von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 03.06.2021
Sehnsucht nach Schwerelosigkeit
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Von Erfindergeist und Träumereien: In seiner aktuellen Ausstellung schwebt das Kunstmuseum Thurgau „Über den Wolken“ und gibt Anleitungen zum Abheben. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Der Traum vom Fliegen ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. Seit jeher versuchen wir, den Himmel zu erobern, wir blicken sehnsüchtig auf die Wolken und lieben Aussichtspunkte von denen man mit zwei, drei eleganten Flügelschlägeln abheben könnte, um in die Tiefe zu stürzen.
Wir erfinden Maschinen, die uns in die Luft tragen, imitieren das Gefühl der Schwerelosigkeit in abenteuerlichen Achterbahnen und Karussels, aber selber fliegen, das bleibt uns versagt. Das geht nur im Traum. Dafür kommt es dort umso häufiger als wiederkehrendes Motiv vor: Wer ist nicht schon einmal im Traum losgeflogen und adlergleich über die Landschaft geschwebt?
Dem starren Griff der Pandemie entfliehen
Fliegen verbinden wir mit Erhabenheit, mit Flucht aus den wortwörtlichen Niederungen des Alltags, mit einer Schwerelosigkeit, die alles so leicht erscheinen lässt. Kein Wunder, dass diese Sehnsucht in den vergangenen Monaten bei vielen Menschen besonders stark wurde.
Die Pandemie hielt uns im starren Griff, in engeren Grenzen als wir es bislang gewohnt waren. Es fühlte sich manchmal an, als würde man - beschwert von Sorgen - am Boden festgenagelt. Die Sehnsucht nach Leichtigkeit, nach dem Entschweben aus der Virus-Tristesse machte das Fliegen gerade in dieser quälend langen Pandemie zu einem vielbeschworenen Fluchtmotiv.
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Glück gehabt: Der Zeitgeist macht das Thema noch dringlicher
Da passt es ganz gut, dass das Kunstmuseum Thurgau sich in seiner aktuellen Ausstellung genau diesem Thema widmet. „Über den Wolken - Anleitungen zum Abheben“ heisst sie und sie versammelt Sehnsüchte, Hoffnungen, aber auch Ängste, die sich mit dem Fliegen verbinden. Das Museum hatte das Thema schon vor der Pandemie gesetzt, aber jetzt passt es natürlich ganz besonders in unsere Zeit. Ein Glücksfall für das Kunstmuseum: Manchmal muss man dem Zeitgeist gar nicht hinterher jagen, er kommt einfach zu einem.
„Wir wollten den unterschiedlichen Aspekten nachgehen, die sich rund um das Thema Himmel bündeln lassen. Der Himmel als Flugort, aber auch als Ort der Spiritualität. Wir wollen auch die Frage stellen, ob die Idee vom Himmel in der zeitgenössischen Kunst noch eine Rolle spielt und wie KünstlerInnen sich heute damit beschäftigen“, sagt Stefanie Hoch, Kuratorin der Ausstellung.
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Besessen vom Erfindergeist: Gustav Mesmer
Auf zwei Ebenen versammelt das Kunstmuseum 25 verschiedene künstlerische Positionen zum Thema. Und eine der eindrücklichsten ist die von Gustav Mesmer (1903-1994). Dabei hätte der sich selbst mutmasslich gar nicht als Künstler beschrieben, sondern eher als Erfinder. Das Fliegen ist sein Traum und so konstruiert er Maschine um Maschine, vor allem Flugfahrräder mit denen er emporschweben will.
„Für seine fantastischen Konstruktionen verwendete Gustav Mesmer einfachste Materialien aus der unmittelbaren Umgebung. Modulartig konnten die rund 100 von ihm angefertigten Flügel mit verschiedenen Fahrrädern und anderen Konstruktionen wie Schwingen verbunden werden“, erklärt Kuratorin Stefanie Hoch. Nebenbei tüftelte Mesmer an Schuhen, Helmen, aber auch Musikinstrumenten und einem Tonapparat, der Sprechlaute nachahmen sollte. Eine Stiftung kümmert sich heute um den Nachlass des Künstlers.
Wenn der Sehnsucht ganz reale Flügel wachsen
Im Kellergewölbe des Kunstmuseums steht nun eines dieser abenteuerlichen Flugfahrräder und man möchte am liebsten sofort drauf steigen und es selbst ausprobieren.
In all seinen mechanischen Details ist es ein Exponat, wie es auch in einem Technikmuseum stehen könnte. Gleichzeitig verbindet sich hier viel mehr damit. Das Gerät ist auch Ausdruck der menschlichen Kreativität und zeigt, wozu der Mensch fähig ist, wenn er an eine Idee glaubt. Der Sehnsucht wachsen dann ganz real Flügel, seien sie auch aus den einfachsten Mitteln gebaut.
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Liest man dazu die Lebensgeschichte von Gustav Mesmer, bekommen seine Arbeiten eine noch grössere Dramatik. Geboren als eines von 12 Kindern im oberschwäbischen Altshausen, verpasst er in seiner Kindheit wegen einer komplizierten Halsoperation wesentliche Teile seiner Schulzeit. Während des Ersten Weltkriegs musste er als Verdingbub arbeiten, später lebte er in der Benediktinerabtei Beuron, ohne dem Orden beizutreten. Auch deshalb, weil er die Kirche kritisch sah. Es kommt schliesslich zum Eklat: Als Mesmer während eines Gottesdienstes lautstark den Pfarrer kritisiert, wird er als Störenfried aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und mit 26 Jahren in die Psychiatrie eingewiesen.
