von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 13.03.2025
Klingt so die Zukunftsmusik?

Reicht es heute noch aus, einfach klassische Konzerte zu spielen? Die Konstanzer Bodensee Philharmonie findet: eher nein. Und bindet das Publikum auf aussergewöhnliche Weise ein. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Wer heute zu den Problemen für klassische Musik recherchiert, der muss nicht lange suchen. Die meisten Herausforderungen liegen auf der Hand. Die Überalterung des Publikums, sinkende Zuschauerzahlen, finanzielle Unsicherheiten, weil öffentliche Fördermittel schrumpfen und die sich vehement haltende Wahrnehmung, dass klassische Musik elitär und schwer zugänglich ist. Was für die allermeisten Menschen bedeutet: Klassische Orchester haben kaum Berührung zu ihrem Leben. Sie gelten als verzichtbar.
Jetzt kann man resignieren, jammern und die Ungerechtigkeit der Welt beklagen. Oder man macht es wie Andrea Hoever. Die Musikvermittlerin der Bodensee Philharmonie (früher: Südwestdeutsche Philharmonie) gib sich kämpferisch. Sie sagt: „Krisen sind auch Chancen, sie eröffnen den Raum für neue Ideen.“ Das ist der Vibe, den sie mitgebracht hat nach Konstanz, als sie Anfang 2024 ihre Aufgabe bei dem Orchester angetreten hat. Sie will nicht lamentieren, sie will was machen, Dinge verändern. Weil ja nichts bleiben muss, wie es ist.

400’000 Euro gibt es vom Bund für die Zukunft
Hoever hat dabei das Glück, dass sie auch die notwendigen Mittel hat, um Dinge verändern zu können. Die Bodensee Philharmonie ist seit 2024 Teil des Bundesförderprogramms „Exzellente Orchesterlandschaft“. Ziel des Programms ist es, sowohl öffentlich finanzierte als auch freie Orchester und Ensembles dabei zu unterstützen, innovative künstlerische Projekte und Vermittlungsprogramme zu realisieren, die über das traditionelle Tätigkeitsfeld hinausgehen. Besonderer Fokus liegt dabei auf Themen wie Nachhaltigkeit, Diversität und der Ansprache neuer Zielgruppen. Das Konstanzer Orchester erhält dafür 400.000 Euro für die Jahre 2024 und 2025.
„Im Kern geht es uns darum, eine Zukunft für den Konzertbetrieb von morgen zu finden“, sagt Hoever bei einem Gespräch im Oktober 2024 in Konstanz. Auch deshalb haben sie ihr Projekt im Rahmen der Förderung „Zukunftsmusik“ genannt. „Die Frage ist ja: reicht es heute noch aus, einfach nur Konzerte zu spielen? Ich glaube nein. Wir müssen uns den veränderten Erwartungen anpassen und dazu stimmige Angebote machen“, sagt die Musikvermittlerin. Dabei gehe es dann auch nicht nur um das Publikum, sondern auch darum, die Musiker:innen aus dem Orchester fortzubilden, „damit sie fit werden für den Konzertbetrieb von morgen“, erklärt Andrea Hoever.
Video: So arbeitet die Philharmonie im Projekt
Hinlegen erlaubt: Bei einem Konzert der Bodensee Philharmonie unter dem Titel "Aesthesia" am Samstag, 15. März, ab 19 Uhr im Seemuseum Kreuzlingen kann man sowohl im Sitzen als auch im Liegen lauschen. Während die Musik durch die vier Jahreszeiten führt, können vor dem inneren Auge eigene Bilder entstehen und die Fantasie, Klang- und Naturbilder malen.
Die Musiker der Bodensee Philharmonie spielen die "Vier Jahreszeiten" von Antonio Vivaldi, den Solopart übernimmt die Konzertmeisterin und Violinistin Rujin Min. Das Konzept hat Andrea Hoever, Musikvermittlerin der Philharmonie, erarbeitet.
Das Konzert ist Teil der Xperiment-Reihe, die mit neuen, zum Teil aussergewöhnlichen Formaten Klassik neu erlebbar machen möchte.
Karten sind bei der Bodensee Philharmonie (Montag bis Freitag, 9 Uhr bis 12.30 Uhr) und bei der Tourist-Information am Hauptbahnhof erhältlich. Oder über im Internet über die Website des Orchesters. Eine Einzelkarte kostet 15 Euro/ermässigt 10 Euro.
Klima, Demokratie, Vielfalt: Eher nicht die klassischen Orchesterthemen
Dafür haben sie in den vergangenen Monaten viel getan. Zwei Themenwochen sind bereits gelaufen im Rahmen des Projektes. Eine widmete sich dem Bereich Klima und Nachhaltigkeit, die andere stand unter dem Schlagwort „Demokratie“. Die dritte Schwerpunktwoche startet im April und beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Buzzword „Vielfalt“.
Klar kann man sich jetzt fragen: Klima, Demokratie und Vielfalt - sind das wirklich die Kernkompetenzthemen eines klassischen Orchesters? Andrea Hoever kennt diese Frage natürlich. Sie sagt: „Wir sind keine Spezialisten in diesen Themen, aber wenn wir als Orchester relevant sein wollen, dann müssen wir uns auch mit gesellschaftlich relevanten Fragen beschäftigen. Das Wissen kommt über die beteiligten Menschen dazu.“
Dass aber auch eine Philharmonie dazu interessante Beiträge liefern kann, davon ist Andrea Hoever überzeugt. Auch wenn das weit über das hinaus geht, was man bislang mit der Arbeit eines klassischen Orchesters verband. „Zukunftsmusik steht nicht nur für klangliche Experimente, sondern auch für gesellschaftliche Innovation. Dies ist ein Projekt für die Stadt, mit der Stadt, durch die Stadt“, sagt die Musikvermittlerin. In den vergangenen Ausgaben sah das dann zum Beispiel so aus, dass es unter dem Titel „The Sound of Trash“ einen Recycling-Workshop inklusive Konzert gab, bei dem auf selbst gebastelten Schlagwerkinstrumenten gespielt wurde.

