von Jeremias Heppeler, 22.09.2020
Frische Luft
Vom Wachsen der Wälder und Sterben der Gletscher: Martin Reukauf und Laurence Bonvin holen die Natur in den Kunstraum Kreuzlingen.
Manchmal reicht eine einzige pointierte Gegenfrage um ein ganzes Gedankenkonstrukt zu kippen. Da marschiere ich also in meiner Rolle als Kulturjournalist in den Kunstraum Kreuzlingen und treffe auf einen in Jeansjacke gekleideten Mann, der gerade mit seinem Handy fotografiert. Es ist Martin Reukauf. Ich erkenne ihn nicht sofort, auf der grandiosen Einladungsfotografie zu seiner Ausstellung „it´s always the same” sieht man ihn von hinten mit tief ins Genick gezogener Basecap mitten im Wald, wie er eine massive Leinwand mit Farbe bearbeitet.
Allein dieses Foto schäumt bereits ungekünstelte Energien auf. Auch das Gespräch sprudelt sogleich los und ich platziere meine zuvor zurecht gelegte Eingangsfrage: „Warum malt man heute noch Landschaften? Warum geht man in den Wald?" „Gegenfrage…", antwortet Reukauf: „Was will ich im Atelier? Da ist doch nichts. Aber im Wald, da ist alles da. Raum, Licht. Ein allumfassendes Erlebnis." So einfach, so auf den Punkt.
Reukaufs Gemälde sind mehr als reine Ästhetik
Es wäre ein Leichtes, Reukaufs Gemälde, diese Waldabbildungen, die nicht selten nur aus wenigen unkonkreten Pinselstrichen bestehen, ins Abstrakte zu verschieben. Sicher zu verordnen im rein optischen Erfahren der Farben. Im beinahe esoterischen Naturerlebnis. In der Dekoration, die Arztpraxen und Verkaufsgalerien füllt. Es wäre aber auch kolossal falsch.
Denn bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass Reukauf (sein Instagram-Profil gibt es hier) keinesfalls ein von Gefühlen und Ästhetik vereinnahmter Expressionist ist, im Gegenteil. Dafür sind die unlogischen Momente in seinem Schaffen viel zu präsent. Die kleinen Verwischer, die Farbfehler, die Striche und Furchen, die Äste im Gebüsch kaum sichtbar auf die Leinwand kratzten.
Der Künstler als Arbeiter und als Chronist
Ein reiner Ästhet würde diese Fehler umgehend auslöschen, für Martin Reukauf aber sind sie entscheidend, weil auch der Wald und die Welt unlogisch sind. Alle Versuche des Menschen den Wald in der Logik zu verankern, etwa durch die Geometrie von Monokulturen, sind im Übrigen gescheitert.
Wenn er mit mehreren Quadratmeter grossen Leinwänden in den Wald radelt, dann ist Reukauf ein Arbeiter, wenn er dann im Wald steht und zu malen beginnt, dann ist Reukauf ein Chronist. Einer, der fast fotografisch arbeitet, einer, der regelrechte Abzüge und Abklatsche des Waldes erstellt, der Wahrnehmung als ersten Arbeitsschritt versteht, einer der selbst Dinge sagt wie: „Manchmal passiert es, dass man es nicht kapiert, also das Bild. Dass man nicht drin ist."
Ein Maler wisse eben, wann er den Pinsel ablegen müsse
Der eigentlich entscheidende Moment im Reukaufs Malerei ist deshalb das aufhören. Das Pinsel ablegen. Er sagt, ein Maler wisse eben, wenn es soweit sei. Aber das muss man aushalten können, das ganze Weiss, dass dann zurück bleibt und das Reukauf nicht als Lücke versteht, sondern als entscheidenden Teil des Bildes. Als echte Präsenz, die uns als Beobachter anzieht, aufsaugt.
Ausschlaggebender Punkt dafür, dass diese Ausstellung im Kunstraum nachdrücklich in Erinnerung bleibt, ist die ungewöhnliche Hängung, die unaufdringlich, aber nachhaltig mit den Gemälden korrespondiert. Da schiebt es dich an einer extra eingezogenen Zwischenwand entlang durch einen schmalen Gang.
Gedrängt an den Rand des Sichtbaren
Reukaufs Arbeiten hier präsentieren sich mit gehöriger Leichtigkeit, in hellen Tönen, in aufgescheuchtem Grün, so dass man sich als Betrachter direkt an einen Waldrand versetzt fühlt, dort wo Haselnusshecken die Vorhut bilden, dort wo Gebüsch langsam zu Gebäum wird.
