von Maria Schorpp, 30.10.2017
Per Postbus durch Zeit und Raum
Wer den „Verschwindibus“ besteigt, kann was erleben. Die mobile Theaterproduktion von Andreas Müller und Florian Rexer führt in die Vergangenheit, als Martha und Carlo sich liebten und Mussolini sich in Frauenfeld als Saisonnier verdingte. Das alles auf einer kleinen Rundreise durch Frauenfeld.
Von Maria Schorpp
Die Stadtrundfahrt beginnt, wie man es eher nicht so gern hat. Kaum angefahren, rumpelt’s kräftig. Jetzt ist auch klar, weshalb Stadtführer „Herr Müller“ vorher darauf bestanden hat, dass sich die Fahrgäste anschnallen. „Herr Müller“ ist im richtigen Leben nämlich der Kulturbeauftragte in Amriswil und Leiter des Theaterprojekts „Verschwindibus“. Als solcher kennt er natürlich die Überraschungen, die das Publikum im Postbus durch Frauenfeld erwarten.
Dabei hat alles so lustig begonnen (und wird auch weiterhin lustig sein). Da patrouilliert ein stattliches Mannsbild im langen schwarzen Kutschermantel und Zylinder auf dem Kopf am Frauenfelder Bahnhof vor einem Beförderungsmittel, das zweifellos aus dem 21. Jahrhundert stammt, redet wie anno dazumal daher und fragt seinen „Aushilfskutscher“ (Busfahrer Peter Büchi), ob er die Rösser gefüttert habe. Dabei mustert er die kichernden Zuschauer streng, wenn ihm auch zwischendrin ein kleines Grinsen über die Lippen huschen will. Florian Rexer ist das, der Regisseur dieses so ungewöhnlichen wie aufregenden rollenden Kleintheaters.
Und er spielt mit. Er ist Luigi, der Koch im Hause Rechsteiner in Frauenfeld, als 1892 dort die uneheliche Martha Buschor geboren wird, die vor 100 Jahren als 25-Jährige spurlos verschwand. Als die Mutter nach der Geburt stirbt, wird Klein-Martha von einer Bediensteten des Hauses aufgezogen. Rahel Roy steht in der Dienstmädchenkluft des 19. Jahrhunderts im Bus und erzählt das alles. Das Rumpeln hat sie in die Jetztzeit geschleudert. Denn auch das hat „Herr Müller“ gleich angekündigt: Wir befinden uns hier nicht nur auf einer Stadtrundfahrt durch Frauenfeld, sondern gleichzeitig auf einer Zeitreise.
Mit diesem Gefährt geht es in die Vergangenheit. Bild: Veranstalter
Und die ist dramatisch genug. Wie er selbst später vor der Frauenfelder katholischen Kirche sagt: Die Geschichten der Menschen sind allemal spannender als die der Sehenswürdigkeiten, weshalb er die Besichtigung der Stadtkirche abbricht und alle hinter Luigi und dem Pfarrer herlaufen. Die Geschichte der Martha Buschor saugt nach und nach alle Aufmerksamkeit auf. Hat man zu Anfang noch das Ohr beim Stadtführer, wie er die Historie der Thurgauer Kantonshauptstadt erzählt, so rücken die Gassen und hübschen Ecken angesichts der Neugierde auf Marthas Schicksal nach und nach in den Hintergrund.
Die Geschichte ist frei erfunden, geht aber nahe
Das Theater-Projekt hat sich ein kleines Melodram ausgedacht. Marthas Geschichte ist frei erfunden, jedoch so geschickt in die Zeit bis 1917 eingebunden, dass Andreas Müller, zurück am Bahnhof, nach dem Schlussapplaus unter freiem Himmel Aufklärungsarbeit leisten muss. Die unmittelbare Nähe des rund 40-köpfigen Publikums im Bus zu den Schauspielern entwickelt einen schier unwiderstehlichen Sog, der die Ankündigung einer Zeitreise nicht übertrieben erscheinen lässt. Beim ersten Stopp in der Schlossmühlestrasse toben draussen zwei Kinder aus einer anderen Zeit um den Bus herum. Es sind Martha und Luigis Sohn Carlo. Sofia Müller und Pacifico Rodriguez spielen das grossartig, sowohl mit Kindercharme als auch gekonnt. Dann sind sie weg. Nun foppen sich zwei junge Erwachsene. Ein Zeitsprung ins 20. Jahrhundert.
Und wieder geht es weiter, dieses Mal sorgt Florian Rexer für die Unterhaltung während der Fahrt. Sein Luigi ist italienischer Einwanderer und ein Spassvogel. Allerdings einer, der von einer dunklen Angelegenheit ablenken will, die er dringend klären müsste. Der Dialog mit seinem schlechten Gewissen (Rahel Roy) sorgt allem Ernst zum Trotz für beherzte Lacher. Wie er Martha und Carlo in der Baumallee beim Knutschen ertappt, nun gespielt von Ramona Fattini und Mischa Löwenberg, wird es höchste Zeit für die Wahrheit. Martha und Carlo sind Geschwister.
Luigi (links im Bild,Florian Rexer) erzählt seine ganz eigenen Geschichten im Bus. Bild: Veranstalter
Die Realität auf Frauenfelds Strassen, die Fiktion in und um den Bus herum – so einfach ist es nicht im mobilen Theaterstück. Was ist mit der Geschichte mit Mussolini, die Luigi erzählt? Auf dem Bau habe er mit ihm gearbeitet und „Mensch ärgere mich“ gespielt. Von letzterem abgesehen: Tatsächlich war Benito Mussolini von 1904 bis 1906 Saisonnier in Frauenfeld. „Herr Müller“ sieht sich angesichts der seiner Meinung nach viel zu positiven Erinnerungen gezwungen, aus dem 21. Jahrhundert heraus darauf hinzuweisen, dass es sich schliesslich um den späteren Duce handelt. Da prallen dann auch noch die Jahrhunderte aufeinander.
Die Tournee geht weiter - am 4. November in Weinfelden
„Verschwindibus“ spielt mit Erwartungen, mit den Zeitebenen und mit dem Bedürfnis nach schönen Geschichten, die sich am besten tragisch entwickeln, um dann doch irgendwie gut zu enden. Wie das hier ausgeht sei nicht verraten, denn die originelle Theater-Tour geht weiter. Nur so viel: „Verschwindibus“ heisst das Ganze nicht nur, weil der Bus samt Insassen wie eine Zeitmaschine in der Vergangenheit zu verschwinden scheint. In Amriswil begonnen hat die Tour nun die Route über Frauenfeld genommen, um am 4. November in Weinfelden Station zu machen. Weitere Stadt-Rundfahrten sind in Planung, auch schweizweit. Selbstverständlich jeweils mit angepassten Stadtporträts.
Eine wirklich klasse Idee diese Reise in Zeit und Raum mit wunderbaren Mitwirkenden und grossem Spasseffekt.
Von Maria Schorpp
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