 

 

 

 

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