von Inka Grabowsky, 12.04.2021
Souvenirs aus der weiten Welt
Zwei Frauen bringen internationale Eindrücke in den Kunstraum in Kreuzlingen. Lika Nüssli hat in Belgrad gemalt, Monica Ursina Jäger hat in Singapur gefilmt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Lika Nüssli war von Februar bis Juli 2020 als Stipendiatin der Kulturstiftung Thurgau in Belgrad. „Ich hatte mich dafür beworben, weil mich der Osten interessiert“, sagt sie. „Ich hatte vorher gar keinen Bezug zum Balkan. Man hat eine Vorstellung – und gewisse Dinge habe der auch entsprochen, aber einiges fühlte sich ganz anders an.“ Das Ergebnis der halbjährigen Arbeit präsentierte sie nach ihrer Rückkehr vergangenen Herbst Richard Tisserand.
Der Kurator des Kunstraums war begeistert: „Die Ausstellung war eigentlich schon fertig, als ich die Bilder damals auf dem Fussboden ausgebreitet sah.“ Nun, ungerahmt gehängt im grosszügigen Kunstraum, wirken sie auf ihn wie ein gemaltes Tagebuch, eine Offenlegung einer gewissen Zeitspanne.
„Die Qualität des Raums ermöglicht diesen Eindruck. Die Bilder haben genügend Abstand, aber man kann alle gemeinsam sehen.“ Den Titel „La vie est un longue fleuve“ nach einem französischen Film findet er besonders passend für das Erlebte. „Man ist von einer Woge getragen und kann nicht ausweichen.“
«Es war fast schon ein Schock, wieder in die Schweiz zu kommen. Hier ist es so steif.»
Lika Nüssli, Künstlerin, über ihre Rückkehr aus Belgrad
Der Aufenthalt sei wahnsinnig intensiv gewesen, erzählt Lika Nüssli. Beeindruckt habe sie der verblichene Glanz der Geschichte in Belgrad, aber auch die prekäre Lebenssituation vieler Menschen. „Trotzdem gibt es so viel Lebensfreude. Es war fast schon ein Schock, wieder in die Schweiz zu kommen. Hier ist es so steif. Man hat sein eigenes Gärtchen. Dort trifft man sich gemeinsam in einem der gepflegten Parks.“
All das habe sie beim Malen beeinflusst, vor allem aber die Erlebnisse des ersten harten Lockdowns. Ihr Atelier in einer ehemaligen Druckerei konnte Lika Nüssli nur sieben Wochen nutzen. Danach galt wegen der Corona-Pandemie eine Ausgangssperre. Sie verbrachte die nächsten sieben Wochen in ihrer Wohnung. „Zum Glück hatte ich meine Arbeit, aber es war mitunter niederdrückend.“
Kreativität in der Isolation
Sie machte sich zur Aufgabe, jeden Tag als Reaktion auf das politische Geschehen eine Zeichnung für ihr Skizzenbuch zu schaffen. Es sei das Herzstück des Aufenthalts, meint sie. Quasi als therapeutische Massnahme entstanden in der Wohnung auch die kleinen farbenfrohen Arbeiten, von denen nun eine Auswahl an den Wänden des Kunstraums hängt.
„Ich hatte überlegt, kurz vor der Ausrufung des Lockdowns noch nach Hause zurückzukehren. Alle Schweizer waren dazu aufgerufen worden. Aber ich wollte mich dem aussetzen und aus der Erfahrung schöpfen.“ Erfahren hat sie Ohnmachtsgefühle und Repressionen. „Ich sehe nun die Probleme in der Schweiz mit anderen Augen.“
Endlich Zeit und Raum
Im Lockdown in Belgrad hatte sie nun viel Zeit für sich – manchmal fast zu viel. „Ich war aus meinem Umfeld herausgerissen, oft allein, und draussen war anfangs alles grau und kalt. Ich habe definitiv meine Komfortzone verlassen.“ So könne Neues entstehen, meint die Zeichnerin. „Aber prinzipiell sehen meine Bilder immer noch nach mir aus.“
«Ich habe definitiv meine Komfortzone verlassen.»