Mitmach-Konzerte und Gamification
Während der Demokratie-Woche gab es ein Mitmach-Konzert, eine Mischung aus Musik, Theater, Vortrag und Performance. Die Reihenfolge und Entwicklung der Veranstaltung wurde von den Zuschauer:innen bestimmt. Die Initiator:innen entwickelten auch ein interaktives, digital-analoges Spiel bei dem Zuschauer:innen den Konzertsaal ganz neu entdecken konnten. Klassische philharmonische Konzerte fanden ebenfalls statt und lehnten sich an das Thema an. Neu war auch eine Podiumsdiskussion mit Musik, in der es um den Missbrauch der klassischen Musik durch die Politik über die Jahrhundert ging.
Innovativ, mit Gewohnheiten brechend, überraschend ungewöhnlich, das zeichnete die vergangenen Programme aus. Interaktive Workshops, öffentliche Experimente, dahin gehen, wo man das Orchester sonst nicht erwartet, waren zentrale Gemeinsamkeiten aller bisherigen Themenwochen.
Wichtig für Andrea Hoever dabei: „Alle Veranstaltungen sind kostenfrei und laden die Menschen der Stadt ein, Musik neu zu erleben und direkt mit den Orchestermusiker:innen in den Austausch zu treten“, sagt die Musikvermittlerin. Denn auch darum geht es ja - die Akzeptanz eines solchen Klangkörpers in der Stadtgesellschaft zu erhöhen, damit bei weiteren möglichen Sparrunden eine wehrhafte Lobby sich dem widersetzen kann.
Ein Modellprojekt: Mit der Musik zu den Menschen
Wenn man so will, dann ist das Förderprogramm für die Konstanzer Philharmonie auch ein Weg, wieder in den Kontakt mit den Bürger:innen zu treten. „Wir entwickeln hier auch ein Modell für andere Orchester. Wenn das hier funktioniert, dann können davon auch andere Ensembles profitieren. Deshalb probieren wir auch so viel aus“, gibt die Musikvermittlerin einen Einblick. Dieses Wissen soll am Ende auch geteilt werden - zum Abschluss des Förderprogramms wird es ein Symposium geben, an dem die besten Ideen und wertvollsten Erfahrungen zugänglich gemacht werden sollen.

