von Barbara Camenzind, 02.09.2022
Frisches für die Ohren
Beim Auftakt des 14. Festivals Kammermusik Bodensee auf dem Lilienberg in Ermatingen wurde deutlich, dass sich die Thurgauer Konzertreihe etabliert und aus der Pionierphase verabschiedet hat. (Lesezeit: 9 Min.)
„Wanderer zwischen den Welten“, so lautete das Motto des Festivals vom 26. bis 28. August, das dem 150. Geburtstag des Schweizer Komponisten Paul Juon (1872-1940) gewidmet war. Sein formidables Klaviersextett und die wirklich gelungene Uraufführung von Richard Dubugnons "Rundtanz" liessen Meister Tschaikowsky daneben programmatisch etwas blässlich wirken.
Erstens: Klug durchdachte Konzertprogramme sind einfach schick. Mit Peter Tschaikowskis „Souvenir d‘un lieu cher“ op. 42 (1878) für Violine und Klavier wurde die Verbindung zu Paul Juons Wiege in Moskau hergestellt. Er war der Enkel eines Schweizer Zuckerbäckers aus dem bündnerischen Masein, der nach Russland auswanderte. Geigerin (die diesjährige Violine-Workshop-Referentin) Tanja Becker-Bender und die Pianistin Kateryna Tereshchenko tasteten sich erst etwas verhalten, dann immer fokussierter an die sehnsüchtig-elegischen Klangbögen heran.
Gut gelungen ist ihnen das akzentuierte, virtuose Scherzo in präzisem Zusammenspiel und glasklaren Lagenwechseln. Dieser „Erinnerung an einen geliebten Ort“ tat es sehr gut, dass die beiden Künstlerinnen ihn in zarten Farben malten. Doch der Übervater der russischen Musik des 19. Jahrhunderts klang so gar nicht russisch, im Vergleich zum Werk seines jüngeren Komponistenkollegen mit Schweizer Wurzeln. Und ging damit im Gesamteindruck des Abends fast etwas unter. Doch dazu später.
Mit falschem Walzer alles richtig gemacht
Zweitens: Solche Uraufführungen mit einem mitspielenden Komponisten sind cool. Der 1968 in Lausanne geborene Kontrabassist Richard Dubugnon, der sich in seinem "Rundtanz" op.92 für Klaviersextett mit den Gemälden des Art-Brut-Künstlers und Komponisten Adolf Wölfli auseinandersetzte, ist ein humorvoll-feinsinniger Klangvernetzungskünstler mit grossem handwerklichen Geschick. Die beiden Sätze „Falscher Waltzer nach Wölflis Lied zweiter Folianten-Marsch“ und „Folio Marsch Stoos 4 1/2- 8 1/2“ waren echte, ehrliche und plastische Auseinandersetzungen mit den Bilderwelten Adolf Wölflis, der sein Leben in der psychiatrischen Klinik Waldau bei Bern verbrachte.
Tief in die Klaviersaiten musste Pianist Martin Lucas Staub langen, um dann den halsbrecherisch ver-rückten Wechseln zwischen Rhythmen, metrischen Formen, tonalen und atonalen Passagen seiner kammermusikalischen Kollegen zu folgen. Wie in Wölflis Bilder erschienen gruppierte Muster, die den Fokus auf ein Motiv in einem Instrument lenkten.
Ganze Arbeit für Angela Golubeva, Rustem Monasypov, Violinen, Grigory Maximenko, Viola, Claude Hauri, Cello, und dem Mann am Kontrabass, der ihnen diese Noten schrieb. Kindliche Neugier an Klangmöglichkeiten, vertraute, swingende Ebenen wechselten sich mit subversiv-makabren Pas-de-Deux ab. So spannend es ist, in Wölflis Bilderwelt einzutauchen, so spannend war es, diesem gelungenen Auftragswerk für den Förderkreis Kammermusik Schweiz zuzuhören. Bitte mehr davon, Richard Dubugnon, Ihre Musik von heute macht einfach Spass.
Vorhang auf für einen fast Vergessenen
Paul Juons Klaviersextett in c-Moll op. 22 entstand 1902 in seinen frühen Berliner Jahren, nachdem er erst als Violinlehrer in Baku arbeitete. Seine Ausbildung als Komponist genoss er davor bei Anton Arensky. Kein geringerer als der berühmte Geiger Joseph Joachim holte ihn in die Hauptstadt des Deutschen Reiches und er wurde bald der „russische Brahms“ genannt. Eine Zuschreibung, die wohl Segen wie Fluch war. Doch erst zur Musik. Während Tschaikowskis Klänge eher im schönen Ungefähren blieben, eröffnete sich in Paul Juons Sextett die weite Welt Russlands mit seinen volksliedhaften Weisen, den Rhythmen und Klängen.
Juon hatte sich nebst dem Anspruch, kompositorisch formal objektiv zu bleiben, in dem Stück voll dem nationalen Stil verschrieben. Ganz eigen jedoch der Umgang mit Metrik und Rhythmus, den er konsequent in allen Sätzen umsetzte. Was für eine schöne Klangvielfalt eröffnete sich so dem Ohr. Ein grosses Lob gebührt den Musizierenden, die mit wunderbaren Soli in Klavier, Cello und dem Schweizer Weltenbürger einen gebührenden Auftritt ermöglichten, begleitet von Wetterleuchten, Donner und Blitz. Es ist wirklich verwunderlich, dass Juon nach seinem Tod in Vevey fast in Vergessenheit geriet, wurde er zu Lebzeiten doch recht oft aufgeführt.
Vielleicht liegt es daran, dass er schon zu seiner Zeit fast zu traditionell komponierte. Mag sein, weil er selber kein geschickter Selbstvermarkter war. Wie gut, hat man sich seiner in Ermatingen auch mit einer kleinen Wanderausstellung angenommen. Es bleibt zu hoffen, dass ein solcher Satz wie der eingangs gehörte „wir muten Ihnen nicht zu viel Unbekanntes und Neues zu“, irgendwann mal in der Mottenkiste der Konzertkultur verschwinden wird. Wir essen schliesslich nicht nur Konserven und das Publikum tut gut daran, seine Ohren aus der Trotzphase zu entlassen. Das Festival Kammermusik Bodensee hat den Beweis erbracht: Es lohnt sich.
Das Konzert wurde von Radio SRF 2 aufgenommen und wird zu einem späteren Zeitpunkt ausgestrahlt.
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