Lika Nüssli, Künstlerin
Sie habe allerdings neue Techniken ausprobiert, ein spezielles grobes Papier aus Baumwolle gekauft und vor Ort einige Installationen mit Stoff gemacht. Vor und nach dem Lockdown fischte Nüssli Müll aus dem Fluss, arrangierte ihn in alten Bettbezügen und gestaltete ihn farblich. „Die Belgrader haben sich schon gewundert, vor allem aber haben sie sich gefreut, dass endlich jemand den Unrat aus dem Wasser fischt.“
Dokumentationen dieser Installationen sind nicht Teil der Kreuzlinger Ausstellung. Nüssli wird sie ab 12. Mai in Winterthur und Baden präsentieren. „Es ist meine Art, mich aktivistisch mit einem Thema auseinanderzusetzen.“
Jäger im Dschungel
Während Lika Nüssli ihre Denkanstösse im lichtdurchfluteten Kunstraum gibt, zeigt Monica Ursina Jäger im abgedunkelten Tiefparterre ihre Videoinstallation „Forest Tales and Emerald Fictions“. Sie stellt in dem 19-minütigen Video einen modernen Grossstadt-Dschungel dem tropischen Urwald gegenüber.
Der allwissende Erzähler (Phil Hayes) beschreibt auf Englisch aus dem Off, was im Wald zu sehen und zu spüren ist – nicht ohne Ironie, wenn man im Film dazu statt Urwaldriesen riesige Häuser sieht. Er schildert auch, wie Schlingpflanzen ihre Wirtspflanze erobern, nutzen und langsam erwürgen.
«Die Installation ist eine Reflexion über den Menschen und andere Lebewesen, wie sie sich einen Lebensraum teilen können.»
Monica Ursina Jäger, Videokünstlerin
Im zweiten Erzählstrang beschreibt die in Malaysia geborene Singapurerin Jennie Ching (ebenfalls auf Englisch), welche mythische Bedeutung der Wald für sie hat. Die Epiphyten finden sich bei ihr als Orchideen wieder, die sie als Kind mit ihrer Mutter gepflanzt hatte. Symbiosen und Netzwerke gibt es im Wald wie in der Stadt.
Monica Ursina Jäger findet dafür Bilder von überwucherten städtischen Betonwüsten. Als Pointe überlagern sich Wald und Asphaltdschungel optisch. „Stadt und Wald verschmelzen durch die beiden Stimmen und die Bilder zu einem Habitat“, sagt die Künstlerin. „Die Installation ist eine Reflexion über den Menschen und andere Lebewesen, wie sie sich einen Lebensraum teilen können.“
Jeder Lebensraum hat eine eigene Klanglandschaft
Für ihr Projekt hatte sie mehrere Monate am Centre for Contemporary Art in Singapur recherchiert. „Ich bin dem Ort verbunden. Jennie Ching ist die Partnerin meines Vaters und stand mir für die Interviews zur Verfügung.“ Die Texte des Erzählers hat sie zum Teil selbst geschrieben, zum Teil aus 150 Jahre alten Reiseberichten und Fachliteratur entnommen. Der Soundtrack von Michael Bucher weist jedem Lebensraum eine eigene Klanglandschaft zu.
Idealer Film am idealen Ort
Das Tiefparterre sei perfekt, um den Film zu zeigen, meint Jäger. „Der Abstieg in den Untergrund betont, dass man in eine andere Welt eintaucht. Die Architektur tritt völlig zurück, die Dimensionen des Raums sind im Dunkeln kaum zu erkennen. Man kann sich also vollkommen auf den Film konzentrieren. Das war an anderen Orten, an denen ich den Film zeigen durfte, nicht so. Gleichzeitig ist der Raum so gross, dass die Bäume und Häuser auf der Leinwand ihre volle Wirkung entfalten können.“
Für Kurator Richard Tisserand ist umgekehrt der Film von Monica Ursina Jäger ideal, um seine Reihe zum Naturbegriff von Künstlerinnen fortsetzen zu können. Er hatte bereits „Empty Garden“ von Ursula Palla, „Fruta Infinita“ von Olga Titus, Elisabeth Strässles „Catalogue d’Oiseaux", Melanie Manchots „Snowdance“ und zuletzt Laurence Bonvins „Aletsch negative“ gezeigt.
Die Ausstellungen
Lika Nüssli im Kunstraum Kreuzlingen
Grossformatige Aquarelle unter dem Titel „La vie est un long fleuve“
Zur Finissage am Sonntag, 30. Mai, um 11 Uhr spricht Lika Nüssli mit der Kuratorin Nadia Veronese
Monica Ursina Jäger im Tiefparterre
3-Kanal-HD-Videoinstallation „Forest Tales and Emerald Fictions”
Am Sonntag, 16. Mai, 16 Uhr spricht die Künstlerin mit Kathleen Bühler, Kuratorin im Kunstmuseum Bern
Beide Ausstellungen sind geöffnet bis 30. Mai 2021 unter den üblichen Corona-Schutzmassnahmen (gestaffelter Eintritt, Maskenpflicht)
Von Inka Grabowsky
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