Was sich Besucher:innen vom Konzert der Zukunft wünschen
Dass sie in Konstanz auf dem richtigen Weg sind, das hat unlängst auch die aktuelle Studie „Das Konzert der Zukunft 2035“ von der Heidelberger Gesellschaft für Innovative Marktforschung ergeben. Bei einer Onlinebefragung kam unter anderem heraus, dass viele Menschen ein Konzert auch besuchen, weil ihre Freunde hingehen.
Ein Konzert ist also auch ein soziales Erlebnis, weil es eine Auszeit vom Alltag verspricht. Und, auch das ein Ergebnis der Umfrage, die Konzertbesucher:innen wünschen sich mehr partizipative Formate. Zudem soll das Konzert der Zukunft „experimentelle Ansätze bieten, ohne das klassische Repertoire zu vernachlässigen“.
„Eine solche Offenheit wie bei den Musiker:innen hier, kenne ich von keinem anderen Orchester.“
Andrea Hoever, Musikvermittlerin
Andrea Hoever jedenfalls hat grosse Lust, diesen Weg weiterzugehen. Die Musiker:innen scheint sie dabei auf ihrer Seite zu haben: „Eine solche Offenheit wie bei den Musiker:innen hier, kenne ich von keinem anderen Orchester“, lobt sie das Engagement aller Beteiligten. Vielleicht liegt diese Harmonie auch daran, dass Hoever weiss, wie Musiker:innen ticken.
Sie hat selbst Querflöte studiert, ging danach ein Jahr auf Reisen, um anschliessend noch den Masterstudiengang Musikmanagement und Musikvermittlung an der Hochschule für Musik in Detmold draufzusatteln. Ihre ersten Job hatte sie bei den Luisenburg-Festspiele in Wunsiedel als Leiterin der „Jungen Luisenburg“. Danach leitete sie die Education-Abteilung der Dortmunder Philharmoniker als Musikvermittlerin. Sie weiss also ziemlich gut, worüber sie spricht.

Bleibt sie oder geht sie?
Für Konstanz ist sie damit ein Glücksfall. Aber in der Bodenseestadt ist man gewarnt: Wann immer jemand richtig gut ist in seinem Job, zieht er oder sie nicht selten irgendwann weiter an einen renommierteren Standort. Trifft das auch für die Musikvermittlerin zu? Andrea Hoever winkt ab. „Ich habe nicht das Gefühl, an ein grosses Haus zu müssen, um mich verwirklichen zu können. Ich möchte mit Leuten arbeiten, die gemeinsam etwas bewegen wollen. Das spüre ich hier gerade sehr“, sagt sie.
Überprüfen lässt sich das für jede:n bei der nächsten Themenwoche des Orchesters. „Vielfalt“ heisst es vom 5. bis 13. April und das Programm zeigt sich beeindruckend überraschend und innovativ. Im Konzertclub Kulturladen kann man so zum Beispiel die Musiker:innen des Orchesters in einem Speeddatingformat kennenlernen und auch gemeinsam mit ihnen musizieren.
Konzerte im Alternativ-Club und einem Riesenrad
Auch Höhenflüge scheut das Programm nicht. Ein Riesenrad auf Klein Venedig am Bodenseeufer wird zum Erlebnisraum. In speziell reservierten Kabinen können Besucher:innen mit Expert:innen über das Thema Vielfalt sprechen – „offen, ungezwungen und ohne Hemmungen. In diesem geschützten Raum hast du die Möglichkeit, Fragen zu stellen, die oft als Tabuthemen gelten, und neue Perspektiven zu entdecken“, heisst es im Programm dazu. Wer lieber zuhören will als diskutieren, der steigt einfach in eine andere Kabine. Dort gibt es 1:1 Konzerte von verschiedenen Orchester-Musiker:innen.
Gut möglich, dass sie irgendwann sagen werden: Damals im Jahr 2025 haben sie in Konstanz die Zukunft der klassischen Musik gerettet.

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