Die bittere Lebensgeschichte des Gustav Mesmer
Immer wieder bittet er um Entlassung in den folgenden Jahren - ohne Erfolg. Auch Fluchtversuche scheitern. In der Nazizeit entgeht er nur knapp dem Vernichtungslager, weil er als tüchtiger Arbeiter gilt. Erst 1964, 35 Jahre nach seiner Einweisung ins Heim, wird er entlassen. Mesmer gründete eine Korbwerkstatt und widmete sich seinen Flugversuchen.
Bekannt wurde er ab den 1980er Jahren: Freunde begannen seine Zeichnungen und Konstruktionen auszustellen. So wurde 1992 eines seiner Flugräder bei der Weltausstellung in Sevilla im Deutschen Pavillon gezeigt.
Gustav Mesmers Arbeiten sind aber nur ein thematisches Zentrum der an Zentren nicht armen und sehr dichten Ausstellung im Kunstmuseum. Den Flow im künstlerischen Prozess, wenn man so will das gedankliche Fliegen bei der Vertiefung in die Arbeit, erahnt man in den grossformatigen und fantastischen Zeichnungen von Othmar Eder. Der im Thurgau lebende Künstler nimmt uns mit über die Wolken und zu einer verlassenen portugiesischen Pilgerstätte, die wir von oben betrachten. Grundlage seiner Arbeit sind alte Dias und Schwarz-Weiss-Fotografien. Das Ergebnis sind so detailverliebte Werke, das einem fast schwindlig wird.
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Träumerisches von Rahel Müller, Emanzipatorisches von Marc Latzel
Rahel Müller, die man eigentlich eher als Malerin kennt, beschwört mit ihrer Foto-Serie „In the silence between sounds i listen“ die Verbindung zwischen Meer und Himmel am Horizont. Das Auge des Betrachters sucht Halt und findet ihn doch nicht in den betörenden und an verschwimmende Traumbilder erinnernden Fotografien.
Politisch und emanzipatorisch wird es bei Marc Latzel: Der St. Galler Fotograf hat Gleitschirmfliegerinnen am Rande der iranischen Metropole Teheran porträtiert. Im Zentrum dabei - die Flugschule von Azar Fahrani, der ersten offiziellen Fluginstruktorin des Iran. Sie wollte auch anderen Frauen das Fliegen ermöglichen.
Die Angst der Mullahs vor den Gleitschirmfliegerinnen
Die Gründung ihrer Schule geriet dabei zu einem Akt der Rebellion: Sechs Jahre lang musste Fahrani religiösen Ausschüssen Videoaufnahmen vorlegen, um zu beweisen, dass der Wind den Tshador der fliegenden Frauen nicht davonweht. Irans Sittenwächter blieben skeptisch, erst dank Helm und speziell genähter Flugkombinationen, gaben sie schliesslich grünes Licht und Azar Fahrani durfte ihre Flugschule eröffnen.
Marc Latzels Serie in der Ausstellung zeigt verschiedene Motive zwischen Sport- und Porträtfotografie. „Im Porträt, das nach der Landung entstand, spiegeln sich die beglückenden Momente des Freiheitsgefühls“, schreibt Kuratorin Stefanie Hoch im Begleitheft zur Ausstellung.
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Die Angst auf dem 10-Meter-Sprungturm
Der unterhaltsamste Beitrag in „Über den Wolken“ stammt von Axel Danielson und Maximilien Van Aertryck. Das schwedisch-französische Künstler-Duo hat 43 Erwachsene dabei gefilmt, wie sie das erste Mal von einem 10-Meter-Turm springen. In ihrem Video sind ganz wunderbare Momente von Verletzlichkeit, Unsicherheit, aber auch Mut entstanden. Unbedingt ansehen!
Emotionaler Kontrapunkt dazu ist die Installation „Mobile“ von Christoph Draeger. Der in Berlin lebende Künstler hat Wrackteile eines abgestürzten Flugzeug zu einem berührenden Mobile zusammengefügt. Fliegen ist eben nicht immer nur Traum, sondern kann schnell auch zum Alptraum werden.
Traum und Alptraum liegen manchmal nah beieinander
Christoph Draeger hat die Wrackteile, die lange Jahre verstreut rund um die Absturzstelle auf Korsika lagen, selbst eingesammelt. Auf dem Weg von Ljubljana nach Ajaccio war das Flugzeug 1981 abgestürzt. Der Pilot hatte im Nebel die Orientierung verloren. Bei der Kollision mit dem Monte San-Petru kamen alle Insassen ums Leben.
Fliegen, auch das lehrt die sehenswerte Ausstellung, ist eben immer auch die Illusion des allzeit Machbaren. Das wusste auch Gustav Mesmer. Auf die Frage, ob er denn wirklich einmal geflogen sei mit seinen Flugfahrrädern, antwortete er: Ja, einmal habe es ihn fast 50 Meter ins Tal hinuntergetragen, aber leider sei niemand dabei gewesen.
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Termin: Die Ausstellung ist bis zum 19. September 2021 im Kunstmuseum Thurgau zu sehen. Die Öffnungszeiten des Museums: täglich 11 bis 18 Uhr. Eintritt: 10 Franken, Kinder bis 16 Jahre gratis.
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