Am Rand des Sichtbaren aber schleicht sich die Dunkelheit in die Bild. Das Dickicht. Die Schwärze. Die Ruhe. Jetzt werden die Bilder grösser massiver, schwerer. Und wir dringen ein, werden eins. Mit dem Bildern. Mit dem Wald.
Sterben in Zeitlupe
Auch in der aktuellen Ausstellungskombination gelingt es Kurator Richard Tisserand mit fast erschreckender Leichtigkeit, die Eigenheiten und Stärken des Kunstraumes zielgerichtet auszuspielen. Sein entscheidendes Mittel: Die Kombination. Oben. Unten. White Cube & Tiefparterre. Und während im Licht der Wald spriesst, stirbt im Keller der Gletscher.
Dort nämlich präsentiert die Künstlerin, Fotografin und Regisseurin Laurence Bonvin auf vier Leinwänden ihre zigfach ausgezeichnete Arbeit "Aletsch Negative". Im nächsten Jahr wird der Film auch auf der Berlinale gezeigt. Aufnahmen aus dem Inneren des Aletsch-Gletschers. Was zunächst recht eindeutig, ja fast harmlos dokumentarisch klingt, stellt sich nach wenigen Sekunden des Erlebens als herausragende, ja schiergar erdrückende Installation heraus. Einen zweiminütigen Einblick in den Film gibt es hier.
Bilder aus dem vereisten Herzen des Gletschers
Bonvin war zehn Tage lang ins innere Gletschers geklettert, tief rein ins vereiste Herz der Dunkelheit. Die Bild- und Tonaufnahmen, die sie ans Tageslicht beförderte, muten auf den ersten Blick als filmische Wiedergabe des Gesehenen an, bei genauerem Hinsehen erkennen wir aber, dass Bonvin mit der Technik der Stop Motion arbeitet und hunderte Fotos aneinanderreiht. So entsteht ein verflüssigtes Bild, das aber eben doch ein wenig hakt und zuckt und rauscht und springt.
Darüber hinaus arbeitet Bonvin, die seit 2001 eine Professur für Fotografie an der École cantonale d’art de Lausanne innehat, mit zwei weiteren Verfremdungeffekten: Einerseits dreht sie alle Fotografien inklusive Licht und Farbe ins Negative, andererseits reift der Zoom zum entscheidenden ästhetischen Mittel.
Ein körperlich erschütterndes Erlebnis
Und eben dieses Triumvirat der Effekte, allesamt Fotografie-urtypisch, sorgen dafür, dass die audiovisuelle Reproduktion des sterbenden Gletschers zum einzigartigen, ja körperlich erschütternden Erlebnis reift. Vor allem die Konzentration auf die Vergrösserung verwirrt und verwischt hierbei die Wahrnehmung komplett, bis wir nicht mehr zwischen Bergmassiv und Partikel, zwischen Rinnsal und Ozean, zwischen irdischer und kosmischer Erfahrung, zwischen Realität und Science Fiction-Fantasie unterscheiden können.
Dazu tönt die Sinfonie des Gletschers irgendwie zwischen kristallinem Tropfen, (White) Noise und dem schabenden Rattern der sich auflösenden Eises, ein Soundtrack, der dir in alle Haarspitzen und Fingernägel fährt.
Reibung des stetigen Verielfachens
Besonders bemerkenswert erscheinen jedoch die (gleichermassen semantischen und poetologischen) Parallelen zwischen präsentierten Subjekt und repräsentierenden Medium. Dann nämlich, wenn der eingefrorene Frame, das Bild an sich, sich durch die Reibung des stetigen Vervielfachens in Bewegung setzt, wenn es sich verflüssigt und seinem Aggregatzustand in Richtung Film verschiebt, dann geht Laurence Bonvins Konzept mit vollendeter Eleganz auf.
"Ich hatte die Arbeit beinahe komplett mit unbearbeiteten Bilder fertig geschnitten, als ich bemerkte, dass wir diese Bilder schon kennen. Ich wollte den Gletscher von einer ganz anderen Seite zeigen.", erklärt Bonvin im Gespräch. Und so transformiert sich unser verklärtes Bild des Gletschers zusehends.
Letztlich ist das Werk ein Mahnmal
Was einst gigantisch, gefährlich und unsterblich wirkte, erscheint jetzt kleinstteilig. Brüchig. Und zutiefst verletzlich. Menschlich. "Wir werden Zeuge, wie uns 30 000 Jahre, wie uns die Menschheitsgeschichte in Europa, das Gedächtnis der Alpen, einfach so wegschmilzt.", sagt dann auch Tisserand. Und hier wird klar: "Aletsch Negative" ist ein Mahnmal, ein Schwanengesang. Eine Eisskulptur aus verlorener Zeit.
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